Von Klippe zu Klippe

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Es ist interessant, die in der Programmankündigung des musikfests gelegten Fäden zu verknüpfen. Der gestrige Konzertabend mit dem Rundfunkchor und Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin unter der bewährten Leitung von Marek Janowski führte zwei Fäden zusammen. Vor der Pause wurden Chorwerke von Brahms gegeben, nach der Pause war das selten gespielte Konzert für Klavier und Orchester mit Männerchor von Ferruccio Busoni zu hören. "Schlag und Laut", die Orchestermaschine und der Mensch mit seiner Stimme: Wie sie ins Verhältnis gesetzt werden, war als übergreifendes Thema angekündigt. Komponisten werden sich nicht jederzeit vordringlich diese Frage stellen, doch Busoni hat es offenbar getan. Zwar ahmt sein Klavierkonzert erst einmal nur die Anlage der Neunten Symphonie von Beethoven nach: nicht in jeder Hinsicht, aber gerade darin, dass im letzten Satz die musikalische Entwicklung, vorher üblicher Instrumentenklang, sich durch Einbezug der menschlichen Stimme zur abschließenden Feier aufschwingt.

Das hatte aber bei Beethoven einen anderen Sinn als bei Busoni. Bei Beethoven arbeitet sich der Mensch aus dem Chaos zur Klarheit, und dass dafür der Instrumentenklang transzendiert wird, ist nur Metapher; bei Busoni werden die Instrumente selber thematisch. So lese ich jedenfalls den Text, den im letzten Satz der Chor singt: "Die Felsensäulen fangen an, tief und leise zu ertönen", "Vollends belebet ist jetzo die tote Welt". Hier freut sich ein Künstler über Möglichkeiten, die seine Kunst bietet, und damit überhaupt über die Existenz von Kunst.

Man kann das freilich auch so ausdrücken, dass Beethoven, abgesehen vom Ästhetischen überhaupt, Spezifischeres zu vermitteln hatte; deshalb ist die Frage "nur Orchester oder auch Chor" bei ihm nur metaphorische Hülle; was er spezifisch sagt, ist ein "Die Enkel fechten's besser aus" nach der Revolutionsniederlage. Bei Busoni hingegen stellt sich die Frage, ob er in seiner Wirkungszeit, dem Beginn des 20. Jahrhunderts, überhaupt noch etwas zu sagen findet. Etwas nicht bloß Formales, sondern Inhaltliches. Die Kunst als solche zu feiern, ist kein Inhalt.

Sicher kann man das Klavierkonzert so hören, dass hier ein Mensch aus dem mediterranen Süden, der im preußischen Berlin lebt, die Helle seiner Heimat feiert. Dieser Zug bei Busoni wird oft hervorgehoben. Es ist wahr: Die Musik ist von der Art, dass man sie sich unter freiem südlichem Himmel gespielt vorstellen kann; sie würde dort nicht stören, was eine Symphonie von Beethoven oder Brahms durchaus täte. Und dabei gelingt es Busoni, Beethoven und Brahms, Liszt und Mahler in seine musikalische Textur noch einzuweben. Aber es ist auch wahr, dass ein Eindruck wie etwa beim Violinkonzert von Max Reger hervorgerufen wird: wunderschön, aber keine hervorstechenden musikalischen Gedanken; keine Gedanken mehr. Busoni ist denn auch eher wegen seiner theoretischen Phantasie im Gedächtnis geblieben. (Ich meine im deutschen Gedächtnis. In Italien wird er häufiger in den Konzertsälen vertreten sein als bei uns Reger.) Ohne es selbst schon realisieren zu wollen, überlegte er nämlich, ob nicht vom Komponieren mit Halbtönen zum Komponieren mit Dritteltönen übergegangen werden sollte, und forderte bereits, es müsse elektronische Musik geben.

Vielleicht kann man urteilen, dass es das ist, was sein Klavierkonzert zu sagen hat: Das Orchester, das sich hier selbst feiert, wird der Entwicklung der Industrietechnik gewachsen sein. Denn das Konzert bewegt sich an vielen Stellen in einem Gegenüber von monotonen Schlagrhythmen, die das Klavier vorträgt, und fließenden Orchesterklängen. Damit ist vielleicht auf die Maschine angespielt. Das Orchester wurde übrigens schon im Barockzeitalter als Maschine aufgefasst. Das Wort hatte damals noch nicht die Bedeutung, etwas anderes als der Mensch zu sein, sondern wurde auch benutzt, um die Assoziation der Menschen zu bezeichnen. Bei Busoni dann wird die Industrie-Maschine herbeizitiert. Das Orchester nimmt sie sich aber nicht zum Vorbild, fasst sich nicht selbst als eine Art Industriemaschine auf, sondern integriert sie in den eigenen Klanghorizont.

Bei Brahms gibt es keine Überlegungen solcher Art. Die beiden Chorwerke aus der Zeit der Bismarckschen Reichseinigung, die gegeben wurden, wollen und können noch etwas aussagen. Freilich nichts Hoffnungsvolles mehr. Die Alt-Rhapsodie op. 53 beklagt mit Goethes Gedicht "Harzreise im Winter" den Verzweifelten, der zum Menschenfeind wurde; das Schicksalslied op. 54 vertont das im Roman Hyperion von Friedrich Hölderlin enthaltene Gedicht. "Ihr wandelt droben im Licht / Auf weichem Boden, selige Genien!" beginnt es, und dann: "Doch uns ist gegeben, / Auf keiner Stätte zu ruhn", und zuletzt: "Wie Wasser von Klippe / Zu Klippe geworfen, / Jahr lang ins Ungewisse hinab." Die Musik gebärdet sich entsprechend erregt, doch ist sie da, wo sie den "weichen Boden" beschreibt - am Anfang mit Chor, am Ende, nach dem Erregungsausbruch, die Anfangsmusik ohne Chor wiederholend -, vielleicht noch verzweifelter. Denn so sanft sie auch tröstet, scheint es doch, das Tröstende sei die Ruhe des Todes. Die dissonanten Spannungen, die in ihr aufbrechen, sind unüberhörbar. Jedenfalls wenn Janowski dirigiert. Ähnlich genug ist diese Trostmusik derjenigen vom Anfang des Deutschen Requiems, das Brahms kurz vorher vertont hat, zu den Worten "Selig sind, die da Leid tragen, denn sie werden getröstet werden."

Das ist der zweite Faden. Denn wie Hölderlin vom Menschen spricht, so Aischylos vom "gefesselten Prometheus". Der ist zwar ein Gott, aber derjenige, der die Menschen auf ihren Weg gebracht hat, und deshalb vom Gott Zeus zum menschlichen Schicksal verdammt: "Seht, was ein Gott von Göttern leiden muss! / Seht die Misshandlung, / Die für ewige Zeit / Ich grausam erleide, / Schmähliche Ketten, / Die der Seligen neuer Fürst mir erfand!" Texte von Aischylos aus dem Gefesselten Prometheus liegen dem Prometeo von Luigi Nono zugrunde, das am Freitag und Samstag kommender Woche gegeben wird. Ich habe davon im vorigen Eintrag schon zu sprechen begonnen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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