Wenn man über sich hinausgeht

Musikfest 2016 Die Musik von Pierre Boulez ist nichts weniger als abstrakt – zwei große Interpreten führen es vor

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Pierre Boulez in jüngeren Jahren
Pierre Boulez in jüngeren Jahren

Foto: ZUMA/Keystone/imago

Der vergangene Montagabend darf sicher jetzt schon als einer der Höhepunkte des Musikfests gelten. Im Gedenken an Pierre Boulez, der Anfang Januar 2016 im Alter von fast 91 Jahren gestorben ist, wurde sein gesamtes Klavierwerk aufgeführt mit Ausnahme nur des ersten Buchs der Structures für zwei Klaviere, das die Aufführenden nicht für vollgültig nehmen.

„Das war eine Mischung von Serialität und Dada“, sagt Pierre-Laurent Aimard: „Ich habe das einmal in seiner Gegenwart gespielt; sein Verhältnis dazu war sehr ambivalent. Es hat ihn interessiert, ihn aber auch in Verlegenheit gebracht.“ Was die andere Aufführende sagt, Tamara Stefanovich, ist fast noch interessanter: „Das war akustisch nicht reichhaltig genug – nicht unbedingt für mich selbst, sondern ich fühlte, dass es nicht genug Material gab, um mit einem Publikum zu kommunizieren. Das ist kein Bühnenwerk.“ (Aus einem im Programmheft veröffentlichten Gespräch mit beiden im Juni.)

Genau gesprochen galt das Urteil der Interpreten den Structures Ia und es lohnt sich, bei dem ungewöhnlichen Stück einen Augenblick zu verweilen, weil es geradezu als Kontrastfolie zu allem anderen, was Boulez je komponiert hat, angesehen werden kann. In diesem Stück, so Aimard, wollte Boulez „wissen, wie weit er ‚automatisch‘ komponieren könnte“. Wie ist das gemeint? Ziehen wir eine Erläuterung heran: Boulez „setzt die vier Parameter Tonhöhe, Tondauer, Tonintensität, Tonfarbe (= Anschlagsart) in bestimmte mathematische Proportionen. Von einer gegebenen Zwölftonreihe aus stellt er Dauer, Stärke unf Farbe fest, indem er die Ordnungszahlen der Reihe mittels eines mechanischen Verfahrens in Wertzahlen für rhythmische, dynamische und Klangfarbenreihen umrechnet.“ „Sobald [...] die Tonhöhenreihe und das arithmetische Verfahren feststünde, müsste alles weitere automatisch erfolgen.“ „Die Reihe tritt in sämtlichen Transpositionen ihrer Grundform auf, das Stück wäre beendet, nachdem alle Parameter durchlaufen sind.“ (Klaus Billing in Reclams Klaviermusikführer 2, Stuttgart 1967, 1994, S. 987 ff.)

Das ist das sogenannte serielle Verfahren, zu dessen Begriff es aber eben gerade nicht gehört, in dieser Form, die so „streng“ ist, dass pure Automatik herauskommt, auch ausgeführt zu werden. (Sehr ausführlich habe ich mich mit Boulez‘ Ansatz vor ein paar Jahren befasst, man kann es hier nachlesen: Nach „Blogbeiträge“ herunterrollen bis „Berliner Musikfest 2010 BOULEZ“.) Boulez hat vielmehr einen Grenzfall komponieren wollen, das Stück deshalb mit einem Gemäldetitel Paul Klees benannt: „An den Grenzen des Fruchtlands“. So viel „Strenge“ wäre allenfalls möglich. Noch „strenger“ kann’s nicht werden. Aber sie wird gar nicht angestrebt. In der dritten Sonate zum Beispiel ist der „Tonraum des Klaviers [...] nicht mehr homogen hinsichtlich Tonhöhen, Intensitäten und Farbe behandelt, sondern nach Registern und Farbflächen aufgespalten“ (S. 992). Und weil die Partitur den Interpretierenden gewisse Wahlfreiheiten einräumt, vergleicht Boulez sie mit dem „Plan einer unbekannten Stadt, der Weg bleibt der Initiative des Interpreten überlassen, er soll sich durch ein klingendes Netz von Bahnen bewegen“ (zitiert S. 994) Der Grenzfall erklärt also nicht, wie die musikalischen Gestalten entstehen.

Im Übrigen ist nicht die Automatik als solche der Grenzfall, sondern ein Ihr-nahe-kommen ist es, das nicht einmal in diesem „Dada“-Stück Structures Ia auf die Spitze getrieben wird. Billing hat es beobachtet: „der Prozess ist nicht lückenlos mechanisch; vielmehr scheint es, dass die errechneten Reihen der Partitur mitunter klanglich manipuliert sind, etwa als Vor- und Nachhall, als Neben- und Mitklang [...]. Das automatische Verfahren hat offenbar seine Grenze an den Korrekturen, die das Ohr vollzieht.“ (S. 989) Damit ist auch bezeichnet, was die Fortentwicklung beim Anwenden des Verfahrens bestimmt: Boulez will natürlich „Hörbares“ komponieren wie alle, die ihm vorausgingen; ihm schweben bestimmte musikalische Gestalten vor; er hat sich ein Verfahren geschaffen, genau deren Komposition zu ermöglichen. Dass ihm der „Ausdruck“ seiner Musik wichtig ist, wird er später häufig betonen.

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Die Generation von Hörern und davor noch von Interpreten, die das wahrzunehmen imstande ist, musste erst einmal heranwachsen. Wenn Adorno als Dozent bei den Darmstädter Ferienkursen mit den jungen seriellen Komponisten sprach, stand seine Furcht vor dem Automatischen immer im Vordergrund. Sie ist ja auch berechtigt, nur dass sie auf Boulez nicht passt. Inzwischen wird uns ja zugemutet, wir sollten computergenerierte Musik goutieren, wohl nach der Logik, dass wir sowieso zugunsten angeblich „intelligenter“ Maschinen (jedenfalls mächtiger Maschinen, mehr als Panzer es sind) abgeschafft werden und uns daher genauso gut jetzt schon auf ihre nicht nur komponierende, sondern auch rezeptive „Musikalität“ reduzieren können. Heute erkennt man, dass Boulez nicht etwa ein Vorläufer solcher Unmenschlichkeit ist. Seine Musik ist die Musik eines mitteilungsbedürftigen Menschen, der unser Zeitgenosse war, und das teilt sich auch mit.

So weist denn ein Programmheft von heutzutage auf die „unterschwelligen Aggressivität von Boulez‘ früher Musiksprache“ hin, die „sich schon in einer Vortragsbezeichnung wie ‚incisif‘ (einschneidend) zu erkennen“ gebe – in der Ersten Klaviersonate von 1946 -, ja „der Schlussakkord soll ‚très brutal et très sec‘ arpeggiert werden“ (Olaf Wilhelmer). Von der Zweiten Klaviersonate (1946-48) sagt Stefanovich gar, sie sei voll von „obsessive[n] Triller[n]“, die „im Finale einen zerstörerischen, psychotischen Charakter [bekommen]“. Das wäre ja eine Möglichkeit, den Schein der Verschlossenheit und reinen Künstlichkeit solcher Musik zu erklären: Wer denn will sich „Psychotisches“ zu Gemüte führen? Da sagt man sich lieber, man habe gar nichts gehört, es sei gar nichts mitgeteilt worden.

Das Programmheft zieht hier übrigens, ohne eigens darauf hinzuweisen, einen Bogen, der mich verblüfft hat, indem es kommentarlos einen Satz von Boulez aus dem Jahr 1948 auf einer ganzen Seite wiedergibt: „Ich glaube, die Musik muss kollektive Hochspannung und kollektiver Bann sein, beides auf zuhöchst aktuelle Weise, der Anleitung von Antonin Artaud entsprechend und nicht im Sinne der bloßen ethnographischen Wiederherstellung nach dem Bilde einer von uns mehr oder weniger entfernten Zivilisation.“ Einen Bogen also von Boulez‘ früher „aggressiver“, ja „psychotischer“ Musik zu Artauds „Theater der Grausamkeit“. Wir sind vorbereitet, uns einen Reim darauf zu machen, da wir gesehen haben, was Artauds Ansatz ist und wie die Musik Wolfgang Rihms ihn adaptiert hat. Nun erfahren wir, dass gerade auch Boulez, von dem ich sagte, seine Musik mache einen Sprung in die Zukunft, dazu ausholend so weit in der Zeit zurückgeht. Eben bis zum Diskurs der in Mexiko lebenden Tarahumara-Indianer, die Artaud besucht hatte.

Es ist schon überraschend: Rihm wollte sich mit Artaud von den Zwängen der Serialität befreien, die ist aber selbst schon mit Artaud gegangen! Überraschend aber nur auf den ersten Blick. Denn jene Zivilisation, gegen deren Schein der Entferntheit sich Boulez ausspricht und auch Rihm sich verwahrt, ist eine der unbarmherzigen Rituale, und Rituale kann man wie Rihm oder wie Boulez gestalten beziehungsweise im Auge (im Ohr) behalten. Rihm zitiert sie in Gestalt monotoner Rhythmen, was ihm die Möglichkeit gibt, Nichtmonotones danebenzusetzen, Freiheit oder wenigstens Aufbegehren. Ich sagte schon, dass Boulez das Zitat für zu gefährlich gehalten hätte, weil es nolens volens zur Identifikation einlädt. Bei ihm aber ist das Rituelle in der „Strenge“ des Verfahrens aufgehoben und teilt sich, wie gesagt, geschulten Hörern als Aggression und „Psychose“ auch mit. Und begehrt er etwa nicht ebenfalls auf? Sein Aufbegehren liegt darin, dass er an die Stelle rhythmischer Monotonie die wahnsinnigste, kaum spielbare rhythmische Inkommensurabilität setzt.

Davon kann Billing ein Lied singen. Auch er schon hebt ein „Abwechseln von Gewalt und Sanftmut“ in der Zweiten Klaviersonate hervor. Doch sagt er zuletzt: „Der Satz verrät die Handschrift eines erfahrenen Pianisten; trotzdem haben selbst die hervorragendsten Konzertwiedergaben und Aufnahmen in fast 20 Jahren nicht den Beweis erbracht, dass die minutiösen Anweisungen des Komponisten restlos ausführbar sind, und bleiben zum Teil beträchtlich hinter der idealen Genauigkeit in Metrik und Dynamik zurück. [...] Gewiss war die Hammerklaviersonate [von Beethoven] zu ihrer Zeit unspielbar und ist erst nach Generationen spielbar geworden. Damit ist nicht bewiesen, dass der technische Fortschritt der Interpreten unbegrenzt ist [...].“ (S. 986 f.) Stefanovich, die das Werk an Montag spielte, hat es aber anscheinend bewältigt, denn sie sagt: „Wenn man die Zweite Sonate lernt – und das ist eine sehr lange Reise – denkt man ständig: Das ist unmöglich. Und dann macht man den nächsten Schritt und sieht, dass das sehr wohl möglich ist, wenn man über sich hinausgeht.“

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Die mit Pause dreistündige Veranstaltung war als Gesprächskonzert angelegt. Dabei wurde noch mehr von der Mitteilsamkeit der zunächst so außerirdisch erscheinenden Boulez-Musik deutlich. So spielte Stefanovich eine rollende Überleitungsfigur aus irgendeinem Klavierstück von Schumann und verglich sie mit einem Lauf bei Boulez. Tja, wenn man dafür schon Ohren hätte. Noch schöner war ihr Hinweis aufs frühere Radio, wo, wenn man den Kopf drehte, rasch wechselnd Sekundenbruchteile übertragener Konzerte ins Zimmer wehten – auch das sei vergleichbar. (Nebenbei gesagt, erinnert sie damit an eine wichtige Erfahrung: Man konnte hören, ob der Sekundenbruchteil von Brahms oder Beethoven oder wem immer war, den man gut kannte; ein Beweis für den nicht bloß mathematischen sondern „Ausdrucks-“ und Mitteilungscharakter großer Musik.) Wie sie dann die Zweite Sonate im Ganzen wiedergab, machte sie ein ungefähres Mitfühlen schon dem heutigen Publikum möglich. Sie sagt, sie kenne keine andere Musik, die so leidenschaftlich sei, und spielte entsprechend. Beim Scherzo lächelte sie, im Schlusssatz konnte man ihrem Gesicht entnehmen, dass nun die ernste Summe gezogen würde.

Das Mitfühlen war dadurch, dass die Zweite Sonate der klassischen Viersatzform gehorcht, natürlich sehr erleichtert. Aber es gehört auch ein Interpret oder eine Interpretin dazu, die dann zum Beispiel den zweiten Satz bei aller Zerrissenheit so elegisch wiedergibt, dass man das insoweit vertraute Gelände wiedererkennt. Außerdem hatte Stefanovich im Voraus erklärt, hier habe sich Boulez an der Hammerklavier-Sonate abgearbeitet. Diese wäre also nicht nur wegen der schweren Spielbarkeit vergleichbar, sondern direkt das Vorbild gewesen. Zum Beispiel enthalten beide Werke im Schlusssatz eine Fuge. Im Programmheft-Gespräch sagt sie noch, Beethovens Sonate war Boulez‘ „Inspiration und zugleich der Mount Everest, den er bezwingen wollte“. Was sie natürlich gut nachfühlen kann, weil das Ergebnis dann seinerseits ein Mount Everest wurde, den wiederum sie bezwingt.

Sie ist eine große Pianistin, sicher wird man noch viel von ihr hören. Man stelle sich vor, sie erhielt Jubelrufe für das sperrige Werk! Für mich war es die erste Begegnung mit Stefanovich. Aimard, der auch ein ganz großer Pianist ist, durfte man ja schon häufig in Berlin erleben und immer mit anspruchsvollsten Programmen. So hat er 2014 beide Bände des Wohltemperierten Klaviers von Bach an einem Abend durchgespielt und 2012 Concord vorgestellt, die zweite Klaviersonate von Charles Ives. In diesem Jahr trug auch er seinen Teil dazu bei, die emotionale Nachvollziehbarkeit von Boulez‘ Musik zu demonstrieren. So erklärt er, dass und wie sich in Un page d’éphéméride (2005), einem Gelegenheitswerk, Beitrag zur Klavierpädagogik und der letzten Komposition für Klavier überhaupt, die „neue Schreibweise“ zeige, die der Komponist schon „in Répons [1981] nach seiner Wagner-Erfahrung als Dirigent in Bayreuth“ entwickelt habe: Sie „erscheint nun raffiniert, dekorativ, barock, luxuriös“.

Welch neue Boulez-Welt schließt sich da auf. Ich habe mich schon lange gefragt, ob es bei einem Komponisten wie Boulez überhaupt noch Intertextualität gibt, also Anklänge an andere, auch sehr viel frühere Musik. Es gibt sie offenbar, man muss nur Ohren haben sie zu hören. Ich selbst hatte sie bisher nur ein einziges Mal: Pli selon pli, Boulez‘ Musik zu Gedichten von Mallarmé (1957-62, revidiert bis 1989), beginnt mit einem heftigen Akkord, der erkennbar von Verdis Oper Ein Maskenball herrührt – erster Akt, vor „Zitti, l’incanto“ usw. -; auch der literarische und zwar psychotische Sinn, in dem der Akkord hier wie da steht, unterstreicht den Zusammenhang.

Am Ende spielten beide das Zweite Buch der Structures pour deux pianos (1951-61), wobei sie sich gegenübersaßen und die Klavierkörper sich berührten. Auch hier reagierte das Publikum mit Begeisterung. Was für ein Dialog, der da hin und her ging, und auch noch zwischen Mann und Frau, was die beiden weidlich aufgriffen. Denn Aimard übernahm den Part der Ordnung, Stefanovich den ihrer Zertrümmerung und Aimard dann wieder, nachdem sie geschehen war, den des knappen Hinnehmens. Da bekam Stefanovichs Wort vom „Bühnenwerk“, das Musik sein soll, ihren ganzen Sinn... Welch lustige Vorbereitung auf das Konzert heute Abend, wo ich gleich miterleben werde, wie Richard Strauss sein Eheleben erzählt.

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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