Wem wird geholfen? Hans-Werner Sinn rechnet vor (Tagebuch der Krise)

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Es ist eigentlich kein "Ereignis", das man berichten oder kommentieren müsste, wenn ein Professor, und sei es Hans-Werner Sinn, der Präsident des Münchener Ifo-Instituts, einer Zeitung ein Interview gibt. Was der Ökonom am heutigen Samstag auf einer ganzen FAZ-Seite kund und zu wissen gibt, ist aber doch des Aufhebens wert. Schon einmal deshalb, weil er in klaren Worten bestätigt, was bisher nur von Leuten behauptet wurde, die man als linke Spinner abtun konnte. Das barmherzige Rettungsgebaren von Gläubigern Griechenland gegenüber, diese Jesus Christus-Attitüde, zu der, warum nicht, immer auch ein Schuss Warnung vor höllischen Strafen gehörte, beschreibt er mit den Worten: "Sie sagen: Wenn ihr Griechenland nicht rettet, bricht die Welt zusammen. In Wahrheit bricht ihr Vermögensportfolio zusammen, nicht die Welt."

Dass er da nur von "den Gläubigern an der Wall Street, in London und Paris" spricht, als wären nicht auch Deutsche beteiligt, lassen wir mal beiseite. Hans-Werner Sinn ist tatsächlich kein Mann, mit dem man sich als Linker verbünden möchte. Vieles von dem, was er sagt, wird man nicht unterschreiben. So ist es eine Konstante in all seinen Büchern und Interviews, auch diesem hier wieder, dass er es es ganz normal findet oder fände, wenn in einer Volkswirtschaft, damit sie auf dem Weltmarkt konkurrenzfähiger wird, Löhne stärker gesenkt werden, als es wegen der ärgerlichen Existenz von Gewerkschaften tatsächlich geschieht. Das ist nun mal sein Standpunkt, er ist ein Marktradikaler. Indessen ist das Schauspiel, das derzeit in Europa abläuft, keine Epiphanie von Marktradikalismus. Es ist etwas ganz anderes. Und dazu hat der auf seine Art kundige Mann etwas zu sagen.

Ginge es wirklich darum, Griechenland zu retten, was wäre dann zu tun? Antwort: Das neuerliche Hilfspaket von 130 Milliarden, die dorthin demnächst fließen, ist an sich eine gute Sache. Es rettet im geltenden Konstruktionsrahmen aber allenfalls außergriechische Gläubiger - als "eine weitere Hilfe für die Kapitalanleger, die so noch mal einen Teil ihrer Staatspapiere loswerden" -; nein, man müsste es anders einsetzen. Griechenland müsste aus dem Euroraum austreten. Es könnte dann die wieder eigene Währung abwerten. Damit würden auch die griechischen Bankschulden abgewertet. Die Außenschulden könnten in Drachmenschulden verwandelt werden, wodurch sie auf Kosten der ausländischen Gläubiger reduziert wären. Natürlich hätte der Austritt auch stark negative Auswirkungen für Griechenland. So würde es extrem schwierig, auf dem Kapitalmarkt Kredite zu erträglichen Zinsen zu erhalten. Aber nun gibt es ja das Hilfspaket! 130 Milliarden Euro wären in der Tat eine gute Starthilfe.

Spaß beiseite: Die stärkeren EU-Länder denken gar nicht daran, dem Land etwas zu geben, das den Namen "Hilfspaket" wirklich verdiente. Sie wollen nehmen, nicht geben. Dadurch ruinieren sie das Land, und auch das sagt der Ökonom deutlich: Die "Griechen [...] haben keine Chance, im Euroraum wettbewerbsfähig zu werden. Sie müssten 31 Prozent mit ihren Preisen runter, um auf das türkische Niveau zu kommen." Will sagen, entsprechend stark müssten die griechischen Löhne gedrückt werden. Aber "wenn man Griechenland zumutet, durch ein Sparprogramm die Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen, wird das Land zerbrechen." Das sieht der Marktradikale immerhin. In früheren Zeiten wäre in so einer Lage ganz einfach eine Militärdiktatur errichtet worden. In noch früheren Zeiten hätten die Gläubiger Kanonenboote entsenden lassen. Aber das geht heute nicht mehr so leicht. " Da können die Politiker Europas zehn Mal etwas anderes sagen. Bestimmte Dinge sind ökonomisch nicht möglich."

Sinn rechnet vor, welche genau drei Möglichkeiten es gibt: erstens, das unendliche Fortlaufen der Kreditierung, um Griechenlands Leistungsbilanzdefizit von 10 Prozent zu stopfen, das sich aus dem genannten Grund nie verringern, sondern das nur anwachsen kann; zweitens, den Austritt aus der Eurozone mit darauf folgender Währungsabwertung; drittens, "Griechenland wird im Euro entsprechend billiger", um 31 Prozent eben, was in den Außenbeziehungen denselben Effekt wie die Währungsabwertung hätte, inländisch aber "die Gewerkschaften auf die Barrikaden [bringt]".

Das Target-System

So bestätigt also dieser Mann unsere schlimmsten Verdächtigungen. Aber er tut mehr, denn was unsere Befürchtungen angeht, die sind gar nichts gegen das, was e r befürchtet. Er macht darauf aufmerksam, welche Folgen es für Deutschland hätte, wenn die Eurozone zusammenbrechen würde: Die Bundesbank würde 500 Milliarden Euro verlieren, mehr als das Dreifache ihres Eigenkapitals. Um dafür aufzukommen, müssten die Steuern entsprechend erhöht werden. Natürlich wird jede Bundesregierung versuchen, das Eintreten dieses Falls zu verhindern. Wenn Griechenland aus der Eurozone austräte, so sagt man sich, wäre ein Dominoeffekt möglich, der zuletzt die Eurozone insgesamt gefährden könnte. Daher wird das nicht gewünscht. Den privaten Gläubigern kann alles egal sein, aber eben deshalb konvergiert ihr Kurs mit dem der Bundesregierung: "Sie hoffen, dass der deutsche Steuerzahler einen größeren Teil der Rechnung übernimmt, wenn die Griechen im Euro bleiben."

Warum würde die Bundesbank 500 Milliarden Euro verlieren? Weil es "das Target-System" gibt. Das ist ein System zur Verrechnung zwischen Euro-Ländern. Es funktioniert so, dass sich die Zahlungsansprüche exportüberschüssiger Länder wie Deutschland nicht mehr direkt an die Länder mit Leistungsbilanzdefizit richten, sondern an die Europäische Zentralbank. Dorthin bringen diese ihre Zahlungen "mit selbstgedrucktem Geld". In den USA gibt es ein ähnliches System des Zahlungsausgleichs zwischen den Staaten, dort aber müssen die Zahlungen am Ende jeden Jahres gegen Wertpapiere mit Sicherheiten umgetauscht werden. In Europa nicht. Bricht nun die Eurozone zusammen, hat die Bundesbank eine Gesamtforderung, ursprünglich und eigentlich an die Länder mit Leistungsbilanzdefizit, in der Höhe eben von einer halben Billion Euro, "gegen ein System, das es nicht mehr gibt". Mit andern Worten, sie müsste alles in den Wind schreiben.

Hans-Werner Sinn hat das schon im Mai vorigen Jahres zum ersten Mal vorgerechnet. Es wäre Zeit gewesen, etwas zu ändern. Die Bundesregierung hätte sich für eine Übernahme des US-Systems in der Eurozone einsetzen können. Aber das hat sie nicht getan. Sie ist a u s s c h l i e ß l i c h damit beschäftigt, es den privaten Gläubigern möglichst kommod zu machen - das ist die Welt, in der wir leben.

In der Reihe "Tagebuch der Krise" schon erschienen:
Stuttgarter Impressionen (2.11.2010)
Protest ohne Partei (9.11.2010)
Atempause in Deutschland (6.1.2011)
Plan C (19.10.2011)
Wie ist es zur Finanzkrise gekommen? (2.11.2011)
Finanztransaktionssteuer? Ohne Merkel (26.1.2012)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden