Die Zivilgesellschaft steht auf! Das ist der Eindruck, den uns der Aufruf zur Berliner Kundgebung gegen den Rassismus am 13. Oktober vermittelt. Die Liste der erstunterzeichnenden Organisationen – es sind über 150 – und Prominenten ist beeindruckend. Da findet man Eva Menasse und Jan Böhmermann, Antje Schrupp und Micha Brumlik, Christina Thürmer-Rohr und Harald Welzer neben vielen anderen.
Warum aber sprechen wir von der „Zivilgesellschaft“? Der Ausdruck weist auf Veränderungen hin, die sich in der politischen Kultur vollzogen haben. Als vor knapp 40 Jahren Hunderttausende gegen die NATO-„Nachrüstung“ demonstrierten, wäre niemand auf die Idee gekommen, einen Aufstand der Zivilgesellschaft darin zu sehen. Erstens, weil es das Wort noch gar nicht gab. Und zweitens, weil es nicht gepasst hätte. Denn diese Demonstration wurde ganz überwiegend von staatsnahen Kräften organisiert, parteilichen, gewerkschaftlichen und kirchlichen Gruppen, die sich in Opposition zu ihrer jeweiligen Organisationsführung befanden. Wenn heute demonstriert wird, sind die Träger andere geworden: Aktionsbündnis muslimischer Frauen, Attac, Bayrischer Flüchtlingsrat, Chaos Computer Club, DIEM25, Deutscher Frauenrat, Interventionistische Linke und so weiter.
Schlag nach bei Gramsci
Sind das aber wirklich unabhängige Bürger und Bürgerinnen, oder werden sie nicht im Grunde staatlich instrumentalisiert? Menschen, die bei Pegida mitlaufen, glauben wahrscheinlich ernsthaft, am 13. Oktober würden Hilfstruppen einer staatlich verordneten Multikulti-Politik aufmarschieren. Und ist nicht Pegida ihrerseits eine „zivilgesellschaftliche“ Bewegung? Was ist mit dem Ausdruck denn gewonnen?
Da er auch erforscht wird, kann man die Frage an die Wissenschaft richten. Zur Zivilgesellschaft, schreibt etwa der Sozialhistoriker Jürgen Kocka, gehöre „ein hohes Maß an gesellschaftlicher Selbstorganisation, z. B. in Vereinen, Assoziationen und sozialen Bewegungen“. Er fährt fort, es gehörten auch die „Einhegung“ von Gewalt und die „Hochschätzung von Toleranz“ dazu. Da wird der Begriff normativ. Am Ende heißt es tautologisch, zur Zivilgesellschaft „gehört eine Kultur der Zivilität“. Staatsnah ist sie allemal, denn „sie verlangt die Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten, den Rechts- und Verfassungsstaat sowie ein hohes Maß an Partizipation, wenngleich in unterschiedlichen Formen“.
Wenn sich aber die Demo vom 13. Oktober gegen den Rassismus wendet, dann auch gegen den Staat. Nicht nur Rassisten spielen, wie in ihrem Aufruf gerügt wird, „Sozialstaat, Flucht und Migration gegeneinander aus“, sondern mehr noch tut das der Staat, indem er die Bedingungen dafür schafft. Ein großer Teil des Aufrufs ist deshalb dem Niedergang des Sozialstaats gewidmet. Aus der Not der Menschen lässt sich der Rassismus nicht ableiten, wohl aber aus der Politik solcher Regierenden wie des Bundesinnenministers Horst Seehofer, der die schutzflehenden Geflüchteten als „Asyltouristen“ verhöhnt, und dann auch der Bundeskanzlerin und der mitregierenden SPD, die der Agenda 2010 nicht abschwören. In dieser Konstellation werden Menschen zum Rassismus aufgehetzt. Nicht einmal Seehofer will das, aber objektiv ist es so.
Wir haben es mit einem aggressiven Dreieck zu tun: Rassisten, Rassismus-Gegner und ein Staat, den beide Seiten heftig kritisieren. Woran liegt es, dass die Forschung mit ihrem schönen Konzept „Zivilgesellschaft“ auf diese Konstellation so gar nicht vorzubereiten vermag?
Die Frage kann nicht unabhängig von einer anderen beantwortet werden: Warum hat die Forschung sich für die Herkunft des Begriffs, und das heißt auch: des Worts, nicht interessiert? Kocka schreibt, die Zivilgesellschaft sei in den 1980er Jahren von osteuropäischen Dissidenten „neu entdeckt“ worden. Die haben aber nicht Deutsch gesprochen. Wann und wo in Deutschland zuerst von ihr die Rede war, fragt er nicht. Stattdessen erfahren wir, dass schon das antike Rom eine societas civilis war. In der Aufklärung habe sich die bürgerliche Gesellschaft nicht nur ökonomisch definiert, sondern auch als Zivilgesellschaft verstanden und kritisch zur „Obrigkeit“ verhalten. Seit Hegel und Marx sei sie dann aber nur noch als „Bourgeoisgesellschaft“ interpretiert worden. Die Zivilgesellschaft sei daher zeitweilig in Vergessenheit geraten. Aber „seit den 80er, 90er Jahren“ des 20. Jahrhunderts, so Kocka, „sprachen wir“ wieder von ihr. In dieser ganzen Schilderung wird übergangen, dass es das Wort „Zivilgesellschaft“ bis dahin nicht gab.
Schwester des Neoliberalismus
Auch wie die osteuropäischen Dissidenten die Zivilgesellschaft „neu entdeckten“, will Kocka nicht wissen. Klar sei aber, dass „die Havels, Geremeks und Konràds“ der bürgerlichen Aufklärung gefolgt seien. Anderthalb Jahrzehnte später beschreibt es die Politikwissenschaftlerin Sabine Riedel genauer: Leute wie Havel sind Symbolfiguren, die „eigentlichen Schrittmacher der Systemtransformation“ seien „zunächst die alten sozialistischen Kader“ gewesen. „Sie verstanden sich ganz im Sinne des marxistischen Theoretikers Antonio Gramsci als ‚Intellektuelle‘ und Teil der Zivilgesellschaft, denen eine führende Rolle zum Wohle des Staates zustand“ (Die kulturelle Zukunft Europas, Springer VS 2014). In der Tat war ihnen Gramsci vor 1990 zugänglich: Zwar nicht gerade offiziell beliebt, musste er im Ostblock als Marxist, auch Leninist und Häftling Mussolinis geduldet werden.
Aber auch im Westen, in der Bundesrepublik zum Beispiel, wurde er von „Dissidenten“ gelesen. Wenn ich weiter oben schrieb, zur Zeit der großen Friedensbewegung nach 1981 habe es das Wort „Zivilgesellschaft“ noch nicht gegeben, so war das nicht ganz richtig. Bereits 1977 überlegt Karin Priester in der marxistischen Zeitschrift Das Argument, wie Gramscis società civile ins Deutsche zu übersetzen sei. Sie erwägt den Neologismus „Zivilgesellschaft“, verwirft ihn aber und bleibt bei der üblichen Übersetzung „bürgerliche Gesellschaft“. Dass damals eine größere Gruppe von Menschen begonnen hatte, Gramsci zu studieren, ist eine Folge von „1968“. Im Jahrzehnt danach wurden die Frauenbewegung, die Ökologiebewegung und zuletzt auch die Friedensbewegung stark. Da hatten sich also Bürger und Bürgerinnen von dem befreit, was bis dahin in Gesellschaft und Staat „hegemonial“ gewesen war – um Gramscis Ausdruck zu verwenden. Wenn Gramsci von der società civile sprach, dann nur im Zusammenhang mit der Hegemoniefrage, denn sie war für ihn der Ort, an dem um eine neue Orientierung gekämpft wurde.
Im Rückblick ist klar, dass nach 1968 die deutsche Zivilgesellschaft einen Neuaufschwung verzeichnete. Damals entstanden neue autonome Bürgerorganisationen wie Medico international (1968), das Netzwerk Selbsthilfe (1978), die IPPNW Deutschland (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, 1980) und Pro Asyl (1986) – sie alle haben übrigens zur Demo am 13. Oktober mit aufgerufen. 1988 war dann auch der Name gefunden. Erneut bei der Frage der Gramsci-Übertragung ansetzend, überlegt der Argument-Herausgeber Wolfgang Fritz Haug, ob man società civile als kulturelles Leben übersetzen könne. „Oder, der Sprache etwas Neues beibringend – aber wie viel Kraft gehörte dazu! –, als zivile Gesellschaft?“
Der Siegeszug des Ausdrucks „Zivilgesellschaft“ war dann nur noch eine Folge von 1990, der „Wende“. Er sollte nun bedeuten, dass die bürgerliche Gesellschaft immer schon richtiggelegen hatte. Endlich begriffen es auch die Osteuropäer. Von Wolfgang Fritz Haug redete niemand. So scheinen denn heute Zivilgesellschaft und Neoliberalismus verschwistert wie Citoyen und Bourgeois. Aber den Kampf um Hegemonie hat man denn doch nicht stilllegen können. Die Entmutigung wurde nicht erreicht.
Am 13. Oktober steht nur ein Teil der Zivilgesellschaft auf, es ist aber derjenige Teil, der den Namen verdient. Ihn zu prägen, wäre kein Anhänger oder Vorläufer von Pegida imstande gewesen.
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