Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst - so könnte man zusammenfassen, was die CDU auf ihrem Wahlparteitag am Sonntag bot. Nicht nur, weil Generalsekretär Kauder ein Spektakel von US-amerikanischen Ausmaßen inszeniert hatte, dem er selbst als Erster zum Opfer fiel: Schon seiner nicht extrem wichtigen Eröffnungsrede wurde so viel bestellter Jubel zuteil, dass er, den Zeitplan im Auge, um Mäßigung bitten musste. Unfreiwillige Komik zeichnete vor allem die Rede der mit "Queen", "Angie, Angie" und "We are the champions" gefeierten Kanzlerkandidatin aus. Das muss man wörtlich zitieren: "Im christlichen Verständnis vom Menschen stehen seine Freiheit und Eigenverantwortung nie allein. Sie sind stets eingebunden in das Zusammenleben mit anderen Menschen. Nähe und Teilnahme - das ist Solidarität und Subsidiarität. Wer, wenn nicht die Betriebsräte und Firmenleitungen vor Ort, kann denn den besten gemeinsamen Weg in Krisen finden?" Das war ihre Art zu sagen, dass sie das Kontrollrecht der Gewerkschaften bei Betriebsbündnissen aushebeln will, obwohl das Bundesarbeitsgericht solches 1999 für illegal erklärt hatte.
Das ganze Grundmuster ihrer Reden - dieser nicht allein - ist ausgesprochen komisch. Denn es behandelt Deutschland wie eine Schulklasse im Sportunterricht. Du schaffst das!, ruft die Sportlehrerin dem bibbernden Häuflein Elend zu, das sich da nicht traut, über den Bock zu springen. Du musst den inneren Schweinehund überwinden!, macht sie ihm Beine. So bildet Angela Merkel Deutschlands Wirtschaftsprobleme ab. Während der Kanzler so tut, als seien Arbeitsplätze in Fülle vorhanden, nur dass die Arbeitslosen zu schlapp seien und sich zierten, sie dann auch zu nehmen (das ist die Idee hinter den Hartz-"Reformen"), hat die Herausforderin erkannt, es ist eine Frage des Mutes. "Die Menschen können viel mehr, als Rot-Grün ihnen zutraut. Wecken wir ihre Kräfte!" "Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes sind wahrlich nicht schuld" - welch eine Erkenntnis. Sie selbst räumt jetzt schon ihre Hilflosigkeit ein: "Wer Patentrezepte anbietet, wo es keine gibt, der sagt nicht die Wahrheit."
Gar nicht komisch ist ihre Definition von Gerechtigkeit. Auch das muss man wörtlich zitieren: "Die Stärkeren können mehr tragen als die Schwächeren. Deshalb müssen wir die Starken in ihren Möglichkeiten stärken. Das kommt allen in der Gesellschaft zugute." Gleich danach sagt sie den Schwächeren, jeder von ihnen müsse sich "seinen Möglichkeiten entsprechend einbringen", da Solidarität in der Gesellschaft "keine Einbahnstraße" sei. Harry Potter-Leser könnten hier argwöhnen, sie unterliege dem Imperius-Fluch, einem Zauber, der zum Tanzen nach der Pfeife eines Anderen zwingt. Denn ein nicht hypnotisierter Mensch würde bestimmt das Gegenteil sagen: Den Schwachen müssen wir in seinen Möglichkeiten stärken, denn er hat nicht viele, das macht ihn ja schwach. Der Starke, dem "wir" allzu viel geben, deshalb ist er ja stark, muss sie dann wenigstens auch einbringen. Denn Solidarität ist keine Einbahnstraße.
Oskar Lafontaine lässt sich nicht hypnotisieren. Mit seiner Rede auf dem Wahlparteitag der Linkspartei am Samstag antwortet er Merkel, ohne sie gehört zu haben: Wie der französische Aufklärer Rousseau richtig geäußert habe, befreie zwischen dem Starken und dem Schwachen das Gesetz, während Freiheit ohne Gesetz auf Unterdrückung hinauslaufe. "Wenn man die Stärkeren nämlich frei agieren lässt, dann drücken sie die Schwachen an die Wand. Deshalb weiß die Linke: Es braucht Regulierungen." Seine Rede dekliniert diesen Gerechtigkeits-Grundsatz. Sie ist diesmal systematisch angelegt, keine bloße Sammlung von Schlüsselsätzen. Und sie beginnt mit der Außenpolitik. Dort heißt Parteinahme für die Schwachen: auf dem Völkerrecht bestehen. Auch die stärkste Macht muss es beachten. Zum Völkerrecht gehören neben der UN-Charta die Genfer Konventionen, die Bomben auf Städte und Dörfer verbieten. Aber kein Gesetz verpflichtet Deutsche dazu, sich "an Ölkriegen zu beteiligen".
Wer für die Schwachen eintritt, kann das jetzige Weltwirtschaftssystem nicht akzeptieren. Er muss für eine Regulierung des europäischen Arbeitsmarktes kämpfen. "Und in diesem Zusammenhang habe ich in Chemnitz gesagt - und ich bedaure, dass es da ein Missverständnis gab: Es darf nicht sein, dass durch Billiglohnkonkurrenz Familienväter in Deutschland ihre Arbeit verlieren." Auf diese Klarstellung hat man gewartet: Lafontaine will die Familien nicht durch nationale Abschottung schützen, sondern durch "Regeln in Europa, um den schädlichen Wettbewerb der Völker gegeneinander zu bremsen". Deshalb feiert er die Franzosen, die gegen die EU-Verfassung stimmten, weil sie ein anderes Europa wollen. Er hat sich in Paris an ihrer Protestbewegung beteiligt, fast als ob er ein Franzose wäre - und tatsächlich könnte man meinen, ihm selbst, dem Saarländer mit französischem Namen, schlage Ausländerhass entgegen. So behauptet Edmund Stoiber im Spiegel-Streitgespräch dieser Woche, Lafontaine hätte Westdeutschland 1990 "lieber mit Frankreich" als mit Ostdeutschland vereinigt.
Wahr ist, er steigert sich mehr und mehr in Vergleiche zur Französischen Revolution hinein. Er erzählt den Delegierten der Linkspartei, wie nach der Abstimmungsniederlage der EU-Verfassung in Frankreich "Tausende am Abend an einem historischen Ort feierten, am Place de la Bastille in Paris. Ich glaube, dass dies tatsächlich ein historischer Einschnitt war."
Lafontaines Rede ist nicht die einzige, die beeindruckt. Lothar Bisky zum Beispiel gelingt eine Klärung, die verbreitet werden sollte: "Richtig ist, unsere Vorschläge wären unbezahlbar, wenn wir nicht aus der neoliberalen Logik derer ausbrechen, die zur Zeit Regierung und Opposition führen." Das begreifen wahrscheinlich noch nicht viele Bürger: dass die Forderungen der Linkspartei nicht neoliberale Fragen beantworten wollen, sondern mit deren Zurückweisung beginnen. Zum Fusionsprozess mit der WASG fällt Bisky ein geniales Brecht-Zitat ein: "Beim Planen zerstreitet man sich leichter als beim Ausführen, und beim Ausführen fällt einem mehr ein als beim Planen."
Gregor Gysi zählt in seiner Rede die Stärken der Führungspersönlichkeiten auf: Hans Modrow, der sich von Verleumdung nicht erbittern lässt, hält "nachdenkliche Reden"; Bisky strahlt so viel Fairness aus, dass die WASG nie denken wird, er trickse; Bodo Ramelow ist "ein lebendiger Organisator" - in der Tat, zusammen mit Lafontaine und Klaus Ernst von der WASG und noch anderen (ihn selbst nicht zu vergessen) bildet sich da eine Gruppe heraus, deren Qualität, Kollektivität und Solidarität nicht alltäglich sein dürften. Gysi weiß auch, es ist alles noch zu "männerdominiert", obwohl "wir tolle Frauen haben". Das hat wenigstens auch Vorteile: Wenn sich ein Weg zeigt, diese Männer visionär zu übertreffen, können nüchterne, ruhige Frauen ihn gehen. Die Männer können sich dann ohne Gesichtsverlust mitreißen lassen. Als Zwischenergebnis jedenfalls ist die Gruppe beachtlich, zumal "wir doch", wie Gysi behauptet, "mit dem Wahlkampf noch gar nicht begonnen haben".
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