Wie sich im Nachhinein zeigt, wurde die Krise der SPD durch die Regierungszeit 1998 bis 2005 nur scheinbar unterbrochen. Ein Strohfeuer; danach war der Absturz umso gnadenloser. Die SPD kam an die Macht, um Hartz IV zu verabschieden, und verlor sie aus demselben Grund. Was wir heute sehen, ist nicht bloß ein Ausflug ins Tal, um neue Aufstiege vorzubereiten. In Umfragen erhielten die Sozialdemokraten kürzlich weniger Zustimmung als Linkspartei und Grüne zusammengenommen. Zwar konnten sie sich von diesem Negativrekord wieder etwas erholen. Doch er bleibt ein Signal. Was soll die SPD noch tun, wenn klar ist, dass es zur rot-grünen Mehrheit niemals mehr kommen wird, wenn sogar die Mehrheitsbasis einer Ampelkoalition zunehmend schmilzt? Glauben Kurt Beck und Gesine Schwan wirklich, die Linkspartei lasse sich nach demselben Muster integrieren wie vorher die Grünen?
Da der Absturz mit Hartz IV begann, einer Breitseite gegen die arbeitende Bevölkerung, ist ein Rückblick auf die gesamte Geschichte dieser Partei angemessen. Denn die SPD ist einmal als Arbeiterpartei entstanden. Was ist daraus geworden, Stufe für Stufe bis heute? Um genauer zu sprechen, entstand sie als Einheitspartei der Arbeiterklasse. In Gotha schlossen sich 1875 die Anhänger zweier Strömungen zusammen. Einheit, sagten sie sich, ist das wichtigste Kampfinstrument einer Klasse, die außer ihrer Organisationsfähigkeit und großen Zahl überhaupt nichts besitzt. Der erste Weltkrieg zerstörte diese Einheit dauerhaft: Kriegsgegnerschaft und Solidarität zur Sowjetunion führten zur Gründung der KPD. Nun gab es zwei Arbeiterparteien nebeneinander. Den Charakter einer Arbeiterpartei behielt die westdeutsche SPD bis in die fünfziger Jahre hinein. Erst das Godesberger Programm führte die klassenpolitische Wende herbei: Die Partei wollte sich auch für Kleinbürger wählbar machen, übernahm deshalb wesentliche Teile der CDU/CSU-Politik und rief sich als alternative "Volkspartei" aus.
Volkspartei, Durchlauferhitzer
Der vorausgegangene Erfolg der Unionsparteien konnte wohl nicht anders beantwortet werden. Es war hier erstmals gelungen, nahezu alle Kleinbürger, zu denen sich noch viele katholische Arbeiter gesellten, auf demokratische Weise miteinander zu fusionieren. Die SPD musste versuchen, diese geballte Macht teilweise wieder aufzulösen. Und hatte nun ebenfalls Erfolg. Von 1969 an stellte sie den Kanzler. Zur selben Zeit freilich hatte sich die studentische Revolte zugetragen. 1968 deutete sich bereits an, dass die SPD für einen Teil der neu gewonnenen Kleinbürger nur eine Art Durchlauferhitzer war: Wenn schon links, dann richtig, sagten sie sich gleichsam. In 1968 lag der Ursprung der "neuen sozialen Bewegungen", die sich zuletzt als Grüne parteipolitisch organisierten. Das war eine Abspaltung von der SPD, und so wurde es von den SPD-Strategen auch wahrgenommen. Man muss nur die Tagebücher von Peter Glotz lesen oder Erhard Epplers Rede auf der Bonner Hofgarten-Demonstration gegen die NATO-Nachrüstung, um zu sehen: Für diese Parteitreuen, die selbst kleinbürgerlicher Herkunft sind, ist die SPD immer noch im Kern eine Arbeiterpartei, die sich zusätzlich mit Kleinbürgern verbündet hat; die nun versuchen muss, dies Bündnis zu verteidigen.
Das gelingt auch in der folgenden Etappe. Die Grünen können zwar nicht in die Partei zurückgeholt, aber doch im Bündnis, später in der Koalition diszipliniert werden. Inzwischen spitzen sich allerdings Prozesse zu, die mit den Grünen gar nichts zu tun haben. Die SPD zerfällt in eine Nach-68er- und eine dem traditionellen Arbeitermilieu verhaftete Partei. Das erklärt ihre Dauerkrise, zumal sie aus dem Arbeitermilieu heraus nicht mehr geführt werden kann. Die Führung fällt vielmehr den Nach-68ern zu, den Jusos der siebziger Jahre - die sich ihrerseits spalten.
Leeres stahlhartes Gehäuse
Oskar Lafontaine gelingt es zwar, die Partei unter der Losung des Widerstands gegen Militarismus und Neoliberalismus zusammenzuschließen. Die anderen Parteiführer jedoch, von Engholm über Scharping bis Schröder, haben den Widerstand innerlich schon aufgegeben. Und es ist Schröder, der mithilfe der neoliberalen Medien Kanzlerkandidat wird. Dies Drama spielt in den neunziger Jahren, einem Jahrzehnt, in dem die Klassenverhältnisse weltweit und auch in der Bundesrepublik neu akzentuiert werden. Eine bewegliche, oft eher kleine Bourgeoisie gibt nun den Ton an, kann frei flottieren in neu geöffneten Räumen der Globalisierung, braucht am eigenen nationalen "Standort" kaum noch Zugeständnisse zu machen. Eine "neoliberale" Politik hechelt hinterher, sucht sie günstig zu stimmen mit Steuergeschenken und dem Abbau von Arbeiterrechten. Das war schon Helmut Kohls Konzept gewesen, dem die SPD unter Lafontaines Führung noch widerstanden hatte; Schröder, einmal Kanzler geworden, zog es durch. So kam es zu Hartz IV, und die Folge war, dass Lafontaine sich an die Spitze der neuen Linkspartei stellte.
Ein vernichtendes Ergebnis: Alles, was die SPD einmal ausmachte, hat sich ihr inzwischen entwunden. Für sozialdemokratisch sozialisierte Kleinbürger stehen die Grünen. Sozialdemokratische Arbeiter werden von der Linkspartei glaubhafter repräsentiert. Damit verglichen erscheint die Formation, die immer noch "SPD" heißt, als Simulacrum ihrer selbst. Sie existiert nur noch als der Anspruch, das alte System zweier sich im Regieren abwechselnder "Volksparteien" möge weiter bestehen. Es war doch so wünschenswert stabil! Doch wie soll sich noch eine "linke Mehrheit" um diese Fassade einer Partei sammeln, die es im Grunde gar nicht mehr gibt? Man kann nicht sagen, dass die Antwort, die sich anzubieten scheint, eine Lüge ist, allemal aber, dass sie kurze Beine hat. Wir sprechen vom Bündnis "aller Linken", der rot-rot-grünen Koalition. Die SPD gleichsam als leeres stahlhartes Gehäuse, in dem die "Volkspartei"-Erinnerung wenigstens noch spukt, und so als Klammer zweier Parteien, von denen die eine glaubhaft Arbeiter-, die andere glaubhaft linke Kleinbürgerpolitik betreibt? Auf kurzen Beinen steht das deshalb, weil die SPD solche Politik nicht mehr unterstützen oder auch nur zulassen kann. Könnte sie es, wäre sie ja gar nicht in ihre prekäre Lage geraten.
Eine rot-rot-grüne Koalition wird vielleicht versucht werden. Sie würde das Schicksal der beiden Regierungen teilen, die Prodi in Italien anführte. Der "Regenbogen" zwischen einer Partei, die es der globalisierten Bourgeoisie leicht zu machen versucht, das ist in Deutschland die SPD, und einer Partei, die sich um die Opfer der Globalisierung kümmert, das ist in Deutschland Die Linke, ist einfach zu groß. Er muss reißen. Wenn er reißt, wird wahrscheinlich der Rechtsextremismus stärker, wie in Italien, so in Deutschland.
Nach aller Erfahrung wird die SPD nicht sehen wollen, dass sie auch eine andere Wahl hätte. Sie könnte zur Scharnierpartei neuen Typs werden, die zwischen neoliberalen und nicht neoliberalen Parteien vermittelt. Dieser Bogen wäre möglich. Ihr selbst würde auf einige Zeit die Rolle der Minderheitsregierung zufallen, zusammen mit den Grünen oder, noch besser, ganz allein. Sie könnte mit Grünen und Linkspartei separate Verträge über eine Reihe von Einzelprojekten abschließen, für die sich auf diese Weise parlamentarische Mehrheiten voraussehen lassen, und hätte dadurch hinreichend viel Regierungsstabilität. Ansonsten wären alle Parteien frei, nach wechselnden Mehrheiten zu suchen. Für die SPD wäre das ein Aufschub. Sie hätte noch einmal Zeit, sich selbst zu fragen, ob es nicht doch ein sinnvolles Ziel ihrer Existenz geben könnte.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.