Von wegen Durcheinander – mehr davon!

Koalition Die Regierung macht aus der Not eine Tugend und gibt den Gesetzentwurf und die Abstimmung über die Impfpflicht frei. Die heute stattfindende „Orientierungsdebatte“ ist eine große Chance
Ausgabe 04/2022
Wieso Durcheinander? – sieht doch alles aus wie immer. Olaf Scholz bei seiner Regierungserklärung im Dezember 2021
Wieso Durcheinander? – sieht doch alles aus wie immer. Olaf Scholz bei seiner Regierungserklärung im Dezember 2021

Foto: Future Image/IMAGO

Es stimmt natürlich, dass die Regierung aus der Not eine Tugend macht, wenn sie keinen eigenen Gesetzesentwurf zur Impfpflicht vorlegt, sondern die Abstimmung darüber freigibt. Denn die Differenzen über diese Frage sind in der Regierungskoalition unüberbrückbar. Teile der FDP wollen sie nicht mittragen.

Deshalb hat Bundeskanzler Olaf Scholz die Frage als so bedeutend hingestellt, dass sie vom ganzen Parlament getroffen werden müsse. Und deshalb gibt es diese Woche im Bundestag eine „Orientierungsdebatte“ über drei verschiedene Anträge, die alle aus den Reihen der Koalition kommen. Andrea Lindholz von der CSU nahm das zum Anlass, um von einem „Durcheinander“ zu sprechen: Wozu gebe es eine Regierung, wenn sie in einer schwierigen Situation keine eigenen Lösungen vorschlage?

Nein, da liegt sie falsch. Das ist in Wahrheit eine Tugend, mag sie sich auch der Not verdanken. Wenn es daran etwas zu kritisieren gibt, dann nur, dass so ein Verfahren nicht allgemein gilt. Warum hat Scholz nicht schon als Vizekanzler der letzten Merkel-Regierung auf koalitionsjenseitige Abstimmungen gedrungen? Oder noch mehr sein Vorgänger Sigmar Gabriel in der vorletzten Merkel-Regierung, wo noch gegen die Unionsparteien linke Mehrheiten möglich gewesen wären? Lag es etwa daran, dass es keine Fragen gab, die „bedeutend“ genug waren, um vom Koalitonskonsens abzuweichen?

Noch besser als eine Minderheitsregierung

Aber blicken wir nach vorn: So allgemein, wie sich Olaf Scholz jetzt erklärt hat, sollte das Verfahren dann auch verallgemeinert werden. Das liefe auf ein neues Verständnis von Koalition hinaus: Die Parteien in ihr legen sich nur auf Projekte fest, in denen sie wirklich einig sind, und geben alle anderen Fragen frei. Davon wären in der derzeitigen Koalition dann auch etliche soziale und ökologische Fragen betroffen.

Das wäre noch besser als „wechselnde Mehrheiten“, die von einer Minderheitsregierung gesucht werden. Solche können sich in Deutschland bisher nicht durchsetzen, weil sie angeblich für politisch instabile Verhältnisse stehen. Eine Koalition, die sich nur in manchen Fragen einig ist, aber dafür eine Mehrheit hat, sich deshalb auch immer auf einen gemeinsamen Haushalt wird einigen können, weist ohne Zweifel mehr Stabilität auf. Wenn aus einer solchen Koalition heraus drei Vorschläge entstehen, die man im Parlament gegeneinander abwägt, was könnte denn besser sein? Einem der Vorschläge, die jetzt vorliegen, nämlich demjenigen, der die Impfpflicht ablehnt, wird freilich die AfD zustimmen. Aber das darf gegen keinen Vorschlag eingewandt werden, der eine politische Einzelfrage betrifft. Mehrheiten in Einzelfragen sollten immer akzeptiert werden. Und eine Übereinstimmung von AfD und FDP kann auch dazu führen, dass sich Anhänger der erstgenannten Partei auf den Weg zur zweiten machen.

Dass es überhaupt gar kein „Durcheinander“ gebe, soll übrigens nicht behauptet werden. Denn man fragt sich, warum die Frage der Impfpflicht so isoliert zur Debatte steht. Hans Henri Kluge, Regionaldirektor der WHO für Europa, hat gesagt, es werde nach der jetzigen Omikron-Welle eine monatelange globale Immunität geben, ob mit oder ohne Impfung. Was danach passiere, wisse man nicht und müsse deshalb vorsichtig sein. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) glaubt aber jetzt schon zu wissen, dass Omikron keinen Ausweg aus der Pandemie eröffne. Wird Politik inzwischen auf Basis von Spekulation gemacht?

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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