Weiche Pendelbewegungen

Musikfest 2015 Arnold Schönbergs Orchestervariationen gehen nicht jedermann schnell und leicht ins Herz. Das liegt nicht an ihrer Atonalität. Man muss Geduld haben

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Von der freien zur „logischen“ Atonalität

Über die dritte Komposition des Eröffnungskonzerts, bei dem ich immer noch bin, zu schreiben, fällt mir schwer. Der Grund ist so einfach wie nur möglich: Ich finde zu den Orchestervariationen op. 31 von Arnold Schönberg keinen rechten Zugang. Dabei kenne ich sie längst ziemlich gut, denn immer wieder habe ich mich um den Zugang bemüht. Und übrigens finde ich das nicht ehrenrührig, dass es manchmal Jahrzehnte dauert, bis sich einem eine bestimmte Kunst erschließt. So ist es mir mit Dante, so mit Jean Paul ergangen. Ob die Orchestervariationen auch von der Art sind? Haben sie einen Gehalt, für den sich meine Ohren nur noch nicht öffnen konnten? Keine Ahnung.

Daran, dass dies Orchesterwerk nach der „Methode des Komponierens mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“, kurz der Zwölfton-Technik verfasst ist, liegt es ganz sicher nicht. („Zwölfton-Technik“ ist ein problematischer Ausdruck, der sich aber durchgesetzt hat und hier nur zur Abkürzung der anderen ausführlicheren und sehr präzisen Wendung, die von Schönberg selber stammt, dienen soll.) Denn es gibt andere so verfasste Kompositionen, die mir ins Herz gehen, wie besonders das Streichtrio op. 45 und die Streichquartette Nr. 3 und 4 – von denen ich noch berichten werde; das 4. Quartett wurde am vorigen Samstag aufgeführt, die beiden anderen Werke folgen in den nächsten Tagen -, ebenso auch das Violinkonzert op. 36 und das Klavierkonzert op. 42. Ja, es liegt nahe, zum Streichtrio, das mich am meisten beeindruckt, hier schon etwas zu sagen, weil es sich gut an meinen vorigen Bericht über die Fünf Stücke für Orchester op. 16 anschließt. Was hat Schönberg denn überhaupt veranlasst, vom „frei atonalen“ Komponieren, mit dem er da einen Höhepunkt erreichte, zur Zwölfton-Technik etwa der Orchestervariationen überzuwechseln? Manuel Gervinks Erklärung leuchtet ein: Schönberg habe darunter gelitten, dass seine frei atonalen Werke nicht nachweisbar „logisch“ komponiert waren (Arnold Schönberg und seine Zeit, Laaber 2000, S. 251 ff.).

Er habe deshalb eine Methode entwickelt, die es ihm ermöglichen sollte, gerade so weiterzukomponieren wie in den frei atonalen Werken, nur dass die nachgewiesene Logik noch hinzukam. Und zwar so, dass von einer musikalischen Gestalt, wie sie Schönberg vorschwebte, die Struktur abgezogenen und diese allem zugrunde gelegt wurde, was im ganzen Werk noch folgte (oder auch vorausging). Diese Erklärung kann besonders am Streichtrio nachvollzogen werden, denn wie es mit einer quälenden Anfangsgestalt schon beginnt, meint man ihn der Tat, etwas wie die Fortsetzung der Fünf Stücke zu hören. Die Orchestervariationen ähneln ihnen aber gar nicht.

Musikalische Konsequenz

Ich bleibe einen Moment bei Schönbergs Übergang von der freien Atonalität zur Zwölfton-Technik. Bemerkenswert daran ist, dass er auch schon etwa zu den Fünf Stücken erklärt hatte, ein Zwang habe ihn getrieben, gerade so zu komponieren und nicht anders. Wie er ja irgendwo schreibt, Kunst komme „nicht von Können, sondern von Müssen“. Und doch findet er später, die „Logik“ habe noch gefehlt. Von der Logik pflegt man ebenfalls zu sagen, ihr eigne ein Zwang. Schönberg hat aber anscheinend nicht versucht, schon die Abfolge der musikalischen Gestalten in den frei atonalen Werken als notwendig zu begreifen, das heißt als nicht nur psychologisch notwendig, und so zu erweisen. Klar, das wäre auch schwer gefallen. Denn „notwendige Abfolge“ und „Logik“ gelten weithin als synonym, und dass etwa die Fünf Stücke nicht „logisch“ sind, kann kaum bestritten werden. Logisch im Sinn von Formallogik waren freilich auch tonale Kompositionen nie. Wäre es nicht doch möglich gewesen, schon ihn ihnen ein Prinzip des Übergangs zu finden, das nicht formallogisch und doch k o n s e q u e n t war und das sich abgewandelt, vielleicht radikalisiert, in den Fünf Stücken hätte wiederfinden lassen?

Doch Schönberg war die Unlogik vorgeworfen worden, und darauf glaubte er reagieren zu müssen. Man versteht das sehr gut, wenn man sich etwa dieses Presseberichts zur Uraufführung der Drei Klavierstücke op. 11 erinnert, deren drittes frei atonal komponiert war: „Es gibt in der Tat Musiker, welche die Schönbergsche Musik für Schwindel, für eine Düpierung der Snobs halten, und wer jetzt seine drei Klavierstücke gehört hat, fühlt sich versucht, einer solchen Annahme lebhaft beizustimmen. Man hatte wirklich den Eindruck, dass jedermann, der ein schweres Klavierstück im halbdunklen Zimmer a prima vista spielt, seinen Hörern aus dem Stegreif ähnliche Genüsse bereiten kann, wie sie uns hier als Früchte einer jahrelangen Entwicklung dargeboten werden. [...] Und eine dunkle Frage schwebte wohl allen Besuchern auf den Lippen: wie es nur möglich ist, dass der Autor dieser Gesänge“, gemeint sind die Gurrelieder, die der Rezensent zuvor gelobt hatte, „in das eitle Ohrengeschinder seiner Klavierstücke und in die stillverzückte Pose seiner Georgiaden“, das heißt der teilweise ebenfalls schon frei atonalen (Stefan) George-Lieder op. 15, „geraten konnte. – Je nun, man sagt, dass Perversitäten oft aus der Nichtbefriedigung normaler Triebe hervorgehen.“ Und so weiter. (zitiert bei Willi Reich, Arnold Schönberg oder der konservative Revolutionär, Wien Frankfurt Zürich 1968, S. 72 f.)

Wenn man sich aber vorstellt, der frei atonalen Kompositionsweise brauchten einfach nur „logische“ Stangen eingezogen zu werden und dadurch seien dann Produkte entstanden, die sich dem musikalischen Gehalt nach von Werken wie den Fünf Stücken gar nicht unterschieden, nur dass sie eben zusätzlich den Selbstbeweis, kein Schwindel zu sein, enthielten, wäre das natürlich eine Täuschung. Schönberg hat sich ihr sicher nicht hingegeben, und man muss auch sagen, dass er durch die Erfindung der Zwölfton-Technik Möglichkeiten dazugewonnen hat, die nicht anders als positiv bewertet werden können. Dazu noch einmal der Hinweis aufs Streichtrio: Es fängt mit einer Gestalt an, die erschreckend ist wie welche in den Fünf Stücken, in der Folge jedoch gibt es längere Phasen der Ruhe, die zur Analyse des Erschreckenden genutzt werden. Die Komposition setzt also ein, wie sie „musste“, und sucht sich dann selbst zu verstehen. Das war in der Phase der freien Atonalität nicht möglich gewesen. Später ruft sich dann wieder das Erschreckende in Erinnerung, variiert und von Neuem unmittelbar.

Die Sache hat aber noch eine andere Seite. Man muss doch sagen, Schönberg ist zurückgewichen in dem negativ zu bewertenden Sinn, dass er die Radikalität der frei-atonalen Kompositionsweise nicht aufrechterhalten konnte. Denn an der F r e i h e i t war ihm doch gelegen gewesen und diese ist nun eingeschränkt. Sie ist zwar nur eingeschränkt. Wenn die Zwölfton-Technik vorschreibt, eine Tonhöhe dürfe erst wieder erklingen, wenn vorher alle anderen Tonhöhen erklungen seien, so ist das keine starke Fessel. Man kann zum Beispiel einen Akkord setzen, der alle zwölf Tonhöhen enthält, dann steht es völlig frei, wann eine von ihnen wiederholt wird. Und wie man die Rhythmen, die Farben, die Abfolge der Gestalten und deren Verteilung auf Linie und Akkord setzt, all das bleibt dem Willen des Komponisten überlassen.

Aber erstens, man hört der Musik den logischen Zwang doch an. Es ist wirklich von Logik im Wortsinn zu sprechen, denn wenn erst die „Reihe“ von Tonhöhen festgelegt ist, wird sich jedes musikalische Ereignis, das dem Kompositeur nur immer einfallen will, aus ihr ableiten lassen nach der Regel des logischen Grundgesetzes „aus p oder q folgt p“, wie genauso gut q hätte folgen können, aber nicht folgte. Und zweitens, der Zwang wird ja stärker. Drei Jahrzehnte nach der Erfindung der Zwölfton-Technik wird jemand wie Pierre Boulez Schönbergs „Inkonsequenz“ behaupten, denn nicht nur die Folge der Tonhöhen, sondern auch die der Rhythmen und aller anderen „Parameter“ müsse vorab festgelegt sein. Selbst wenn sie es gewollt hätten, konnten Boulez und seine Weggefährten in der Art von Schönbergs Fünf Stücken nicht mehr komponieren. Dieser Weg war erst einmal verbaut! Er wurde erst später erneut beschritten. So hatte Schönbergs Hinwendung zur „Logik“ schwerwiegende Folgen. Übrigens will ich damit, so kompliziert ist die Angelegenheit, nicht etwa Boulez‘ Kompositionsweise herabsetzen, die von ganz anderen Motiven mitbestimmt wird als denen, die Schönbergs Entscheidung zugrunde lagen, und zu ganz anderen musikalischen Effekten führte (für Näheres vgl. meine Berichte zum Musikfest 2010).

Was liegt denn am frei-atonalen Kompositionsweg? Vielleicht dies, dass eine andere Art K o n s e q u e n t sein, nicht die logisch ableitende, sondern die des A n t w o r t e n s auf F r a g e n , in ihnen zum Vorschein gekommen ist. Um das so sagen zu können, müsste aber erst einmal klar sein, dass das Fragen-Antworten etwas anderes ist als, im besten Fall, eine bloße Abart der Formallogik, was selbst in der vorhandenen „Wissenschaftslogik“ nicht eingesehen wird – ich setze dies Wort in Gänsefüße, weil natürlich gerade auch in der Wissenschaft nicht bloß formallogisch abgeleitet, sondern gefragt und geantwortet wird -, und dann müsste noch herausgearbeitet werden, was i n d e r M u s i k als strikt konsequentes Antworten oder Fragen soll gelten können.

Das Leben war so leicht

Doch zurück zu den Orchestervariationen. Ich zitiere einen Hörer, dem die Musik ins Herz gegangen ist, anders als mir: „Die Introduktion der Orchestervariationen gehört vermutlich zu den stärksten Eingebungen Schönbergs. Sie ist ein Musterbeispiel für seinen duftigen Instrumentationsstil [...]. Die ersten Takte zählen zum Feinsinnigsten in Schönbergs Oevre: Sanft insistierende Tonrepetitionen [...]“ (die Vervielfachung einer Tonhöhe an Ort und Stelle wird von der Zwölfton-Technik wie ein dort durchgezogener Ton behandelt und ist daher erlaubt), „weiche Pendelbewegungen der Holzbläser gesellen sich hinzu. [...] Eine beruhigende Passage leitet zum Thema über, das in romantischer Manier als großer, schlicht harmonisierter Cellogesang vorgestellt wird.“ Zu ersten Variation: „Die hohen Streicher exponieren [...] die hüpfend rhythmischen Figuren, die der Variation ihre hektische Agilität verleihen.“ Und so fort. (Wilhelm Sinkovicz, Mehr als zwölf Töne. Arnold Schönberg, Wien 1998, S. 214 f.) Es mag an mir liegen, dass das „Duftige“, „Sanfte“, „Weiche“ und, kurzum, „Beruhigende“ bei mir nicht ankommt. Ich könnte das den Bildern von Hokusai zusprechen, die mich erfreuen, Schönbergs Orchestervariationen aber finde ich schon deshalb nicht beruhigend, weil ich sie auch nicht, wie die Fünf Stücke oder das spätere Streichtrio, beunruhigend finde.

Ich habe es mit dem Zugang versucht, das Werk in Analogie zum Anfang des Klavierkonzerts aufzufassen, dem Schönberg eine literarische Erklärung beigibt: „Das Leben war so leicht.“ Später dann: „Plötzlich brach Hass aus.“ (zitiert etwa bei Sinkowicz, S. 293) Aber auch hier verhält es sich so, dass mir das „Leichte“ nur zu Herzen geht, weil später der „Hass“ kommt und im hörbaren Kontrast dazu steht, während mir die Orchestervariationen in diesem Sinn überall „leicht“ erscheinen und deshalb nirgends. Was geht in ihnen nur vor? Noch eine letzte Erklärung, mit der ich es versucht habe: Waren Schönbergs Gefühle so sehr vom Schrecklichen geschlagen, dass daneben manchmal nur noch Gefühlstaubheit als Alternative übrig blieb?

Eines freilich ist sehr klar: dass er sich mit diesem Werk in die Tradition Johann Sebastian Bachs stellt. Die Tonhöhenfolge B-A-C-H wird schon in der Einleitung zitiert – ich sage „zitiert“, weil schon Bach selbst sie benutzt hat, als Fugenthema im letzten Stück seines letzten Werks, der Kunst der Fuge – und sie bestimmt das ganze Finale, das fast ebenso lang ist wie alle vorausgegangenen Variationen. Das ist natürlich sehr interessant, wie diese Tonhöhenfolge jetzt einfach zum Beispiel des möglichen Teilstücks einer atonalen „Reihe“ geworden ist und mit ebenfalls atonalen Gestalten zusammenklingt - wie ein Cantus firmus gelegentlich -, während sie bei Bach natürlich immer tonal interpretiert wird als Linie, die tonale Akkorde miteinander verbindet. Dies hat aber, da es immerhin eine chromatische Linie ist, zur Konsequenz, dass in die Folge der Akkorde etwas Schmerzhaftes kommt. Schönbergs Orchestervariationen wirken damit verglichen nur „akademisch“ auf mich.

Nun, vielleicht habe ich gerade damit gesagt, dass es an mir liegt. Denn Bachs Kunst der Fuge war ganz sicher akademisch g e m e i n t – sie sollte demonstrieren, dass Musik genauso axiomatisch aufgebaut sein konnte, wie es die mathematisierte Wissenschaft geworden war (vgl. Arno Forchert, Johann Sebastian Bach und seine Zeit, Laaber 2002, S. 175) – und auch an sie musste man sich (deshalb?) erst gewöhnen.

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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