Was der Mensch ist

Menschenrechte Jürgen Habermas spricht über die Verrechtlichung der Menschenwürde, erörtert die Frage nach deren Durchsetzbarkeit und geht in überraschende ­Distanz zu Kant

„Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte“: Der Vortrag, den Jürgen Habermas am 17. Juni auf dem Frankfurter Kongress Human Rights Today: Foundations and Politics hielt, wurde im Juli von der Deutschen Zeitschrift für Philosophie und im August, unter dem Titel Das utopische Gefälle, von den Blättern für deutsche und internationale Politik veröffentlicht. Damit ein noch breiteres Publikum sie zur Kenntnis nehmen kann, werden die sehr grundsätzlichen Überlegungen hier referiert.

Habermas entfaltet vor allem seine These, dass Menschenrechte die Spezifizierung und Verrechtlichung von „Menschenwürde“ seien, eines Begriffs, den lange nur Philosophen gebrauchten, bevor er in jüngster Zeit – genau genommen seit dem Zweiten Weltkrieg – auch selbst kodifiziert wurde. Am Ende erörtert der Vortrag auch die Frage der Durchsetzung von Menschenrechten in der internationalen Politik.

Laut Habermas sind Menschenrechte zwar lange Zeit ohne ausdrücklichen Rekurs auf Menschenwürde proklamiert worden, diese hat ihnen aber immer schon implizit zugrunde gelegen. Die Berufung auf Rechte hat nämlich „von der Empörung der Beleidigten über die Verletzung ihrer menschlichen Würde“ gezehrt. Der Frage, weshalb die „Würde“ selbst erst nach dem Zweiten Weltkrieg verrechtlicht wurde, zum Beispiel im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 1, geht Habermas nicht weiter nach, sie beantwortet sich aber leicht aus der Konfrontation mit dem Menschenbild der NS-Diktatur. Gegen dieses wurde das auf Kant zurückgehende Menschenwürdekonzept gesetzt: Nie dürfen Menschen zum bloßen Mittel für Zwecke gemacht werden, da sie ihren Zweck in sich selbst tragen. Tatsachlich hat sich das Bundesverfassungsgericht eben hierauf berufen, als es das Gesetz kassierte, das den Abschuss von Passagierflugzeugen unter Terroristenkommando erlaubt hätte.

Der historische Verlauf war, dass zuerst einzelne Menschenrechte erkämpft wurden, dann ihre Begründung im Menschenwürde-Konzept erfolgte und man seitdem aus diesem mit Bewusstsein weitere Menschenrechte ableitet. Die Allgemeinheit des Konzepts begünstigt nicht nur die „Entdeckung“ neuer Rechte, sondern auch die logische Sortierung aller Rechte. Sie muss geleistet werden, weil Menschenrechte „unteilbar“ sind; denn man kann nicht eine Sorte von Rechten, etwa „Wirtschaftsfreiheiten“ der Unternehmer, gewähren und andere, etwa das Recht zur Gewerkschaftsgründung, zurückhalten.

Menschenrechte sind unteilbar

Die vier Kategorien von Rechten, liberale Freiheitsrechte, demokratische Teilnahmerechte, soziale und kulturelle Rechte, müssen „gleichmäßig zusammenwirken“. Dieser „logische Zusammenhang“ läuft aber auf das Recht hinaus, im menschenrechtskonformen Verfassungsstaat zu leben: einer Ordnung, von der die Rechte zusammenhängend verwirklicht und geschützt werden.

Dass wir es überhaupt mit einem historischen Verlauf zu tun haben, hängt mit dem normativen, moralischen Charakter zusammen, den „Menschenwürde“ auch da nicht verliert, wo sie schon selber geltendes Recht geworden ist. Daraus, dass die volle Verwirklichung der Norm noch aussteht, ergibt sich das „utopische Gefälle“. Der Begriff der Menschenrechte, führt Habermas aus, verdankt sich einer „unwahrscheinlichen Synthese“ von Recht und Moral, wobei Menschenwürde das „begriffliche Scharnier“ war. Dies Scharnier ist zunächst nicht aus der Verallgemeinerung von Menschenrechten, sondern aus der ganz anderen Verallgemeinerung der Würden, die man Amtsträgern zuschrieb, hervorgegangen. Die Würde, die vormals nur Einzelnen zukam, hatte nach den demokratischen Revolutionen jeder Mensch. Und darin ist schon impliziert, dass sie verfassungsrechtlich verankert werden muss, wie es die Ämter ja auch waren.

Habermas befasst sich nun mit der Genealogie des Begriffs „Menschenwürde“. Er erhält bei Kant einen ganz anderen Charakter, als er ihn in der Antike hatte. Bei Cicero ergibt sich die Würde des Menschen aus seiner Stellung im Kosmos, die ihn über die „niederen“ Lebewesen erhebt. Im Mittelalter wurde die Unvertretbarkeit der Person vor dem Jüngsten Gericht betont.

Schließlich proklamierten bürgerliche Philosophen die „Fähigkeit der Person zur vernünftigen Selbstgesetzgebung“. So stellt sich unser heutiger Begriff von Menschenwürde als Kumulation der Ergebnisse einer jahrtausendelangen Debatte dar, über die Frage, was der Mensch sei. Was es dann bedeutet, dass die ciceronische Bestimmung noch bei Kant und Schiller nachwirkt – Menschenwürde verlangt Beherrschung der eigenen Natur, vielleicht der Natur überhaupt –, wird von Habermas leider nicht erörtert.

Am Ende distanziert er sich überraschend von Kant, der doch der Startpunkt seiner Argumentation gewesen ist. Der Mensch darf nicht zum Mittel erniedrigt werden, er muss als Zweck seiner selbst geachtet werden: Dies falle bei Kant „mit einer intelligiblen Freiheit jenseits von Raum und Zeit zusammen“, während er, Habermas, darauf beharre, dass Menschenwürde im Verfassungsstaat verankert sein müsse.

Aber nennt Kant nicht das „Reich Gottes“ als Fluchtpunkt einer „praktischen“, durch Handeln zu erreichenden Vernunft? Dann kann man nicht sagen, sie befinde sich „jenseits von Raum und Zeit“. Auf jenes Reich soll vielmehr im Irdischen hingewirkt werden durch neue Gesetzgebung nach dem Kategorischen Imperativ. Was zwischen Habermas und Kant strittig ist, ist daher nicht, ob es Menschenwürde empirisch oder nur als Ideal gibt, sondern ob sie schon da ist oder es nur Anfänge von ihr gibt und sie hauptsächlich im Noch-Nicht verharrt.

Vielleicht muss er sich deshalb von Kant distanzieren, weil der Neigungsgrad seines „utopischen Gefälles“ zu gering ausfällt. Der Mensch soll kein bloßes Mittel für Zwecke sein? Sind es nicht viele Menschen als Lohnarbeiter? Dabei wären so viele Menschen froh, wenn sie einen „Arbeitsplatz“ hätten. An diesem Punkt wäre mit Habermas zu debattieren. Es muss Verfassungsstaaten geben; aber reichen sie schon aus, wenn es darum geht, Menschenwürde zu realisieren?

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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