Wahlrecht und Politikwechsel

Der deutsche Immobilismus In Frankreich oder den USA hat das Mehrheitswahlrecht den Politikwechsel beschleunigt, zugleich aber außer Kontrolle geraten lassen. Kann er auch in Deutschland gelingen?

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Wenn man den Politikwechsel will, sollte man sich an Podemos ein Beispiel nehmen
Wenn man den Politikwechsel will, sollte man sich an Podemos ein Beispiel nehmen

Foto: Pablo Blazquez Dominguez/Getty Images

Als Emmanuel Macron vor einer Woche in Versailles vortrug, er wolle das französische Mehrheitswahlrecht durch Elemente des Verhältniswahlrechts ergänzen, musste ihm klar sein, woran er das geladene Parlament vor allem erinnerte: dass er es diesem Mehrheitswahlrecht verdankt, französischer Präsident mit so großer parlamentarischer Unterstützung geworden zu sein. Seine erst während des Wahlkampfs gegründete Partei La Republique en marche kam auf 28,2 Prozent im ersten Gang der Parlamentswahlen, auf 43 Prozent im zweiten. Die französischen Sozialisten und Konservativen, die jahrzehntelang das Regieren unter sich ausgemacht hatten, kamen zusammen auf ungefähr 28 Prozent. In Parlamentssitzen wirkt es sich so aus, dass Macrons Partei 308 Sitze erwarb, während sich die Sozialisten und Konservativen mit 142 Sitzen begnügen müssen.

Dahinter steht ein Wandel der politischen Stimmung in Frankreich, doch nie hätte er so durchgeschlagen ohne dieses Wahlrecht. Noch im Vorjahr hatte niemand Macron auf dem Plan gehabt, einen Einzelgänger, der weiter nichts versuchen konnte, als wie Gott der Herr eine Bewegung aus dem Nichts zu rufen – kaum glaublich, aber wahr, dass er so aus dem Stand die traditionellen Regierungsparteien erniedrigen konnte. Gleich aber denkt man auch daran, dass in Großbritannien und den USA Vergleichbares geschah. Auch dort wird nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt. Auch Donald Trump war zunächst nur einer von vielen Kandidaten in den amerikanischen Primaries. Auch ihn hatte niemand auf dem Plan gehabt. Und dass Jeremy Corbyn, der Vorsitzende der Labour Party, heute eine realistische Chance hat, in absehbarer Zeit britischer Premierminister zu werden, wer hätte es vor kurzem gedacht?

Macron, Trump, Corbyn – dass der kometenhafte Aufstieg dieser Männer, und damit ihrer Politik, die vorher nicht mehrheitsfähig gewesen war, mit dem Mehrheitswahlrecht zusammenhängt oder gar auf es zurückgeführt werden kann, ist eine These, die sich nicht schon sofort erschließt. Zuvor aber, warum ist sie überhaupt von Interesse? Weil wir in einer Krisenzeit leben, die den radikalen Politikwechsel wünschenswert macht. Wir wünschen, dass die Krisenprobleme gelöst und nicht verschleppt werden. Die Verschleppung macht ja alles noch schlimmer. Der Politikwechsel kann freilich auch selbst das Schlimmere sein, wie Trumps Wahl zeigt. Andererseits hat nicht viel gefehlt, dass der US-Präsident jetzt Bernie Sanders hieße. Und Trump kann wieder abgewählt, vielleicht sogar abgesetzt werden. Und in Frankreich hatte auch Jean-Luc Mélenchon eine realistische Chance. Wie dagegen in Deutschland, wo nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wird, ein Politikwechsel jemals zustande kommen soll, steht in den Sternen.

Was Frankreich und die USA angeht, scheint es zunächst, als habe der Aufstieg Macrons und Trumps viel eher damit zu tun, dass diese Staaten von Präsidenten gelenkt werden, die über erhebliche politische Rechte verfügen, als mit dem Mehrheitswahlrecht. Schließlich hatte auch die Weimarer Republik, wo das Parlament nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wurde, einen solchen Präsidenten. Doch dieser Vergleich führt in die Irre. Es ist schon so: Selbst wenn nur der Präsident vom Volk gewählt wird, während sonst das Verhältniswahlrecht gilt, ist das ein Stück Mehrheitswahlrecht. Personen können gar nicht anders vom Volk gewählt werden als so. Da sich aber der Weimarer Präsident einem nach dem Verhältniswahlrecht gewählten Parlament gegenübersah, konnte er trotz allem nicht zum politischer Führer werden, sondern nur einen anderen dazu machen. Historisch konkret betrachtet konnte es nur die Reichswehr tun, deren Exponent der Präsident, der Hindenburg hieß, faktisch war. Die Verfassung, die dieses Präsidentenamt vorsah, musste gerade gebrochen werden und die Reichswehr absichtlich tatenlos zusehen, damit Hitler alle Macht an sich reißen konnte. Weil er nur Chef einer parlamentarischen Minderheitspartei war.

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Als das Mehrheitswahlrecht in England entstand, war es an der Person des damals noch mächtigen Königs orientiert. Das ihm entgegentretende Parlament war gleichsam eine Versammlung kleiner Subkönige. Von England übernahmen es die Vereinigten Staaten, die unter dem Namen eines Präsidenten auch den König beibehielten, allerdings einen auf Zeit, der seinerseits nur gewählt war. Es kommt noch die Besonderheit hinzu, dass dieser Präsident nicht so sehr vom Volk als von der Mehrheit der US-Staaten gewählt wird. Das Volk wirkt nur darin mit, dass das Stimmengewicht eines Staates von seiner Bevölkerungsmenge abhängt. Von Anfang an bildeten sich auch Parteien heraus, in England wie in den USA, doch erst später übernahmen sie so sehr die parlamentarische Macht, dass meist nur noch Personen mit parteilicher Rückendeckung gewählt wurden. In Frankreich orientierte sich Charles de Gaulle an der US-Verfassung, als er 1958 die Fünfte Republik schuf, in der das bis dahin geltende Verhältnis- durchs Mehrheitswahlrecht ersetzt wurde. Die politische Vollmacht des Präsidentenamts erweiterte er noch gegenüber dem amerikanischen Vorbild. Er brauchte diese Vollmacht, um den Algerienkrieg beenden zu können. Der Zusammenhang zwischen dem Wahlrecht und der Möglichkeit eines raschen Politikwechsels ist hier ganz offensichtlich.

In der Literatur wird dieser Zusammenhang weniger betont als ein anderer. Diese Literatur interessiert sich dafür, welche „Funktion“ dem jeweiligen Wahlrecht zugeschrieben werden kann. Der Effekt der Funktion kann stärker sein als der des Wahlausgangs. Von einer Funktion spricht man in den Sozialwissenschaften, wenn sich ein wiederkehrender Prozess oder eine solche Struktur auf andere Prozesse oder Strukturen in bestimmter Weise systematisch auswirkt. So wird dem Verhältniswahlrecht zugeschrieben, es sei am geeignetsten, die politischen Kräfteverhältnisse in einer Bevölkerung adäquat abzubilden. Eben weil dies unmittelbar einleuchtet, fordert in Frankreich Marine Le Pen die Rückkehr zum Verhältniswahlrecht und gesteht Macron, der sie besiegt hat, jetzt zu, Elemente davon ins Mehrheitswahlrecht einzubauen. Diesem aber wurde zugeschrieben, es sorge für stabile Verhältnisse unter Führung tatkräftiger Regierungen, und auch das hat lange eingeleuchtet. Denn der Nachteil des Verhältniswahlrechts, dass es in der Regel nur Regierungen zulässt, die auf oft faulen Kompromissen mehrerer Parteien basieren und daher zum „Immobilismus“ neigen, fällt hier weg. Wenn es unter dem Mehrheitswahlrecht zu Koalitionsregierungen kommt wie jetzt in Großbritannien, ist das schon ein Krisensystem.

Unter diesem Gesichtspunkt steht auch das griechische Wahlrecht mit dem Mehrheitswahlrecht auf einer Linie. Das griechische Parlament wird zwar nach dem Verhältniswahlrecht gewählt, doch damit es trotzdem stabile politische Verhältnisse gibt, erhält die Partei mit dem größten Stimmenanteil einen Zuschlag von 50 Parlamentssitzen. So erlangte Syriza, die Partei von Alexis Tsipras, bei der Wahl im Januar 2015 zwar nur einen Stimmenanteil von 36,34 Prozent, doch durch den Zuschlag verfügte sie über 149 von 300 Parlamentssitzen. Nur zwei fehlten zur absoluten Mehrheit, und so konnte Tsipras ein in Griechenland starker, handlungsfähiger Ministerpräsident werden. Dass er nicht bloß in Griechenland, sondern in der Eurozone stark hätte sein müssen und es nicht war, steht auf einem anderen Blatt. Die Eurozone wird ja von keinerlei Wahlen und überhaupt keinem Parlament beeinflusst. Das ist ein anderes Thema, denn hier reden wir vom Wahlrecht. Das griechische Wahlrecht ist dem Mehrheitsrecht darin homolog, dass auch dieses – nachdem es zur bloßen Hülle der Parlamentsparteien geworden ist – der stärksten Partei einen Zuschlag verschafft.

Das geschieht so: Die Person, die in ihrem Wahlkreis gewählt wird, ist faktisch nur ein Exponent ihrer Partei. Sie wählen heißt ihre Partei wählen, der sich die Person unterordnen wird. Die Wahl der Person anstelle der Partei hat aber zur Folge, dass ihr alle Stimmen des Wahlkreises gutgeschrieben werden, obwohl sie nur die Mehrheit darin erlagt hat. Wo es um die Partei als Partei geht, wird ihr nur die Mehrheit gutgeschrieben.

In Deutschland zum Beispiel, das nach dem Verhältniswahlrecht wählt, wenn auch mit eingebauten Elementen des Mehrheitswahlrechts, würde dieses, wenn es herrschend wäre, auch heute noch zur absoluten Mehrheit der Unionsparteien führen. Und es hätte Zeiten gegeben, in denen die Union mit weit mehr als der Zweidrittelmehrheit im Bundestag das Grundgesetz hätte ändern können, immerzu fast alle Artikel. Das wäre nun wirklich zuviel des Guten und der Stabilität gewesen. Wir sind froh, dass in unserem Land auch der Linkspartei eine parlamentarische Bühne bereitet ist, ja dass die Grünen im Bundesrat über eine Sperrminorität verfügen.

Aber nun erleben wir auch die Kehrseite, auf die im Grunde niemand vorbereitet war: Dasselbe Mehrheitswahlrecht, das in normalen Zeiten die Verhältnisse stabilisiert, wenn nicht betoniert, sorgt in der Krisenzeit dafür, dass sie ganz plötzlich zusammenstürzen können!

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Stabilisiert oder betoniert – wir müssen hier noch eine weitere Seite der Sache einbeziehen, die eigentlich erst entscheidend und das politisch Wichtige ist. In Großbritannien oder den USA hat das Mehrheitswahlrecht die Verhältnisse stabilisiert, aber nicht die Herrschaft einer Partei betoniert. Dazu wäre es nur in Deutschland gekommen. Was es aber wohl betoniert hat, war die Herrschaft eines Systems zweier Parteien, die, obwohl zueinander in Opposition stehend, einander immerzu die Bälle zugespielt haben. Diese Herrschaft nun hat überall bestanden, sowohl in Staaten, die nach dem Mehrheitswahlrecht, als auch in Staaten, die nach dem Verhältniswahlrecht wählen. Der Unterschied war, dass man sich über die Gefährdung der Herrschaft in Krisenzeiten nicht so sehr wundert, wenn nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wird, denn dann können Außenseiterparteien schnell aufsteigen; hingegen wenn sie es in Staaten wie Frankreich tun, ist man überrascht, denn man hat gedacht, eine Partei wie der Front National würde immer marginalisiert bleiben. In diesem Sinn hat das Mehrheitswahlrecht die Verhältnisse nicht nur stabilisiert, sondern betoniert. Verhältnisse, die darin bestanden, dass abwechselnd die Konservativen und die Sozialisten regierten, Parteien, deren Politik sich mit der Zeit immer weniger unterschied. Zuletzt allerdings wurde der Außenseiter durch einen anderen Außenseiter gestoppt, Le Pen durch Macron – das hatte niemand erwartet.

Was daran politisch wichtig ist: In allen Staaten, von denen die Rede war, Frankreich, Großbritannien, den USA, Griechenland und auch Deutschland hat dasselbe Zweiparteiensystem geherrscht. Es waren immer und überall Konservative und Sozialdemokraten. Welche Namen sie sich in ihrem Land jeweils gaben, ist eine andere Frage und spielt in unserem Zusammenhang keine Rolle. Es ist dieses System, das in die Krise geraten ist. Und dabei muss am Rande bemerkt werden, dass es ein Irrtum ist zu glauben, das sei die Krise irgendwelcher Parteien und insofern eine „parteipolitische“ Frage. Wie langweilig erscheint vielen Leuten die „Parteipolitik“, und wie sehr mit Recht! Ja, wenn man die Parteien betrachtet, sieht man doch eher deren Bedeutungslosigkeit. Jenes Dual aber, in der alle Regierungsmacht in die Kanäle zweier und nur zweier politischer Kräfte fließt, das ist keine „Parteipolitik“, sondern ein Herrschaftssystem. Dass die meisten Leute für seine Existenz blind sind, ist kein Wunder! Denn ein Dual hat als solches keine sichtbare Existenz, während sich Parteien sichtbar genug verkörpern. Machen Sie mal den Versuch, einer Versammlung zu erklären, dass in Deutschland ein Dual von Union und SPD herrscht und seit dem letzten Weltkrieg immer geherrscht hat; dass eben dasselbe Dual in Griechenland geherrscht hat, in Frankreich, in Großbritannien, in den USA, dort aber überall in die Krise geraten ist, in Deutschland aber nicht; dass wer einen Politikwechsel auch in Deutschland will, sich ebenso vom Dual abwenden und sich folglich das Ziel, an der Seite der SPD irgendwas zu erreichen, lieber nicht stellen sollte. „Die SPD, wie langweilig!“, wird man Ihnen zurufen. „Das ist ja nur Parteipolitik!“ Dabei haben Sie gar nicht von der SPD gesprochen, sondern vom Dual.

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Wir haben noch nicht von Spanien gesprochen. Auch dort hat das Dual geherrscht, und obwohl in Spanien nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wird, konnte es auch dort erschüttert werden. Mehr noch, die Erschütterung des Duals hat dort begonnen. Mit der Protestbewegung des 15. Mai (2011) hat die internationale Occupy-Bewegung begonnen, und aus ihr ist die Partei Podemos hervorgegangen. Diese Bewegung hat sich in einem Manifest erklärt, wo wir lesen: „Politiker sollten unsere Stimmen in die Institutionen bringen, die politische Teilhabe von Bürgern mit Hilfe direkter Kommunikationskanäle erleichtern, um der gesamten Gesellschaft den größten Nutzen zu erbringen, sie sollten sich nicht auf unsere Kosten bereichern und deswegen vorankommen, sie sollten sich nicht nur um die Herrschaft der Wirtschaftsgroßmächte kümmern und diese durch ein Zweiparteiensystem erhalten, welches vom unerschütterlichen Akronym PP & PSOE angeführt wird.“

So wie in Deutschland die Herrschaft der Wirtschaftsgroßmächte durch das unerschütterliche Akronym CDU/CSU & SPD angeführt wird. Was nützt es, von „Rot-rot-grün“ zu träumen! Selbst noch wenn der diesmalige SPD-Kanzlerkandidat ganz offen sagt, sein Wahlziel sei eine große Koalition unter seiner statt Merkels Stabführung! In Deutschland spielen „die Linken“ dieses Spiel immer noch mit (ich meine nicht nur die Partei dieses Namens), obwohl ihnen doch die Spanier gezeigt haben, dass man es nicht tun muss – selbst dann nicht, wenn nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wird. Die neue Partei Podemos hat die dortigen „Sozialisten“ entzaubern können. In Spanien geht der Kampf schon darum, ob die „Sozialisten“ ihren Namen wieder verdienen und mit Podemos zusammen regieren.

Wenn man den Politikwechsel will, ist das der Weg, der in Staaten eingeschlagen werden muss, in denen nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wird. Und dieses Wahlrecht ist besser als das andere. Das Mehrheitswahlrecht erlaubt zwar schnellere Umschwünge, dafür ist aber auch die Gefahr größer, dass in die falsche Richtung umgeschwenkt wird. Der vorbildliche spanische Weg besteht darin, dass eine mächtige Idee, geboren aus der Krise, den Anfang macht und sich zur Bewegung, dann auch parteilich verkörpert und die neue Partei die Hegemonie erlangt, ohne von ihrem Anfangsimpuls abzulassen. Das dauert zwar etwas länger, geht aber doch schnell genug unter Krisenbedingungen. Was in Deutschland noch fehlt, ist die mächtige Idee.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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