Wag es nicht!

Lila Die große Roman-Tetralogie „Die geniale Freundin“ liegt jetzt vor. Elena Ferrante stellt in ihr die Frage, wie weibliches Schreiben möglich ist
Ausgabe 36/2018
Realismus? Beim ersten Lesen fällt man auf Ferrante herein. Weil alles so spannend ist
Realismus? Beim ersten Lesen fällt man auf Ferrante herein. Weil alles so spannend ist

Fotos: Andrea Artz/Laif, Mario de Biasi/Mondadori Portfolio/Getty Images (rechts)

Nachdem in diesem Jahr auch das vierte Buch von Elena Ferrantes Roman-Tetralogie L’amica geniale, „Die geniale Freundin“, auf Deutsch erschienen ist (den vom Suhrkamp-Verlag ausgedachten Titel „Neapolitanische Saga“ hat Ferrante mit gutem Grund zurückgewiesen), wäre der Versuch einer Gesamtinterpretation fällig. Denn bisherige Rezensionen konnten zwar ihren hohen Rang hervorheben, in der Deutung aber mussten sie Vieles, ja das Meiste offenlassen. Zum einen bezogen sie sich überwiegend auf die Einzelbände, obwohl doch die Lebenswege der Protagonistinnen durchgehend erzählt werden. Zum andern leidet der einzige übergreifende Interpretationsversuch eines Motivs, den man fast überall antrifft – der Puppen, die am Anfang des ersten Buchs rätselhaft verschwinden, um am Ende des letzten ebenso rätselhaft wiederaufzutauchen -, unter der häufigen Adaption der These des Germanisten Ernst Osterkamp, die Romanautorin habe sich dankenswerterweise für die Rückkehr zur realistischen Erzählweise des 19. Jahrhunderts entschieden (Alle Männer sind kläglich, in Die Zeit vom 3. Februar 2017). Osterkamp lagen aber auch nur die ersten beiden Bücher der Tetralogie vor, als er sein Urteil abgab.

Nach meiner Auffassung erzählt die Tetralogie nicht nur. Sie greift Ingeborg Bachmanns Frage auf, ob es eine spezifisch weibliche Autorposition gibt, und beantwortet sie neu und überraschend.

Unwahrscheinliche Person

Es ist wahr, die Puppen schlagen den größten Bogen. Die Handlung beginnt und endet in einem Stadtviertel Neapels, wo die armen Leute wohnen und die Camorra herrscht. Auf einem Hinterhof spielen zwei kleine Mädchen, die vor einem Kellerloch sitzen. Die eine, Lila, wirft unvermittelt die Puppe der anderen hinunter, die Lenù genannt wird (Kurzform von Elena, wie sich auch die Romanautorin nennt), worauf diese mit Lilas Puppe dasselbe macht. Sie steigen gleich danach in den Keller herab, finden die Puppen aber nicht wieder. Dass Lila meint, Don Achille habe sie genommen, ein Familienvater, der im obersten Stockwerk wohnt, kann damit erklärt werden, dass der Mann ihnen als Unhold aus dem Märchen dargestellt worden ist. Er ist tatsächlich zu dieser Zeit – später wird er ermordet – ein sehr mächtiger Camorrist. Lila, die Mutige, und an ihrer Hand die ängstliche Lenù wagen sich zu ihm herauf, um die Puppen zurückzufordern. Don Achille schüttelt den Kopf, gibt den Kindern aber etwas Geld, wovon sie sich nicht wieder Puppen, sondern einen Kinderbuchklassiker kaufen. Wie Lenù selbst später sagt, ist das der erste Anstoß dafür, dass sie Schriftstellerin werden wird. Zunächst versucht sich Lila darin, eine Erzählung zu schreiben, doch ihr Vater, ein Schuster, verweigert ihr die höhere Schulbildung. Lenùs ebenso arme Eltern gestatten sie, nachdem die Grundschullehrerin energisch interveniert hat. Von da an ist Lenù in Lilas Augen diejenige, die für beide „Großes“ leisten soll. Immer wieder werden nun Stil- und erzählerische Gestaltungsfragen von den Freundinnen erörtert, wobei Lila stets die Überlegene ist.

Am Ende der vierten Buchs glaubt Lenù erkannt zu haben, dass Lila von Anfang an eine Strategie verfolgt hat: sie zur Autorin einer Lila-Biografie zu machen. Ihre Absicht wäre gewesen, Lenùs Puppe namens Tina durch ihre, Lilas, lebendige Tochter desselben Namens zu ersetzen. Die glänzenden Zukunftsaussichten dieser Tochter wären anzudeuten gewesen. Das wirkliche Ende besteht aber darin, dass diese Tochter plötzlich verschwindet. Wahrscheinlich ist sie ermordet worden. Nachdem Lenù das alles in einem Roman niedergeschrieben hat – offenbar dem, den wir in Händen halten -, verschwindet auch Lila aus eigener Kraft und Absicht. Lilas Verschwinden wird auf den ersten Seiten des ersten Buchs der Tetralogie schon angekündigt. Wir erfahren dort bereits, dass sie keinerlei Spuren ihrer Existenz hinterlässt, kein Kleid im Kleiderschrank, keinen Eintrag im Computer, überhaupt gar nichts. Gewissermaßen zum Ausgleich fragt sich Lenù, ob es Spuren von Lila in ihrem Roman gibt, sie dort Sätze eingefügt oder ausgestrichen hat.

Eine „realistisch“ erzählte Geschichte kann man das doch nicht nennen. Die Krone von allem ist, dass Lenù nach Lilas Verschwinden ein Päckchen mit den ehemals verschwundenen Puppen erhält. Dazu lesen wir in einer Besprechung, Lila habe signalisieren wollen, dass sie am Leben und Lenù immer noch überlegen sei, indem sie wisse, dass Lenù ihren zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlichten Roman zuendegeschrieben habe, ihrerseits aber nicht daran denke, das Rätsel des Verschwindens der Puppen zu lüften. Ferner könne sie sich als Hackerin Zugang zu Lenùs PC verschafft und den Text von Lenùs Roman verändert haben. Ich finde nicht, dass man es so lesen kann. Denn erstens schwebt Lenù nicht die Möglichkeit des Hackens vor, sondern sie sagt, eine schon verschwundene Lila könnte „kommen, um in meinem Computer herumzuschnüffeln“. Zweitens ist es völlig unwahrscheinlich, dass eine Schriftstellerin nicht erkennt, welche Sätze sie selbst geschrieben hat und welche nicht. Und drittens lesen wir, dass Lenù sich fragt, ob die Verschwundene „in einer der vielen Dimensionen“ sei, „die wir noch nicht kennen, aber Lila ja, und jetzt ist sie dort mit ihrer Tochter“. Als ihr dann die Puppen geschickt werden, hält sie es zwar für möglich, dass Lila durch die Welt reise und es habe kundtun wollen. Aber warum durch das surreale Päckchen? Lila hätte ein Rätsel durch ein noch viel größeres ersetzt.

Nicht nur am Anfang und am Ende, sondern alle vier Bücher hindurch ist sie eine völlig unwahrscheinliche Person, und das war es gerade, was mich veranlasst hat, die Tetralogie ein zweites Mal und dann sehr langsam zu lesen. Denn mir schien, dass es sich um eine gezielte Unwahrscheinlichkeit handelt. Schon als sie noch Kinder sind und Lenù ein für allemal beschließt, sich „an diesem Mädchen ein Beispiel zu nehmen“, nennt sie es gleich anschließend ein „schreckliches, strahlendes Mädchen“, so dass man an Rilkes Duineser Elegien denken muss: „Jeder Engel ist schrecklich“, „Wohin sind die Tage Tobiae, da der Strahlendsten einer stand an der einfachen Haustür“ und so weiter. Übrigens wird auch der Satz „Die Schönheit ist nichts als des Schrecklichen Anfang“ aus demselben Gedicht, und nun von Lila selbst, fast wörtlich zitiert: „Ich denke, dass Schönheit eine Täuschung ist. Sie ist Puder über dem Grauen.“ Da sind beide schon erwachsen und Lenù wohnt gerade in Florenz - Lila wie stets im „Rione“, dem armen Stadtviertel Neapels -, muss sich aber fragen: „Wie schaffte sie es, selbst aus der Entfernung meine aufgesetzte Sanftheit wegzufegen?“

Angst davor, sich aufzulösen

Als schrecklich wird Lila durchgängig erfahren. Das fängt mit ihrer schrecklichen Schönheit im Alter von Fünfzehn an, die einen Sprössling der inzwischen mächtigsten Camorra-Familie, Marcello Solara, dazu bringt, sie heiraten zu wollen; sie flieht in eine andere Heirat, doch auch der Erwählte entpuppt sich als werdender Camorra-Kapitalist. Alle erliegen ihr - was in der Männerwelt daran, dass sie als Frau viel leiden muss, nichts ändert. Vom Ehemann wird sie geschlagen und vergewaltigt, flieht in eine Mortadella-Fabrik, die offenbar Marx‘ Dante-Zitat beglaubigen soll, wer hier eintrete, in die Hölle nämlich – sie steht abwechselnd im heißen Fleischsud und bei zwanzig Grad minus im Kühlraum -, möge alle Hoffnung fahren lassen: Ihr Widerstandsgeist und ihre Energie bleiben ungebrochen. Bis sie ihre Tochter verliert. Vorher war sie selbst Kapitalistin geworden, hatte früh die Bedeutung der Digitaltechnik erkannt und war deshalb zeitweilig mächtiger als die Camorra-Clans. Diese Kraft vor allem macht sie so unwahrscheinlich. Noch im Rückblick am Ende des vierten Buchs, also nach dem Verlust der Tochter, wird Lenù feststellen: „Wir alle hatten uns untergeordnet, nur Lila schien durch niemand und nichts zurechtgestutzt zu werden“. Ist sie eine „positive Heldin“ nach Art des verflossenen „sozialistischen Realismus“? Da sie am Ende scheitert und verschwindet, kann das nicht sein.

Was ihre Rolle ist, sagt sie selbst in der Mitte der Handlung in einem Telefongespräch, wo Lenù es noch nicht begreift („sosehr ich mich auch bemühe, hinter die Bedeutung dieses Telefongesprächs zu kommen...“): Wenn sie Lenù eine Schreibweise nahegelegt hat, in der „Abgründe“ stehengelassen werden und Brücken unvollendet bleiben, sagt sie doch auch, „die widerliche Fratze der Dinge genüge nicht, um daraus einen Roman zu machen“, und weiter: „Ohne Phantasie wirke sie nicht wie ein wahres Gesicht, sondern wie eine Maske.“ Sie, Lila, ist diese Phantasie. Sie heult während des Gesprächs: „Wer bin ich, wenn du nicht gut bist, wer bin ich dann?“ Neben der widerlichen Wirklichkeit, so lese ich das, soll der Widerstand bemerkt werden können, den Lila mit ihrer ganz unwahrscheinlichen Konsequenz verkörpert. Nun stellt sich freilich heraus, dass sie sich sogar selbst unwahrscheinlich findet. Wie sie hier zu verstehen gibt, steht ihre Existenz in Frage.

Diesen Selbstzweifel könnten wir nicht nachvollziehen, wenn nur zu sagen wäre, dass sie Widerstand verkörpert, denn Widerstand gibt es immer. Man weiß aber nicht, was sein Schicksal in der Geschichte ist und ob er das letzte Wort haben wird. Es kann ja sein, dass vielmehr die „widerliche Fratze“ das ewige Wesen der Wirklichkeit zeigt. Widerstand gäbe es nur, damit sein fortwährendes Scheitern demonstriert werde. Verkörpert Lila die gegenteilige Hoffnung? Dabei leidet sie bei allem irdischen Mut an einer irgendwie metaphysischen Depression. Denn häufig hören wir von ihrer Angst, sie könne sich auflösen, und nicht nur sie, sondern die Menschen um sie herum und die ganze Welt. Als sie zum Beispiel ein Sylvesterfeuerwerk sieht, glaubt sie, es könne ihren Bruder aufreißen und „einen anderen, abstoßenden Bruder aus ihm heraussickern lassen, den ich sofort wieder zurückbefördern musste – in seine alte Form -, damit er sich nicht gegen mich wandte“. Im Rückblick wird sie sagen, sie habe ihr ganzes Leben „nichts anderes getan, als Momente wie diesen einzudämmen“. Bei realistischer Lesweise müssten wir sie solcher Äußerungen wegen für psychotisch erklären. Aber darauf deutet sonst wenig im Roman, und es hat auch noch kein Rezensent gewagt, eine solche Deutung vorzuschlagen.

Ein Spiel mit der Täuschung

An der These, Ferrante habe realistisch im Sinn des 19. Jahrhunderts erzählt, ist Eines richtig: dass sie mit der Täuschung spielt, es sei so. Beim ersten Lesen fällt man zwangsläufig darauf herein, weil der Roman so spannend ist, das Erzähltempo bei aller atmosphärischen und Detaildichte so hoch ist und man Nächte durchwacht, um möglichst schnell zu wissen, wie es ausgeht. Beim zweiten Lesen staunt man, was alles man überlesen hat, am meisten aber über den Ausgang selbst, den man ja nun kennen müsste, aber gleich wieder verdrängt hat. Ich hatte ihn wirklich vergessen, obwohl schon der Titel unmissverständlich ist: viertes Buch, „Die Geschichte des verlorenen Kindes“. Es ist so ungewöhnlich furchtbar.

Ich glaube, in der schöngeistigen Literatur außer dem Ende von Shakespeares König Lear nichts vergleichbar Furchtbares gelesen zu haben. Lila unterhält sich auf der Straße vor dem Haus, in dem sie wohnt, mit Nino, einem längst abgetanen Geliebten, für den sie in diesem Moment aber doch wieder Gefühle zeigt. Ihre und Lenùs andere Kinder umgeben sie, auch ihr Mann Enzo steht dabei, nur Tina fehlt. Als Lenù hinzukommt, es bemerkt und Lila darauf anspricht, liegt „auf ihrem Gesicht der Ausdruck herzlicher Zustimmung, mit dem sie sich noch eine Minute zuvor Ninos Geschwätz angehört hatte“. Während ihr Mann zu suchen anfängt, spricht sie weiter mit Nino und lacht: Auch ihr Sohn Rino war einmal nicht auffindbar. Sie malte sich „‚die schlimmsten Dinge aus, dabei saß er gemütlich im kleinen Park.‘ Aber gerade als sie sich daran erinnerte, wich die Farbe aus ihrem Gesicht. Ihre Augen wurden leer...“ Ihr fällt nämlich ein, dass sie diesmal Grund hat, sich das Schlimmste auszumalen. Und dass sie es längst weiß. Jetzt ist es geschehen und wird sie für immer gezeichnet haben. Während der Jahre, die ihr noch bleiben, redet sie sich ein, Tina sei noch am Leben. Oft spielt sie mit Lenùs jüngster Tochter, „um in diesem schrecklichen Sonntag zu verharren“, sie sagt sich dann, Tina werde gleich kommen. Noch nach Jahren wiederholt sie: „Es kann sein, dass Tina heute Abend zurückkommt, und dann ist es scheißegal, wie das passiert ist, das Entscheidende wird sein, dass sie wieder da ist und mir meine Unachtsamkeit verzeiht.“

„Lila blieb stets im Zentrum ihres Entsetzens, ohne jede Zerstreuung“ - ich kann mir Leserinnen und Leser, die das ertragen, gar nicht vorstellen. Auf dem Einband lese ich aber die Kommentare von Le Monde und Le Figaro: „Wirkt wie eine Droge!“ „Der einzige Makel dieses vierten Bandes ist es, dass er das Ganze zu einem Ende bringt.“ Gemeint ist sicher nicht, dass es noch furchtbarer werden soll. Es kann nicht anders sein, als dass die Kollegen vergessen haben, was sie eben noch lasen. Das ist der Effekt der realistischen Lektüre: Wenn das am meisten „Reale“ geschieht, wird es, wie im wirklichen Leben, ganz einfach verdrängt.

Wollte man beim 19. Jahrhundert bleiben, müsste man Lilas wegen mindestens von einem „Poetischen“ Realismus sprechen. Der Begriff ist ja etabliert. Er bezeichnet eine Schreibweise, in der Symbolisches eingestreut und realistisch verkleidet wird. Aber auch über diese Rückdatierung ist der Roman hinaus. Er ist eindeutig modern. Viele Merkmale, die dem Roman des Zwanzigsten Jahrhunderts zugeschrieben wurden, finden sich in ihm wieder. So wird das Erzählen selbst zum Thema der Erzählung – wie auch Osterkamp hervorhebt, der dennoch bei seiner Realismus-These bleibt -, liegt der Darstellung, obwohl sie verwirrend vielschichtig ist, ein genauer Plan zugrunde und werden am Ende zweideutige Situationen erzählt, ohne von der Erzählerin Lenù geschlichtet zu werden. Bemerkenswert auch die vielen Verweise auf moderne Autoren: von Joyce bis Beckett, von Henry Miller bis Françoise Sagan, von Freud bis Lévi-Strauss und von Piaget bis Starobinski. Aber das ist nicht alles. Während die Merkmale des modernen Romans schon 1958 von Hans S. Reiss zusammengetragen werden konnten (vgl. Der Held des Romans und die Erzählform, in Akzente 5. Jg. 1958, 202-213), rekurriert Ferrante auf eine Problematik, die erst nach 1968 aufkam: Sie beantwortet auf ihre Weise die von Ingeborg Bachmann aufgeworfene Frage nach der weiblichen Autorposition. Im Hintergrund steht deren Roman Malina (Frankfurt/M. 1971).

Wer ist Malina? Ein meist schweigsamer Ehemann oder Lebensgefährte, gegen dessen unerschütterliche Ruhe Bachmanns weibliches Roman-Ich immerzu anrennt, hektisch und zerfahren, unordentlich, leidend; am Ende wird es buchstäblich zunichte und „verschwindet in der Wand“, so dass Malina einem Anrufer sagt, er sei falsch verbunden, es gebe hier niemanden außer ihm. Wie Gudrun Kohn-Waechter herausgearbeitet hat (Das Verschwinden in der Wand. Destruktive Moderne und Widerspruch eines weiblichen Ich in Ingeborg Bachmanns 'Malina', Stuttgart 1992), hat Bachmann damit dargestellt, wie sie mit ihrem Versuch gescheitert ist, eine Alternative zur männlichen Erzählweise zu finden. Mit ihrem eigenen Erzähl-Ich konnte sie nur wieder in dem „verschwinden“, was sie gerade überwinden wollte. Nicht nur ihr Roman, sondern eine ganze Serie unvollendeter Erzählungen, der sie den Gesamttitel Todesarten gab, und vor allem das große Romanfragment Der Fall Franza, München 1978, hatten dem Versuch gegolten. Dort entdeckt eine Frau, dass ihr Mann, ein Arzt, sie immerzu heimlich kalt beobachtet und darüber in wissenschaftlicher Manier laufende Notizen angefertigt hatte. Sie schlägt einen Bogen zu den Ärzten in Hitlers Todeslagern; einen, der in Ägypten untergetaucht ist, sucht sie auf und führt ein langes Gespräch mit ihm. Weiße Männer besorgen ihren Untergang wie den von Naturvölkern („Ich bin eine Papua“).

Dass Bachmann diesen Bogen schlägt von der Beobachtung der Frau zum „Orient“, ist bemerkenswert; 1978 erscheint auch Edward W. Saids Studie über die Orientalistik und den „Orientalismus“. Im „Orientalismus“ hält die „wissenschaftliche“ Beobachtung eines künstlich erschaffenen Ostens an und für sich dafür her, das „Andere“ des Westens zu sein, was von Said als ein Diskurs erwiesen wird, Beherrschung zu ermöglichen und zu legitimieren. Mit dem „Anderssein der Frau“ verhält es sich entsprechend, und auch mit einem gewissen Blick auf Frauen, den Bachmann in der Literatur als männliche Erzählhaltung wiedergefunden hat. Unmittelbar vorausgegangen war, dass deutschsprachige Erzähler, vor allem Max Frisch, von sich aus an ihrem Beobachter-Ich gezweifelt und Romane dazu geschrieben hatten (so beginnt Frischs Roman Stiller mit dem Satz „Ich bin nicht Stiller!“). Dass der männliche Künstler kalt beobachte, glaubte Bachmann an Frisch erfahren zu haben. Es ist aber schon in Thomas Manns Roman Doktor Faustus das Hauptthema. Dort wird ein Avantgarde-Komponist dargestellt, der es nur sein kann, weil er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat; seine Gegenleistung besteht darin, dass er nicht lieben darf. Da er aber doch nicht umhin kann, ein Kind in seiner Nähe zu lieben, muss dieses sterben, und sehr bald darauf wird er wahnsinnig.

Ein Kind muss sterben

Auch bei Ferrante muss ein Kind sterben - das Verschwinden von Lilas Tochter lässt keine andere Deutung zu. Aber wird denn Lila für mangelnde Kälte bestraft? Jedenfalls hat auch Ferrante durch das ihrem Roman vorangestellte Motto, einen Wortwechsel zwischen Goethes Faust und Mephisto, die Spur eines Teufelspakts gelegt. Mann wiederum hat sich nicht nur an Goethe, sondern auch an Richard Wagner orientiert, denn mit dem Liebesverbot als Bedingung einer Macht, die bei ihm und wohl auch bei Wagner eine des Künstlers ist, beginnt dessen Tetralogie Der Ring des Nibelungen. Wagner macht aber darüber hinaus deutlich, dass von der Macht des Reichtums, des Kapitals die Rede ist: Er weiß so gut wie sein Zeitgenosse Marx, dass der Kapitalist nicht unendlich akkumulieren könnte, wenn unendlicher Genuss sein Motiv wäre. Im Gegenteil, er muss kalt sein, und es liegt nahe zu denken, dass der Künstler in seiner Nähe, der den kalten Beobachterblick pflegt, es von ihm gelernt hat. Ferrante weiß das alles auch. Wenn jener Camorra-Kapitalist, den Lila mit Sechszehn heiratet, sich ihr als solcher offenbart, sagt er: „Ich muss das Geld dort hinbringen, wo es sich vermehren kann“; das sei der Grund, weshalb er sich mit der Familie geschäftlich habe verbinden müssen, der sie mit der Heirat gerade entfliehen wollte. Wie schon erwähnt wurde, besteht ihr letzter Fluchtversuch darin, dass sie selbst Kapitalistin wird. Und so sehen wir auch, was sie mit Thomas Manns Romanfigur verbindet: Adrian Leverkühn als Künstler und auch sie als Kapitalistin hätten kälter sein müssen; ein kurzer Augenblick der Herzenswärme, Nino gegenüber, genügt, dass sie ihre Tochter verliert.

Bachmann, um auf sie zurückzukommen, hat Frischs Problematik des Zweifels am eigenen Beobachter-Ich nicht nur fortgeführt und umgewendet, sondern war auch einige Jahre mit ihm zusammen, bevor sie zerrüttet auseinandergingen. In ihrer Malina-Figur ist auch die Erfahrung mit Frisch verarbeitet. Der bemerkte es und fand das Ergebnis ungerecht; seine wenig später erschienene Erzählung Montauk reagiert darauf. Hier aber gerade kann man sehen, dass Bachmann wohl etwas getroffen hat. Denn bei aller Sensibilität und Redlichkeit, die Frisch bestimmt nicht vortäuscht, und bei aller Ungerechtigkeit, die in Bachmannschen Übertreibungen liegen mag, enthält doch Montauk solche Passagen: „Lynn steht jetzt bei den Hüten.“ Sie ist eine junge Frau, mit der er als Sechzigjähriger ein paar Tage und Nächte verbringt. Jetzt wartet er gerade, ob sie in einem Laden etwas kauft. „Er wundert sich, dass er nicht nervös wird. Irgendetwas denkt das Hirn immer, oft dasselbe, so dass es ihn nicht interessiert, was es denkt.“ „Ich möchte diesen Tag beschreiben, nichts als diesen Tag, unser Wochenende und wie’s dazu gekommen ist, wie es weiter verläuft. Ich möchte erzählen können, ohne etwas dabei zu erfinden.“

Das ist alles, und die junge Frau wird unter diesem durchaus freundlichen Blick zum puren Bild, das er sorgfältig ausmalt. Ein paar Seiten später fällt ihm selbst ein, was wohl Bachmann dazu gesagt hätte: „ICH HABE NICHT MIT DIR GELEBT ALS LITERARISCHES MATERIAL. ICH VERBIETE ES, DASS DU ÜBER MICH SCHREIBST.“ So wie jener Arzt über Franza geschrieben hatte. Aber Frisch schreibt nun trotzdem über sein Erlebnis mit Lynn, und wieder mit diesem Blick, und weiß offenbar, was Bachmann daran störte – eben dass sie die Kälte empfand. Um sich zu rechtfertigen, greift er auf Kants Formel vom „interesselosen Wohlgefallen“ am Schönen zurück: „Wenn er sieht, wie sie jetzt durch den Sand stapft“, „so sieht er sie mit Wohlgefallen.“ „Er sieht sie mit Wohlgefallen, wenn sie speist“, „er sieht ihr Hüpfen auf der Treppe, dann beinahe Stolpern (wenn es nicht das hölzerne Geländer gäbe, wo sie sich grad noch halten kann) mit Wohlgefallen.“ Ein verräterisches Bild übrigens, das schon Nietzsche gefiel: Es gibt Wesen, die ein Geländer brauchen, Lynn ist so eines, Frisch nicht. „Er ist nicht verliebt. Er freut sich.“ Obwohl oder weil er nicht verliebt ist? Das bleibt offen.

Diesem Blick wollte sich Bachmann nicht anähneln, als Objekt schon gar nicht, aber auch nicht als Subjekt. Ferrante, die es ebenso wenig will, weiß aber, dass Bachmanns Weg eine Sackgasse war. Deren eben zitierten Standpunkt legt sie Lila in den Mund, die ihre Freundin fragt: „Was hast du vor?“ „Willst du über mich schreiben?“ „Wag es ja nicht, versprich es mir.“ Da hat sie schon ihre Tochter verloren; vorher hatte sie, wie gesagt, eine Darstellung durch Lenù gerade erwartet und erhofft. Die aber wird sich ohnehin über das Verbot hinwegsetzen. Der Roman, den wir in Händen halten, stellt das Verschwinden der Tochter und auch der Mutter dar. Insofern folgt Ferrante Bachmann also nicht. Doch an dem Ziel, eine Alternative zum Beobachterblick à la Kant oder Leverkühn oder Frisch zu finden, hält sie fest: „Niemand“, sagt sie, „wusste besser als ich, was es hieß, seinen Verstand zu vermännlichen“. Um sich durchzusetzen, habe sie „stets versucht, ein männliches Denken zu praktizieren“. „Ich hatte mich gezwungen, mir männliche Fähigkeiten anzueignen“, um „wem oder was denn gewachsen zu sein? Ihrer Vernunft, der unvernünftigsten überhaupt.“ So soll es nicht bleiben, sie will ihre „weibliche Natur erforschen“.

Dass Ferrante an Bachmann anknüpft, kann schon allein aus den Namen ersehen werden, die sie vergibt. „Lila“ heißt die weibliche Hauptfigur des Romans Mein Name sei Gantenbein (1964), in dem Max Frisch sein Zusammenleben mit Bachmann reflektiert; dieser Roman war es, der Bachmann entsetzte. Im Übrigen geht „Lila“ aus „Malina“ hervor: Sie heißt eigentlich Lina. Lenù ist die Einzige, die sie stattdessen Lila nennt, worüber sie die Leser und Leserinnen zwar informiert, es aber an keiner Stelle des Romans erklärt. Wenn das einen Sinn hat, kann es nur der sein, dass Lila alias Lina Malinas Kälte oder Interesselosigkeit sowohl erbt als auch überschreitet, oder sowohl überschreitet als auch erbt.

Es kommt auch eine Frau vor, die Melina heißt. Ninos Vater, wahlloser Schürzenjäger wie sein Sohn, hat sie kurz geliebt und dann sitzengelassen, woraufhin sie wahnsinnig geworden ist. So scheint der Text eine Gefahr anzudeuten: Die Alternative zur Kälte könnte der Wahnsinn sein. Wie es Thomas Manns Romanfigur ja ergangen ist. „Nur Lila fühlte sich zu Melina hingezogen“, heißt es einmal. Jedenfalls muss auch jener Vater als Repräsentant der männlichen Autorposition begriffen werden. Denn als bloßer Eisenbahner, der auch nur im armen Rione lebt und doch einen Gedichtband veröffentlichen konnte, ist er Lenùs erstes Dichtervorbild. Aber da ist sie noch ein Kind. Später wird sie ihn ekelhaft finden, obwohl sie sich in einer Mischung aus gewollter und verärgert erlittener Lust von ihm hat entjungfern lassen. Ihre Liebe zu Nino aber, seinen Sohn, wird die ganze Tetralogie durchziehen. Immer fragt sie sich freilich, ob er werden wird wie sein Vater, findet am Ende, es sei so, und verachtet ihn dann.

Ihre eigene Autor- oder vielmehr Autorinnenposition einzunehmen, lernt Lenù nur nach und nach. Worin sie bestehen wird, können wir aber schnell erahnen. „Lila“ ist nicht nur ein Name, sondern auch eine Farbbezeichnung. Die Farbe Lila „etablierte sich in den 1970er Jahren als Kampf- und Identifikationsfarbe der Frauenbewegung“. Von den vielen Deutungen, die sie erfuhr, kommt eine Ferrantes Intention besonders nahe: Lila als Mischung von Rot und Blau hat „Rot-Anteile“, die es sozialistischen Frauen ermöglichen, „einen farblich ausgewiesenen Frauenschwerpunkt zu setzen, ohne sich von der traditionellen Parteifarbe Rot zu distanzieren“. (Claudia Karolyi und Melanie Stitz im Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus) So lässt uns der Roman in Lila eine Person erleben, aber auch eine „Bewegung“ und obendrein noch ein Symbol. Das alles wird von Lenù beobachtet und damit ist gesagt, dass ihre Autorinnenposition sich nicht in einer besonderen Weise des Beobachtens erschöpft, sondern mehr noch aus dem Beobachteten entsteht. Was Ingeborg Bachmann in sich selbst nicht fand, findet Ferrante in der gesellschaftlichen Realität, der Stärke des neuen Feminismus.

Michael Jäger hat Ferrantes Roman in vier Essays, die aufeinander aufbauen, zu interpretieren versucht. Die anderen drei Teile folgen online in den nächsten Tagen: am 12. September eine Erörterung von Ferrantes „Autorinnenposition“ im Einzelnen; am 13. September Ferrantes Darstellung von Lila als der „Tochter Gottes“; am 14. September ihre Erzählung vom Geschlechterverhältnis, das auch da unmöglich bleibt, wo das Patriarchat nicht mehr mitspielt.

Diesen ersten Teil des Essays Die Farbe Lila, ins Netz gestellt am 11. 9. 2018, habe ich am 30. 10. um einen Satz ergänzt. Ich danke Beate Bartlewski für den Hinweis, daß „Lila“ nicht nur aus „Malina“ hervorgeht, wie ich ursprünglich nur geschrieben hatte, sondern auch der Name der weiblichen Hauptperson in Max Frischs Roman Mein Name sei Gantenbein ist. Diesen Roman noch einmal durchzusehen, hatte ich für unnötig gehalten, deshalb war mir die Pointe entgangen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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