Wenn man sich verrannt hat

ATOMAUSSTIEGS-DILEMMA Die Verantwortung des linken Flügels der Grünen

Es ist schwer, über die Grünen zu schreiben, wenn man von der Notwendigkeit einer ökologischen Partei überzeugt ist. Wer den Eindruck hat, eine solche Partei mache Fehler oder habe einen falschen Weg eingeschlagen, wird normalerweise die bessere Handlung, den besseren Weg vorschlagen wollen. Die Grünen jedoch scheinen nicht nur "beratungsresistent" zu sein, wie der Parteienforscher Joachim Raschke formuliert hat, sondern man fragt sich auch, wo denn noch der Rat wäre, der ihnen gegeben werden könnte. Ein Beispiel und mehr als ein Beispiel, weil es die grüne Identität betrifft, ist der Atomausstieg, Debatten-Schwerpunkt neben "Amt und Mandat" auf der Bundesdelegiertenkonferenz, die an diesem Freitag beginnt.

Da stehen die Delegierten einerseits vor der Notwendigkeit, ihre beiden Vormänner in der Regierung, also auch den linken Vormann Jürgen Trittin zu unterstützen, also einer Laufzeit von 30 Jahren für Atomkraftwerke zuzustimmen. Alles andere wäre ja abenteuerlich. Wenn sie ihn nämlich nicht unterstützen, stellen sie die Regierungsteilnahme infrage. Wenn sie aus der Regierung herausgehen, werden die Wähler sich fragen, warum sie überhaupt hineingegangen sind. Andererseits haben dieselben Delegierten phantastische Argumente gegen Trittins Atompolitik, die in vielen Anträgen darauf hinauslaufen, dass alles, was 20 Jahre Laufzeit übersteigt, falsch und schädlich ist nach ökonomischen, juristischen, wissenschaftlichen und menschenrechtlichen Kriterien - oder um es einfacher zu sagen: dass gegen Trittin eben die Politik spricht, die er selbst noch vor eineinviertel Jahren vertreten hat. Regierungsteilnahme hin oder her, welches Gewissen hält es aus, das Licht dieser Einsichten in einer so lebensgefährlichen Frage unter den Scheffel zu stellen?

Man muss, wie jene Anträge es tun, immer wieder daran erinnern: Nach 20 Jahren treten Werkstoffprobleme durch Neutronenstrahlung (Versprödung) auf. Die AKW sind dann schon abgeschrieben, ihre Abschaltung kann eigentlich nicht mehr als "Enteignung" verstanden werden. Aber ohnehin schützt das Grundgesetz nicht nur das Eigentum, sondern auch das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Menschen - dieses Menschenrecht wird verletzt, in der Nähe von AKW kommen Krebserkrankungen gehäuft vor. Rein volkswirtschaftlich gesehen, könnten alle AKW sofort abgeschaltet werden, ohne dass Strommängel auftreten würden. Die Hartnäckigkeit, mit der das Atomkapital dennoch an langen Laufzeiten klebt, erklärt sich aus der staatlichen Erlaubnis, Rückstellungen für die künftige Betriebsbeendigung steuerfrei anlegen, sie aber vorher beliebig verwenden zu dürfen. Die Konzerne verwenden sie zum Einkauf von Informationstechnologie und anderen marktbeherrschenden Positionen, so dass im Ausstiegsfall das Geld wohl gar nicht verfügbar wäre. Deshalb der Vorschlag, die Rückstellungen von bisher ca. 80 Milliarden Mark in einen öffentlich-rechtlichen Fond umzuwandeln. Und selbst wenn dennoch Entschädigungsklagen Erfolg hätten - das Schlimmste, was passieren könnte, wäre eine Aufforderung des Verfassungsgerichts, die Regierung möge die Laufzeit ein wenig verlängern.

Es gibt viel mehr schlagende Argumente, als auf engem Raum aufgezählt werden können. Sie sind, wie gesagt, alle nutzlos, weil es fast niemanden gibt, der die Regierungsteilnahme aufs Spiel setzen will. Was tun? Wie sind die Grünen in diese Lage gekommen? Wenn man sich verrannt hat, führt Ursachenforschung manchmal weiter. Da gibt es einen Aspekt, der viel zu selten diskutiert wird, nämlich die Verantwortung speziell des linken Flügels der Grünen für das Dilemma dieser Partei. Im Vorfeld der Delegiertenkonferenz fällt auf, dass die meisten prominenten Linken Papiere unterschrieben haben, in denen starr die Beibehaltung der Trennung von Amt und Mandat gefordert wird, aber keinen dieser Namen findet man unter den Anträgen, die auf 20 Jahren Laufzeit bestehen. Hier kompromisslos, da nicht einmal auf Kompromissen bestehend - lange Laufzeiten hat Schröder schon immer vertreten -, wie reimt sich das zusammen? Trittin selbst ist die Symbolfigur dieses Widerspruchs, denn er, der Schröders Atompolitik ausführt, fordert auch beifallheischend den Erhalt der Trennung von Amt und Mandat.

Mit solcher Politik gelingt es der linken Prominenz immer wieder, die Wut ihrer Klientel auf die Realos zu lenken. Aber hat sie nicht selbst - trotz Joseph Fischers Medienbeliebtheit - die Partei seit der Gründung bis in den Wahlkampf 1998 hinein beherrscht? War nicht Trittin Parteisprecher zwischen 1994 und 98? Er selbst hat die Linken gedrängt, Schröders Kanzlerkandidatur zu unterstützen, weil mit ihm der rechte Rand des rot-grünen Stimmenreservoirs am besten ausgeschöpft werden könne. Für welche Atompolitik Schröder steht, wusste er schon damals ganz genau. Mit der Schlussfolgerung, es sei ihm nur um die Erlangung von Ministerwürden gegangen, würde man ihm Unrecht tun. Das Problem war aber, dass sein Linkssein und der Atomausstieg zwei Paar Schuhe waren und dass er im Zweifel sachliche Lösungen zu opfern bereit war und ist, wenn die "linke" Identität dem entgegensteht. Diese Identität gebietet nämlich ein Zusammengehen mit der SPD um praktisch jeden Preis, weil ja, wenn nicht die eher linke SPD, dann die eher rechte CDU regiert. Es gibt kein höheres Ziel, als das zu verhindern. Und so denkt nicht nur Trittin. Er ist der würdige Anführer der gesamten linken Prominenz.

Das ist der Grund, weshalb sich nichts vorschlagen lässt, was weiterführen könnte. Jetzt heißt es wieder, ihre Geduld mit Schröder und der Atomlobby sei erschöpft, keinen Schritt weiter würden sie zurückweichen. Seit dem Streit um Garzweiler II fällt es schwer, solchen Versicherungen zu glauben. Aber selbst wenn es bei 30 statt 35 Jahren Laufzeit bleibt: wer kann denn in einer solchen Hängepartie die Unumkehrbarkeit des Ausstiegs garantieren? Da gibt es zwei gegensätzliche Antworten. Wenn wir den Einstieg in die Solarwirtschaft schaffen, geht dem Atomkapital aus Marktgründen die Luft aus, sagen die einen. Die andern umgekehrt: wenn das Atomkapital aufhören muss, entsteht aus Marktgründen ein Sog zur Solarwirtschaft. Nur in wenigen Anträgen liest man aber, dass die Atomwirtschaft nicht nur vom Markt, sondern auch von staatlicher Subvention und Bevorzugung lebt. Es ist in diesen Tagen unterstrichen worden: die Bundesregierung gewährt eine Hermes-Bürgschaft für ein neues AKW in China. Trittin hat zugestimmt. Globaler Einstieg, lokaler Ausstieg - stimmt denn auch nur das letztere?

Woran die Linken zu messen sind, das wenigstens ist klar. Sollte Schröder der Atomlobby noch weiter entgegenkommen, müssten sie den Worten Taten folgen lassen und ihre Nibelungentreue zu Trittin und damit zu Schröder aufgeben. Wenn wenigstens ein Teil der linken Prominenz wieder anfinge, ihr Linkssein am sachlich Notwendigen statt an der Regierungsteilnahme zu bewähren, wäre viel gewonnen.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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