Wer mit kühlem Kopf an einer demokratischen Wahl teilnimmt, muss manchmal, so scheint es, „das kleinere Übel“ wählen. Rationales Handeln ist gefragt, nicht blinde Leidenschaft. Lieber mal die Zähne zusammenbeißen, ja die Nase zuhalten – „Hold your nose and vote for Carter“, hieß es 1980 in den USA –, als Wegbereiter des Schlimmeren zu sein. Bei der bevorstehenden Bundestagswahl stellt sich die Frage so, dass es, um die Gefahr einer möglichen schwarz-gelben Regierung abzuwenden, nicht klug zu sein scheint, die Linkspartei zu wählen, weil weder die Union noch die SPD mit ihr koalieren werden, Stimmen für sie also, wenn man es so sieht, verloren sind. Immer noch vernünftiger wäre es nach diesem Kalkül, die SPD stärker zu machen – auch wenn man sie gar nicht mag –, denn das könnte die Union zwingen, mit ihr statt mit der FDP die vierte Regierung Merkel zu bilden.
Sind das rationale Überlegungen? Man spricht auch vom taktischen Wählen, es ist aber leicht zu sehen, dass die Wahl des kleineren Übels diesen Namen überhaupt nicht verdient. Denn was ist Taktik? Taktik ist die Kehrseite von Strategie. Ohne Strategie keine Taktik. Im Kriegswesen, woher die Begriffe ursprünglich stammen, war Strategie die Folge von Schritten, mit denen ein Krieg gewonnen werden kann, Taktik war die einzelne Schlacht. Eine solche Schlacht so anzulegen, dass sie die Folgeschlacht schlecht vorbereitet, wäre absurd gewesen. Eben diese Absurdität liegt aber im Kalkül des kleineren Übels, weil sein Haupteffekt darin besteht, dass man bei der nächsten Wahl vor derselben Malaise stehen und erneut gezwungen sein wird, das kleinere Übel zu wählen.
Kapitalkartell Union/SPD
Nehmen wir die SPD – diese Partei, die Hartz IV durchgesetzt hat und nicht im Traum daran denkt, es zurücknehmen zu wollen. Wenn viele sie wählen, damit der Sozialstaat nicht noch stärker abgebaut wird, führt das dazu, dass sie bei der Folgewahl immer noch stark genug ist, sagen zu können: Hartz IV bleibt, aber es könnte noch schlimmer kommen!
Man muss auch sehen, wie geschickt diese Partei mit dem Kalkül des kleineren Übels spielt. 2009 hieß es: Wählt nicht die Linken, denn mit denen koalieren wir nicht. Ebenso vor der Bundestagswahl 2013, danach aber: Bei der nächsten Wahl halten wir uns die Option offen, mit der Linken zu koalieren.
Jetzt, wo diese Wahl vor der Tür steht: Wir würden ja gerne, aber die Wähler wollen das nicht. Dieses Spiel kann noch unendlich fortgesetzt werden. Immer läuft es darauf hinaus, Stimmen für die Linken als verloren hinzustellen. Dabei sind sie es nicht per se, sondern weil die SPD sie dazu macht. Mit dem letzten Schachzug, der Berufung auf den Wählerwillen, stellt sie sich nun so dar, als wähle sie ihrerseits das kleinere Übel, das darin bestehen soll, die Koalition mit der Union fortzusetzen, statt eine rot-rot-grüne Koalition anzustreben, die ihr angeblich lieber wäre.
Das alles ist Verweigerung von Strategie und damit auch von Taktik. Was die SPD uns nahelegt, ist antitaktisches Wählen. Taktisch war es, dass die Athener ihre Stadt aufgaben und sich aufs Meer zurückzogen; Rückzug aus der Stadt, um die Perser auf dem Meer zu besiegen. Ebenso verhielten sich die Russen im Napoleonischen Krieg. Sie ließen Napoleon über Moskau siegen und bereiteten so seine Niederlage vor. Das Analoge bei Parlamentswahlen wäre: Wahl der Besten statt der weniger Schlimmen, damit die Besten bei der nächsten oder übernächsten Wahl eine Chance haben, die Regierung zu übernehmen. Wem der Vergleich mit Kriegen zu martialisch ist, kann auch ökonomisch denken: Investoren, die nur kurzfristige Ziele verfolgen, den schnellen Profit, richten die Wirtschaft zugrunde. Die Wahl des kleineren Übels richtet die Politik zugrunde, indem sie sich nur kurzfristig an der je bevorstehenden Wahl orientiert.
Die SPD ist wirklich das kleinere Übel. Also nicht weil das falsch wäre, ist es eine rationale Option, sie trotzdem nicht zu wählen. Man könnte zwar sagen, Union und SPD seien darin das Gleiche, dass sie die Kapitalherrschaft reproduzieren. Es wäre aber unsinnig zu leugnen, dass eine Kapitalpartei der anderen im Interesse der Menschen vorzuziehen sein kann. Natürlich ist die Partei, die nicht nur Hartz IV durchsetzt, sondern auch den Mindestlohn, derjenigen vorzuziehen, die den Mindestlohn von sich aus nicht eingeführt hätte. Das trifft aber nicht den Kern der Sache. Wodurch reproduzieren Union und SPD die Kapitalherrschaft? Nicht dadurch schon, dass sie „Kapitalparteien sind“, sondern indem sie einander unablässig in die Hände spielen, in offener oder verdeckter Form gemeinsam regieren und derart ein Herrschaftskartell bilden.
Die Kapitalherrschaft wird nicht allein ökonomisch ausgeübt, sondern durch ein bestimmtes politisches System; dieses System besteht eben darin, dass wir zwar in einer parlamentarischen Demokratie leben, als Wähler aber immer nur die Möglichkeit haben sollen, entweder die eine oder die andere Kapitalpartei, SPD oder Union, den Kanzler oder die Kanzlerin stellen zu lassen. Dass wir neuerdings sogar gezwungen scheinen, regelmäßig die Große Koalition zu wählen, ist davon nur die Verdeutlichung zur Kenntlichkeit. Das Mittel aber, dieses System am Laufen zu halten, ist das antitaktische Kalkül des kleineren Übels. Denn es läuft darauf hinaus, Wahl für Wahl die Kapitalpartei SPD zur einzigen Unionsalternative zu machen.
Das kleinere Übel ist ein zu winziger Schritt. Anders steht es, wenn in der Stichwahl eines Landes nur einer von zwei Präsidentschaftskandidaten siegen kann, sagen wir ein Neoliberaler oder ein Faschist. Da ist die Wahl des kleineren Übels rational, weil der Unterschied etwas bedeutet. Da wäre auch Stimmenthaltung, damit das kleinere Übel nur geringfügig siegt, irrational, denn wenn der geringe Sieg möglich ist, dann auch die geringe Niederlage. Wir sprechen aber von deutschen Parlamentswahlen. Hier könnte eine schwarz-gelbe Regierung als größeres Übel, abgesehen davon, dass sie nicht im Mindesten faschistisch wäre, nicht einmal richtig durchgreifen. Je mehr sie das versuchen würde, desto mehr Widerstand würde sich dagegen wohl artikulieren, indem Landtagswahlen etwa linke Regierungen hervorbringen und die Mehrheiten im Bundesrat prägen.
Dass jetzt wieder viele überlegen, ob sie das kleinere Übel wählen sollen, liegt nicht nur daran, dass dieses etwas größere Übel droht. Sondern auch daran, dass sie schon bei der vorigen Wahl vor derselben Frage standen und sich auf sie eingelassen hatten. Es wäre besser, sie dächten taktisch, also auch strategisch, also an Ziele, die sich heute nicht durchsetzen lassen, aber, wenn der Atem lang ist, in zehn Jahren.
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