Was ist „Deutschland“? Hat es eine Identität? Sollte es eine haben? Beides ist umstritten. Es gibt „Antideutsche“ mit deutschem Pass, die, wenn sie sich gegen Deutschland wenden, diesem Gebilde jedenfalls Identität zuschreiben; etwa dass es die Tradition des preußischen Militarismus unvermeidlich fortsetze, ja dass seine Geschichte auf Hitler und Auschwitz habe hinauslaufen müssen. Es gibt andererseits welche, der Politikwissenschaftler und Freitag-Autor Georg Fülberth gehört dazu, die bestreiten, dass so etwas wie Deutschland überhaupt noch vorhanden ist. Den Namen gebe es, aber er bezeichne ein Simulacrum. Deutschland habe 1945 aufgehört zu existieren, so Fülberth, und sei auch 1990 nicht wiedererstanden. Die Souveränität hätten seinerzeit die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs übernommen. Was sich dann auf vormals deutscher Seite entwickelte, zum selbstregierten, schließlich sogar neuvereinigten Gemeinwesen wurde, sei weiter nichts als ein kapitalistischer Wirtschaftsraum, ohne weitere Identitätsmerkmale, die ins Gewicht fallen; von seinen Bewohnern lasse sich nicht viel mehr sagen, als dass sie mit den Bewohnern anderer ebensolcher Räume in Konkurrenz um Weltmarktanteile stünden.
So überspitzt und einseitig das gedacht ist, ist es der richtige Ausgangspunkt des Nachdenkens. Die Deutschen stellen sich heute als eine Schicksalsgemeinschaft dar, deren einzig benennbarer Zweck die Verwirklichung der marktwirtschaftlichen, kapitalistischen Erfordernisse ist. Es geht nur darum, was die Dinge kosten: die Renten, das Gesundheitssystem, die Migration, die Subventionierung der Banken. Wenn es übergreifende Debatten gibt, dann darüber. Sport kommt noch hinzu. Da kann man „Deutschland gegen Brasilien“ sagen, aber es macht nicht viel Sinn, weil auf beiden Seiten dasselbe geschieht (mit diesem oder jenem Körperteil werden Tore geschossen). Was bleibt, wenn man von all dem absieht? Psychologie. Deutschland, das ist heute der Kachelmann-Prozess.
Na und, werden viele sagen – warum soll es denn wichtig sein, sich für „Deutschland“ zu interessieren? Indessen, wir interessieren uns schon für uns selbst als Deutsche, unbewusst oder stillschweigend. Das eben gezeichnete Bild ist oberflächlich. Wenn die Deutschen ökonomistisch wurden und es immer noch sind, hat das einen angebbaren historischen Grund. In der westdeutschen Bundesrepublik fing es an. Der erste Schritt war das „Wirtschaftswunder“. Er war die deutsche Flucht aus der Verantwortung fürs Dritte Reich. Oft ist über die Westdeutschen der Nachkriegsgeneration gesagt worden, sie hätten jeglicher Ideologie abgeschworen. Darin liegt auch, dass sie nicht mehr deutsch sein wollten. Natürlich kam dies Motiv nicht klar zum Bewusstsein. Aber es war da. Es zeigte sich jahrzehntelang im Desinteresse breiter Schichten an der Wiedervereinigung. Es nahm die Gestalt des Wunsches an, in Europa aufzugehen.
Auch die anderen westeuropäischen Nationen bewegten sich auf das zu, was später die Europäische Union hieß. Doch wäre kein Franzose oder Italiener, vom Engländer ganz zu schweigen, auf die Idee gekommen, es als eine Bewegung weg vom Französisch-, Italienisch- oder Englischsein aufzufassen.
Selbstverleugnung
Die Selbstverleugnung der Deutschen war indes zweideutig. Dass sie von der eigenen Nation keinen Begriff mehr hatten, hinderte sie ja nicht, in Europa eine hegemoniale Rolle zu spielen. Ökonomisch gesehen jedenfalls, da sie eben Ökonomisten geworden waren. Der Soziologe Marcus Hawel hat es hervorgehoben: Im Grunde spielten und spielen sie in Europa dieselbe Rolle, die Preußen im zweiten Reich und vorher im Norddeutschen Bund gespielt hat. Darin liegt, dass es eben doch eine fortwirkende deutsche Identität gibt; gewisse Strukturen der deutschen Geschichte schlagen immer noch durch. Europa ist der Mantel, unter dem sich der spezifisch deutsche Nationalismus versteckt. Die deutsche Geschichte ist schon im Ursprung europäische Hegemonialgeschichte gewesen. Der Ursprung liegt darin, dass sich im ersten Reich der Kaiser deutscher Nation als römischer Kaiser auffasste. Noch im Dritten Reich war das nicht vergessen. Wenn heute im Zeitalter der Demokratie deutsche Politiker von Europa, von den Vereinigten Staaten von Europa schwärmen und sie herbeireden wollen, ist Vorsicht geboten.
Als was wollen sie denn eintreten in diese neuen United States? Was sind sie denn selber? Wenn sie scheinbar gar nichts sind, möchten sie wohl die Hegemone sein? So verschiedene Politiker wie Karl-Theodor zu Guttenberg und Joschka Fischer sind sich einig in der europäischen US-Perspektive. Dabei spielt der Freiherr in seiner veröffentlichten Dissertation sogar mit dem Gedanken, der Schritt vom europäischen Staatenbund zum Bundesstaat könne und werde letztlich auf revolutionärem Weg erfolgen. Die Massen müssten zögerliche Regierungen zwingen, so sei es ja einst in Nordamerika gewesen. Einen Begriff von Deutschland haben sie beide nicht.
Wir haben Deutschland bisher nur aus der Staatsperspektive betrachtet. Es ist jedoch, so sagt man, auch eine Kulturnation. Hat es vielleicht noch andere Identitätsquellen, die aufgegriffen, ausgebaut und durchgesetzt werden könnten, als die skizzierte? Ein Deutschland nicht der Staatsmänner, sondern der Intellektuellen? Allerdings muss man unterscheiden. Es hat welche gegeben, die sich in „machtgestützter Innerlichkeit“ um Deutschland als politisches Gebilde nicht kümmerten, und andere, die einzugreifen versuchten. Die Ersten teilten faktisch oder willentlich das staatliche Deutschlandverständnis. Von den Zweiten ging keine politische Wirkung aus, weil es ihnen nicht gelang oder sie gar nicht versuchten, sich mit den einfachen Menschen, dem „Volk“, „den Massen“ zu verbinden.
Der springende Punkt
Martin Luther und Karl Marx waren die Ausnahmen, beide jedoch hatten nur den Erfolg, Deutschland zu spalten. Während ein Bündnis französischer Intellektueller und Bauern nach 1789 ganz Frankreich umwälzen konnte. An Weimar und damit an Goethe, den Dichter und Minister, hat die Weimarer Republik anzuknüpfen versucht; das Ergebnis ist bekannt. Eine intellektuelle Atmosphäre wie in Frankreich nach der Revolution, wo politische Brisanz von der bloßen Äußerung eines Schriftstellers ausging (Emile Zolas J‘accuse), hat es in Deutschland nie gegeben.
Doch ein Intellektueller wie Zola musste die französische Identität nicht erst schaffen, sondern war umgekehrt dadurch groß, dass er sich auf sie berufen konnte. Das ist der springende Punkt. Der Antisemitismus, den er anprangerte, widersprach den Idealen der Revolution. Dass diese gesiegt hatte, darin bestand und besteht noch heute die französische Identität. Bedeutende Politik, bedeutende Kultur, das ist die Reihenfolge, nicht umgekehrt. Wenn es darum geht, eine nationale Identität zu verändern, sind zuerst politisch denkende Intellektuelle gefragt, deren Ideen im „Volk“ Widerhall finden. Es von der Kulturnation zu erwarten, heißt das Pferd vom Schwanz her aufzäumen. Goethe wußte das, er analysierte ja, dass sich die deutsche Kultur vor seiner Zeit deshalb nicht entfalten konnte, weil das Heilige Reich im Niedergang war; es gab kein bedeutendes Staatswesen mehr, dem sie hätte zur Seite treten können. Johann Wolfgang von Goethe, wie man weiß, bewunderte erst Friedrich den Großen, dann Napoleon.
Entscheidungsschlacht
Im Nachkriegsdeutschland traten die Exponenten der Gruppe 47 für Willy Brandts SPD ein. Das war ein Kampf um die Veränderung der deutschen Identität. Er hat also gar nicht gefehlt. Andere Kämpfe begleiteten ihn und setzten ihn fort. „1968“ war ein internationales Ereignis, doch gerade in Deutschland griff es tief ein, weil die Revolte sich hier nicht zuletzt gegen die unbewältigte Nazivergangenheit richtete. Weil sie kulturell und politisch war, erreichte sie etwas; weil indessen auch die 68er Intellektuellen vom „Volk“ getrennt blieben, war ihre Wirkung doch nur begrenzt. Immerhin kam es zur Entstehung der grünen Partei, von der eine weitere Veränderung der SPD ausging, man könnte sagen, von der Willy Brandt selber verändert wurde, er und seine „Enkel“. Und damit gelangen wir zum Jahr 1990. Es stellt sich als Jahr einer Entscheidungsschlacht um die deutsche Identität heraus.
Denn wäre es nicht zur Wiedervereinigung gekommen, hätte es wohl einen anderen westdeutschen Wahlsieger gegeben: den SPD-Kandidaten Oskar Lafontaine in Koalition mit den Grünen. Stattdessen gewann Helmut Kohl. Er hatte „den Mantel der Geschichte“ ergriffen: Das sagte er, um Bismarck zu zitieren, als dessen Nachfolger er sich sah. Sein Sieg war konsequent, denn Lafontaine fiel es gar nicht ein, für ein neues, vereintes Deutschland eine neue Perspektive zur Wahl zu stellen. So schlug die alte reichsdeutsche Identitätslinie wieder durch. Man sieht nun, Deutschland ist nicht einfach ökonomistisch geworden. Um seine Identität wird weiter gekämpft. Soll es ein multikulturelles Land wie die USA werden oder ein Sarrazin-Land? Vielleicht ein Sarrazin-Land nach innen und das ökonomistische Glied europäischer United States nach außen? Man kann allgemeiner, grundsätzlicher und über den Tag hinaus fragen: Durch welche Umwälzung wird Deutschland seine Identität bekommen? Denn sie ist kein Schnäppchen. Noch so viel Geld reicht nicht für ihren Kauf. Die Schweiz und England, die USA und Frankreich haben Revolutionen gebraucht, sie zu erlangen.
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