Weg mit der Angst

Krise der Arbeitsgesellschaft Wo haben sich die Intellektuellen versteckt?

Der Kampf gegen Hartz IV ist noch zu sehr von Angst diktiert. Die Angst ist berechtigt, aber man hatte es auch darauf abgesehen, sie zu erzeugen: Angst ist, wie Oskar Negt sagt, "immer ein guter Kitt bestehender Macht- und Herrschaftsverhältnisse". Wir können sie nicht brechen, wenn wir uns gegen das Angsterregende nur hinhaltend verteidigen, um ihm etwa einen Zahn zu ziehen oder eine Kralle zu verkürzen. "Hartz" ist ja kein Tier, das uns anspringt, kein Stein, der auf uns fällt - keine bloße Tatsache, sondern etwas Fragwürdiges, das nicht sein müsste. Es macht Mut, wenn man sich dagegen mit offensiven Sofortforderungen, aber auch mit grundsätzlichen Analysen und daraus hervorgehenden Alternativen wehrt und sie Montag für Montag zu Gehör bringt. Wo haben sich eigentlich die Intellektuellen dieses Landes versteckt? Ihre Aufgabe wäre es, die Ideologie der Herrschenden grundsätzlich anzugreifen.

Die aktuell wichtige Sofortforderung liegt zwar auch ohne sie auf der Hand, da wir sie aus dem Wahlprogramm abschreiben können, mit dem Rot-Grün 1998 betrügerisch an die Regierung kam: Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe in Form einer bedarfsdeckenden Grundsicherung für alle, statt dass "Hartz" nun den zu niedrigen Sozialhilfesatz fast unverändert lässt und entsprechend die Arbeitslosenhilfe absenkt. Jenes Wahlversprechen hatte aber einen Hintergrund, der immer noch vorhanden ist, auch wenn die Regierung ihn heute einnebelt: die Krise der Arbeitsgesellschaft. Sie zeigt sich darin, dass nicht mehr genug bezahlte Arbeit für alle da ist. Diejenigen, die deshalb in der Arbeitssuche leer ausgehen, mit Armut und Geldentzug zu bestrafen, ist so ungerecht wie unnötig. Das hatten die rot-grünen Wahlkämpfer 1998 erkannt.

Einmal an der Regierung, machten sie aber den Unternehmern so viele Steuergeschenke, dass sie, weit entfernt, eine bedarfsdeckende Grundsicherung finanzieren zu können, den Arbeitslosen jetzt sogar noch Geld abnehmen müssen. Um diesen Zusammenhang zu verstecken, restaurieren sie die Arbeitsgesellschaft - in der Ideologie. Das geht so: Arbeit ist der Wert an sich. Wer nicht arbeitet, hat also eigentlich gar nichts zu verlangen. Nicht von denen, die arbeiten, und nicht von den "Arbeitgebern". Man wird einen solchen Faulpelz nicht direkt verhungern lassen, aber je weniger man ihm gibt und je mehr den "Arbeitgebern", desto leichter macht man es diesen, die Aufgabe zu erfüllen, von der sie den Namen haben. Aber auch das Wenige, das der Faulpelz bekommt, bekommt er nur, wenn er zu arbeiten anfängt. Bevor er sich bequemt, Arbeit von den "Arbeitgebern" zu nehmen, richtet deshalb die Arbeitsbehörde einen Übergangs-Arbeitsplatz für ihn ein. Sie bezahlt den Lohn von einem Euro pro Arbeitsstunde, weniger als im Gefängnis.

Es ist ein Geflecht von Lügen. Sein schon empirisch schwacher Punkt ist der Umstand, dass die "Arbeitgeber" immer weniger Arbeit geben. Würden sie mehr Arbeitsplätze schaffen, wenn man sie nur ließe? Nein, das Problem ist, es sind gar keine "Arbeitgeber". Denn Unternehmer interessieren sich nicht für "Arbeit". Damit sind wir beim theoretisch schwachen Punkt: Arbeit als Wert an sich ist keineswegs das, was sie leitet. Wir wissen doch, was sie tun: Sie erzeugen Produkte teils um des Profits willen, teils weil sie den Zielvorgaben der Naturwissenschaft folgen. Der Profitgesichtspunkt zwingt sie, in der Konkurrenz zu bestehen, also kostengünstig möglichst viel mit möglichst wenig Arbeit produzieren zu lassen. Sie sind insofern eher gegen Arbeit als für sie, auch wenn sie nicht ganz darauf verzichten können. Der naturwissenschaftliche Gesichtspunkt führt dazu, dass die Gesellschaft von den großen, zentralen Produkten - etwa die der Biotechnologie oder der künstlichen Intelligenz - immer wieder überrascht wird, statt sie "nachgefragt" zu haben. Diese Art von Produkten wird zwar nicht mit möglichst wenigen, aber doch mit endlich vielen Arbeitern erstellt, so vielen eben, wie dafür gebraucht werden. Und damit hat es sich. Unternehmer bieten keine Gewähr für Arbeit an sich, sondern nur für profitable und ihnen wichtig scheinende Arbeit.

Das kann man auch so ausdrücken, dass wir in keiner "Arbeitsgesellschaft" leben, sondern lediglich in einer kapitalistischen Gesellschaft, die bestimmte Arbeit selektiv zulässt. Aber warum darf das Kapital definieren, was wichtig und unvermeidlich ist? Warum wird es nicht zum Dienstleister für die gesellschaftliche Nachfrage degradiert? Um so fragen zu können, muss man erst einmal begreifen, dass man es beim Kapital nicht mit "Arbeitgebern" zu tun hat. Eben diesen falschen Schein weckt der Staat, und er tut es heute besonders energisch, weil er rechtfertigen muss, dass er - statt eine bedarfsdeckende Grundsicherung einzurichten - vor den Unternehmern zurückweicht und den Arbeitslosen in die Tasche greift. Da heißt es dann: Ihr arbeitet nicht! Wer nicht arbeitet, soll auch nicht viel Geld haben! Als ob Arbeit in dieser Gesellschaft das Wertvolle wäre. Wenn der Staat künstliche Arbeit schafft und mit einem Euro pro Stunde entlohnt, dann räumt er selbst faktisch ein, dass der Wert einer Arbeit an sich, die weder wichtig noch unvermeidlich ist, gegen Null geht.

Die Teilnehmer und Redner der Montagsdemonstrationen können die Gesellschaft fragen, welche Arbeit sie für wertvoll hält. Das hat nämlich die Gesellschaft zu entscheiden. Sie müsste der Arbeitgeber sein. Und wer an der gesellschaftlich gewollten Arbeit, deren Menge endlich ist, nicht beteiligt werden kann, verdient deshalb keine Armutsstrafe. Ihm steht eine bedarfsdeckende Grundsicherung zu. Dafür, dass über diese Grundzusammenhänge wieder gesprochen wird, brauchen wir Demonstrationen, aber auch das Engagement der Intellektuellen. Wie geistlos ist ein Zustand, in dem praktisch nur Unternehmer gesellschaftliche Leitlinien formulieren? Möglich ist er durch Angst, aber die Angst bringt uns nicht weiter.


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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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