Weil wir eine bessere Welt wollten

Musikfest 2019 Der niederländische Komponist Louis Andriessen hat in jüngeren Jahren die Institution des Orchesters bekämpft, jetzt versteht er Radikalität anders

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Der niederländische Komponist Louis Andriessen
Der niederländische Komponist Louis Andriessen

Foto: Rob Croes/Anefo/Wikimedia [CC0]

Das diesjährige Berliner Musikfest (30.8. bis 19.9.2019) wurde am Samstag eröffnet, begann aber eigentlich schon am Freitag mit einer bemerkenswerten „Langen Nacht in der Philharmonie“, einem ersten Höhepunkt bereits. Pierre-Laurent Aimard spielte den Cataloge d’Oiseaux, „Katalog der Vögel“ für Klavier (1956-58) von Olivier Messiaen, sicher ein Hauptwerk dieses Komponisten - der als musikalisches Mittelglied zwischen Claude Debussy und Pierre Boulez gelten kann -, zugleich aber ein vorbereitendes Werk auf dem Weg zu seiner großen Oper Saint François d’Assise (1958), in der er ja unter anderm die Vogelpredigt des heiligen Franziskus verarbeitet. Ich habe über diesen Abend in der Musikkolumne der Printausgabe geschrieben, es ist ab Donnerstag dort zu lesen (und irgendwann später auch online).

Ein Schwerpunkt des Musikfests ist Hector Berlioz, gleich zur Eröffnung wurde seine Opéra comique Benvenuto Cellini (1834-38) szenisch aufgeführt. Von ihm ausgehend – da man in seiner Schrift Grand Traité d’instumentation et d’orchestration modernes (1842) „eine wirkmächtige Gründungsschrift des modernen Orchesters“ und darüber hinaus „eine Vision“ sieht, „die die Verfügbarkeit einer unendlichen Klangfarbenvielfalt des heutigen elektronisch-digitalen Zeitalters antizipiert“ – wird „eine Reise in Schlaglichtern durch die Musik der französischen und europäischen Moderne“ unternommen, Strauss und Honegger, Varèse und Messiaen, Xenakis, Grisey und Eötvös, aber auch Olga Neuwirth und der Niederländer Louis Andriessen, auf den ich unten zu sprechen komme, können angehört werden. Der absolute Höhepunkt jedenfalls in meinen Augen wird die Aufführung des Stummfilms La Roue (1923) von Abel Gance in seiner restaurierten siebenstündigen Fassung am Samstag, den 14.9., mit der von Honegger zusammengestellten Orchesterbegleitmusik sein. Das ist nicht alles, aber ich belasse es bei diesen Ankündigungen.

Meine eigene Rezeption wird sich wie immer auf Weniges beschränken müssen. Ganz sicher werde ich über jenen Stummfilm schreiben, sonst will ich hier nur auf den kommenden Freitag, meinen nächsten Besuch, hinweisen, an dem Aimard zum zweiten Mal auftritt, dann mit Beethovens Hammerklaviersonate (1817/18) und Lachenmanns Serynade (1997/98). Ich kenne auch das letztere Stück ganz gut und freue mich, es wieder einmal im Konzertsaal zu hören, vor allem interessiert mich aber diesmal Beethovens Sonate, die ich vielleicht mit neuen Ohren hören werde. Vor zwei Wochen schrieb ich über Kirill Petrenkos Antrittskonzert bei den Berliner Philharmonikern. Er dirigierte Beethovens Neunte und ich hatte Anlass, deren Charakter als einer Art Beethovenscher Selbstkritik hervorzuheben: Der Komponist versucht am Ende seines Lebens, sein an der Figur des Durchbruchs orientiertes musikalisches Revolutionsbild zu revidieren. Ein Hinweis in der Literatur behauptet, das sei Inhalt nicht nur der Neunten, sondern auch der Hammerklaviersonate, und in dieser Perspektive habe ich sie bisher noch nicht gesehen.

Heute will ich über den gestrigen Abend berichten, wo neben Tschaikowsky der genannte Andriessen zur Aufführung kam. Das ist ein interessanter Musiker, von dem ich nie gehört hatte. 1939 geboren, gilt er als der berühmteste Komponist der Niederlande. In den 1968er Jahren war er ein Rebell gewesen, hatte sich aufgelehnt gegen das Orchester als Institution, ähnlich wie zur selben Zeit Boulez gegen das Opernhaus. Sowohl das Repertoire als auch das Klangideal des Orchesters lehnte er ab. Bezeichnend seine Orchesterkomposition von 1970, die er damals als seine letzte aufführen ließ: Die neun Symphonien von Beethoven für Orchester und Klingel eines Eis-Verkäufers. 1982 ließ er sich doch noch einmal überreden, zu De Snellheid (Die Geschwindigkeit), veränderte aber beträchtlich den Orchesterklang durch Bassgitarre, Hammondorgel, Keybords, elektrische Verstärker. Ansonsten komponierte er nun für Ensembles, orientierte sich damit an den amerikanischen Minimalisten. Im Klangbild dominierten Bläser und Jazzinstrumente. 1975 komponierte er Workers Union, einen „Symphonischen Satz für eine beliebige Gruppe laut klingender Instrumente“ für eine Gruppe, die bei Straßenkonzerten auftrat. „Andriessen war der kreative Kopf einer Bewegung, die in den Niederlanden breite Resonanz fand und als Anstoß für die Gründung zahlreicher Ensembles in Europa wirksam wurde“, schreibt Martin Wilkenings, aus dessen Konzertheftbeitrag ich die vorstehenden Informationen entnommen habe.

Noch in dem Musiktheaterwerk De Materie (1985-88) bleibt es bei der Ensemble-Besetzung, erstmals aber greift er nun auf die mittelalterliche Mystik zurück und es werden neben biografischen und philosophischen auch religiöse Texte vertont. Auf dieselbe Mystik rekurrieren auch seine Mysterien, die wieder eine Komposition für Orchester sind, aus dem Jahr 2013. Sie kamen gestern zur deutschen Erstaufführung. Zu Grunde liegt das berühmte Buch De imitatione Christi von Thomas von Kempen, einem Mönch, der in einem Kloster nahe Utrecht lebte. Es wird allerdings nicht vertont, wir hören nichts als Orchesterklang, nur dass die sechs Stücke, aus denen die gut halbstündige Komposition besteht, bezeichnende Titel tragen: „Von (...) der Verachtung aller Eitelkeiten der Welt“ heißt zum Beispiel das erste, „Von der Meditation über den Tod“ das letzte, wenn man sie ins Deutsche übersetzt. Wilkening schreibt, hier würden „lediglich Themen des frommen Buches auf“gegriffen, „die sich auch säkular entwickeln lassen, moralisch, gesellschaftlich, politisch“, und das lassen sie sich tatsächlich, wie er denn von Andriessen die Sätze zitieren kann: „Heute betrachte ich Religion, Kunst und Philosophie als Ideen, die im kreativen Geist der Menschheit gären. Auch die Politik spielt dabei eine Rolle. Als wir auf die Straße gingen und gegen den Krieg in Vietnam demonstrierten, war das, weil wir eine bessere Welt wollten.“ Dennoch liegt in dem Wort „lediglich“, das er benutzt, eine Verkennung, denn wenn man die Mysterien hört, drängt sich der vor allem religiöse Gehalt des Werkes geradezu übermächtig auf.

Ich war äußerst beeindruckt von ihm, und nicht am wenigsten davon, dass eine Musik komponiert werden kann, deren Religiosität sich aufdrängt, ohne dass Worte gebraucht werden müssen. Denn selbst wenn diese Stücke keine Titel hätten, würde man es hören. Das zweite Stück zum Beispiel, überschrieben „Von der Betrachtung des Elends der Menschheit“, scheint an den Gestus von Strawinskys Apollon musagète (1928/47) anzuknüpfen und nimmt auch dessen katastrophisches Seitenstück mit demselben Gestus, Orpheus (1948), in sich auf; an diese sehr einfache, unpreziös-vornehme, „klassische“ oder klassizistische Feierlichkeit, die sich selbst nur andeutet, ja hinter einem Schleier von Natürlichkeit verbirgt – und so verbirgt sich noch Orpheus im Schmerz seines Zerrissenwerdens –, erinnert Andriessen, aber mit gegeneinander sich verschiebenden Klangflächen, die laut und äußerst dissonant sind. Wobei die Dissonanz einen „mitnimmt“, weil sie letztendlich noch tonal empfunden ist. Dass in dieser so harten wie lauten Klage immer noch die Ruhe der Strawinsky-Werke liegt, ist das Bemerkenswerte, so dass Wilkening mit Recht von dem Stück schreiben kann, es handle vom „Standhalten“ im Elend und in der Verzweiflung. Das schönste Stück ist sicher das vierte, „Von den Prüfungen eines wahren Liebhabers“: Ein Streichersatz, der einen noch mehr berühren könnte, ist nicht vorstellbar, doch erschrickt man auch und das Furchtbare lässt nicht auf sich warten. Wir erfahren, dass Andriessen in den „seltsamen spätromantischen Überblendungen“ dieses Stücks „ein Lied seines Vaters, der ebenfalls Komponist war“, zitiert hat; der Vater hatte ihm durch Liedvertonungen das Buch des Mönchs zugänglich gemacht.

Auch morgen und übermorgen Abend sind Werke von Andriessen zu hören.

Die zweite Komposition des Abends war Peter Tschaikowskys Erste Symphonie g-moll op. 13 (1866), die den Titel „Winterträume“ trägt. Sie gilt als mehr oder weniger erste russische Symphonie überhaupt und so hatte sich Tschaikowsky, nicht anders als Brahms zur selben Zeit, mit Beethovens übermächtigem Schatten auseinanderzusetzen. Auch in dieser Symphonie soll irgendwie das per aspera ad astra von Beethovens Neunter herauszuhören sein, so liest man. Zugleich aber ein Russisches, das sich als solches zu Gehör bringen will. Ich hörte das Werk zum ersten Mal und fand es im Ganzen nur historisch interessant. Die erste Hälfte des Schlusssatzes ist ziemlich mitreißend, da fühlt man fast schon den Anfangssatz von Carl Nielsens Dritter voraus, der für mich der Inbegriff einer Musik ist, die über „Freude“ nicht nur philosophisch räsoniert, sondern von ihr wirklich erfüllt ist. Aber sonst muss man warten, bis „das Russische“ in Tschaikowskys entfalteter Kunst hervortritt, will sagen in der Vierten, Fünften, Sechsten. Nur ein Schatten davon fällt auf die Erste zurück. Ich denke, das ist die Kunst, einen symphonischen Satz aus musikalischen Bildern zusammenzusetzen, die sich gleichsam durch den Lichteinfall und die Großwetterlage unterscheiden; die tradierten Satzregeln werden nebenbei miterledigt, es fällt nicht weiter auf. Ich bin von Tschaikowsky sehr eingenommen, seit ich seine Spätopern kennengelernt habe. Aber davon ein andermal.

Es spielte das Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam unter Tugan Sokhiev. Es zu hören mit seinem präzisen Klang, der sich aus Emotion und Nüchternheit unverwechselbar zusammensetzt, ist immer eine Freude. Und auch Sokhiev sieht man gern wieder. Zum Beispiel dirigiert er mitreißend eine Inszenierung der Liebe zu den drei Orangen von Prokofiev, die ich sehr schätze. Weiter geht’s am Samstag mit der Hammerklaviersonate.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden