Erstmals seit dem Winter 1998/99 wird nach Meinung der Arbeitsmarkt-Experten die Winterarbeitslosigkeit wieder über die 4,3 Millionen-Marke steigen. Kann die "ruhige Hand" des Kanzlers das noch bewältigen? Im Rahmen der immer wieder auflebenden Debatte um die verfehlte Wirtschaftspolitik der Bundesregierung kommt den fünf neuen Ländern eine Sonderrolle zu. Einmal, weil die Probleme hier bekanntlich noch viel gravierender sind als im deutschen Westen. Zum andern aber, weil keine deutsche Partei zu behaupten wagt, auch in Ostdeutschland ließen sich die Probleme am besten dadurch lösen, dass man nur auf Deregulierung und die Selbstheilungskraft des Marktes setzte. Eine Prüfung der aktualisierten "Aufbau Ost"-Programme der Parteien, die im letzten Vierteljahr Parteitage abgehalten haben, kann Einblicke in die volkswirtschaftliche Gestaltungsphantasie unserer politischen Klasse verschaffen.
Als erstes fällt auf, dass weder PDS noch SPD, weder Grüne noch CDU die Lage so dramatisch zeichnen, wie der Sozialdemokrat Wolfgang Thierse das in seinem Buch Zukunft Ost getan hat (vgl. Freitag 50/2001). Vernommen wurde sein Wort von der "Kippe", auf der Ostdeutschland stehe, sicher überall, auch wenn nur die Grünen es zitieren. Aber überall besteht die Neigung, die schlechte Nachricht mit der guten, dass im Osten doch auch die Sonne aufgehe, zusammenzustellen - "Beides stimmt", schreiben die Grünen - und der guten Nachricht sogar Priorität einzuräumen. Das gilt auch für die PDS. Dass es in Ostdeutschland "wieder eigene Leistungszentren" gibt, hebt sie hervor, noch ehe sie ankündigt, "die Forderung nach der Angleichung der Einkommen Ost an West" zu einem Schwerpunktthema ihres Bundestagswahlkampfs, jedenfalls in den neuen Ländern, machen zu wollen. Der PDS bleibt es freilich auch vorbehalten, mit Thierse auf den harten Punkt zu verweisen, den die andern Parteien nicht so gern ausposaunen: "Der Aufholprozess Ostdeutschlands ist bereits 1996 gebrochen", und dieser negative Trend konnte von der Regierung Schröder bisher nicht umgekehrt werden.
Aufbau Ost war kein Schwerpunktthema des Parteitags der PDS, der Anfang Oktober in Dresden stattfand. Die Sozialisten haben sich dazu nur kurz geäußert, zumal sie den Eindruck vermeiden wollen, sie seien nur eine "Ostpartei". Der Beschluss zur Fortführung der Programmdiskussion beschränkt sich daher auf die Äußerung eines Grundgedankens, den man wiederum auch bei Thierse, aber ebenso in den Parteitagsbeschlüssen der anderen Parteien findet: Ostdeutschland soll im Zuge der EU-Erweiterung "von Deutschlands Rand zu Europas Mitte" werden. Die PDS kann schon deshalb keine Ostpartei sein, weil Ostdeutschland selber nicht Osten, sondern Mitte ist! Ihr schwebt aber keine passive Mitte vor - kein "bloßes Transitgebiet" -, sondern ein "Vermittler zwischen West und Ost".
"Transit" ist ein wichtiges Stichwort zum Vergleich der Parteiperspektiven. Man sieht da sofort, wie abstrakt auf die Marktmaschine bezogen sich für die CDU ökonomische Probleme darstellen: Es geht darum, die Ansiedlung von Unternehmen zu provozieren, dafür wird in Europas Mitte eine leistungsfähige Infrastruktur gebraucht und darunter sind Verkehrsprojekte und das Umgehungsstraßenprogramm zu verstehen, lesen wir da. Die Aufgabe besteht schlicht darin, "ostdeutsche Wirtschaftsräume effektiv mit Ballungszentren in Deutschland und Europa zu verbinden". Woran sich schon gleich die Folgefrage nach "Möglichkeiten für öffentliche und private Vorfinanzierung" schließt.
Da machen sich die Grünen denn doch konkretere Gedanken, indem sie zum einen den Begriff der Infrastruktur nicht auf Verkehrswege verengen und zum andern den möglichen ökologischen Schaden des Ost-West-Durchgangsverkehrs in Rechnung stellen. Er wird schließlich schon seit Anfang der 90er Jahren von Fachleuten diskutiert. Die Grünen wollen vor allem die "soziale Infrastruktur" stärken, denn "Städte wie Leipzig zeigen, dass weiche Standortfaktoren" wie Kinderbetreuung, Schulen, Kultur und Sport "ein Pfund im Wettbewerb" sind. Im Sonderbereich der "Verkehrsinfrastruktur" aber geht es darum, "das ökologisch Richtige mit dem ökonomisch Sinnvollen" zu verbinden. Der "Verkehrspolitik Ost" ist ein eigenes Kapitel im Beschluss: Grundzüge bündnisgrüner Politik in Ostdeutschland gewidmet. Hier wird die "Politik der überdimensionierten und unwirtschaftlichen Verkehrsschneisen" gerügt, denn man selber will zwei ganz anderen Maximen folgen: "Substanzerhalt und Modernisierung des Bestandsnetzes vor Neubau" und "Systeminnovation vor Ausbau".
Der Programmbeschluss der SPD liegt zwischen diesen Extremen. Die Genossen setzen einerseits wie die CDU Infrastruktur mit Verkehrsinfrastruktur gleich, ja bei ihnen wird sogar besonders deutlich, dass man vor allem "wegen des deutlichen Anstiegs des Transitverkehrs aufgrund der Osterweiterung der EU" tätig werden muss - und dann sicher auch noch deshalb, weil der Osten Hilfe braucht! Andererseits ist aber von einem "Kommunal-Infrastruktur-Programm" die Rede. Unter dieser Rubrik werden ostdeutsche Kommunen aufgefordert, sich an einem Initiativwettbewerb um innovative Stadtumbaukonzepte zu beteiligen. Hier geht es zwar nicht um "weiche Standortfaktoren", aber doch wenigstens um mehr als Autobahnen, ja eigentlich, sollte man meinen, um etwas ganz anderes - denn es wird von "attraktiven Wohnumfeldern für die Bevölkerung" gesprochen, zu denen Autolärm und Abgasgestank sicher nicht gehören. Konkretisiert werden die "Umfelder" nicht, das käme wohl auch einer Quadratur des Kreises gleich, wenn man nicht wie die Grünen über ökologische Mobilitätsformen nachdenken will.
In der nächsten Woche folgt der zweite Teil des Vergleichs der "Aufbau Ost"-Programme.
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