Westside music

Musikfest 2019 „Amérique“ von Edgar Varèse sollte man „eigentlich ohne Kleider vernehmen, um die Beschallung möglichst allseitig aufzunehmen“, meint Komponistenkollege Dieter Schnebel

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Edgard Varèse
Edgard Varèse

Foto: Wikimedia (Geminfrei)

Am Sonntag Abend standen drei Kompositionen auf dem Programm, deren im Programmheft hervorgehobene Gemeinsamkeit ihr Kosmopolitismus war. Alhambra von Peter Eötvös, Shaar von Iannis Xenakis, Amérique von Edgard Varèse: Jedesmal wurde eine Stadt von Menschen beleuchtet, die sie nicht bewohnten oder nicht ständig bewohnt haben und die auch sonst zwischen verschiedenen Welten pendelten. Ein interessantes Konzert. Eötvös dirigierte auch, leitete die Berliner Philharmoniker. Seine Alhambra ist ein einsätziges Violinkonzert, am Sonntag in deutscher Erstaufführung gegeben. Es geht um die maurische Stadtburg in Granada, wo das gut zwanzigminütige Stück vor zwei Monaten uraufgeführt wurde. Granada, das bedeutet musikalisch, der Komponist misst sich an Werken wie den Nächten in spanischen Gärten (1915) von Manuel de Falla oder der Ibéria (1912) von Claude Debussy. Und er tut es hörbar. Tatsächlich stimmen alle drei Kompositionen darin überein, dass sie sich von Andalusiens Artefakten und dem dortigen Leben an die maurische Vergangenheit erinnern lassen. Eötvös tut es mit leicht modernistischen Mitteln, so macht er das g als ersten Buchstaben von Granada zum „Gravitationszentrum“ des Stücks, ja der ganze Stadtname soll als Kryptogramm zugrunde liegen, aber es klingt doch nicht viel anders als bei den genannten Kollegen. Man kann am ehesten von einem Unterschied der Haltungen sprechen: Debussy beschwört das vergangene Leben als noch fortdauernde Gegenwart herauf, bei de Falla hört man eher die Trauer über Verlorenes heraus, Eötvös beschreibt gleichsam sichtbare Spuren.

Shaar von Xenakis ist ein Stück für großes Streichorchester, uraufgeführt 1983 in Tel Aviv. Der Komponist hat sich von einer kabbalistischen Legende anregen lassen: Jemand versucht, die Macht des Bösen zu brechen und die Welt zu erlösen, dieser Held unterliegt aber der List des Teufels. Den Auftrag zur Komposition hatte Recha Freier, die Kämpferin gegen die Nazis, erteilt. Sie widerstand auch der Legende: In ihrer Fassung gibt es ein Tor in der bösen Welt, durch das der Besiegte dem Teufel doch noch entkommen kann. Die Komposition besteht lange aus kräftigen Unisono-Glissandi der Streicher, die sich durchkreuzen und aneinander reiben, ohne dass Rhythmus sie untergliedert, dann auch aus Clustern. Das Böse ein Flirren, ein Konturmangel? Der Held kann sich nicht einmal abheben, geschweige denn eingreifen. Das Tor seiner Rettung öffnet sich wahrscheinlich da, wo ein Violinist eine Solomelodie beginnt - noch der dichteste Verlauf kann unterbrochen werden.

Noch nie sah ich ein so großes Orchester auf dem Podium Platz nehmen wie das für Amérique von Varèse vorgesehene, es sind mehr als 140 Musizierende. So viele braucht man, um die 1918-21 entstandene Erstfassung aufzuführen (die kleiner besetzte Zweitfassung von 1927 kann man sich in der Digital Concert Hall der Philharmoniker anhören). Varèse hatte einen italienischen Vater und eine französische Mutter. Es war seine erste Komposition nach dem Umzug, 1915, in die USA; vorher hatte er in Berlin und Paris gelebt. Er hat später behauptet, Amérique sei „ein Stück absoluter Musik, völlig losgelöst von den Geräuschen des modernen Lebens“, in der Entstehungszeit bekannte er aber den Zusammenhang mit New York, wo er sich niedergelassen hatte. „Bei der Arbeit in meinem Apartment auf der Westside“, schrieb er, „konnte ich all die Klänge des Flusses hören – die einsamen Nebelhörner, die schrillen und gebieterischen Warnpfeifen – die ganze wundervolle Flusssymphonie, die mich mehr berührte als irgendetwas je zuvor.“ So sind denn auch Sirenen, Bootspfeifen und ein Krähenschrei in den wogenden Orchesterklang integriert; Dieter Schnebel hört den Fluss selber in ihm, denn wie er sagt, sollte man „solche Musik eigentlich ohne Kleider vernehmen, um die Beschallung möglichst allseitig aufzunehmen; in die Klangfülle nicht nur mit den Ohren, sondern ganz einzutauchen“.

Es ist ein bemerkenswertes Phänomen, dass gerade die Musik, ich meine die Konzert-Musik, die wir am meisten mit den USA verbinden, häufig mit Alltags-Geräuschen arbeitet. Soll ich sagen: wir Deutschen, wir Europäer? Denn über das Gesamtwerk US-amerikanischer Komponisten habe ich keinerlei Überblick, denke nur an die beiden berühmtesten, Charles Ives und John Cage. In Ives‘ vierter Sinfonie werden vorbeiziehende Straßenorchester, manchmal mehrere durcheinander, mit der Stille der Wohnungen kontrastiert, deren Fenster man sich als geöffnet vorzustellen hat. Cage lässt dann sogar Autos oder Straßenbahnen hören. Aber nicht erst John Cage, schon Varèse spricht im Zusammenhang mit Alltagsgeräuschen von der „Befreiung des Klangs“. Was bedeutet diese Aufsprengung des musikalischen Binnenraums? Will sie die Kunst realistischer, materialistischer, konkreter machen? Es geht aber nicht einfach darum, ein Inneres mit dem Äußeren zu verbinden, denn das geschieht seit jeher in der Oper. Eher wird die Grenze zwischen ihnen eingerissen, denn das Geräusch gehört so sehr der Außenwelt an wie der komponierten künstlichen Klangwelt. Sicher kann man sagen, dass die „klangbefreite“ Musik gegen eine ältere europäische Subjektphilosophie Einspruch erhebt: Das in der Komposition sich manifestierende Ich ist nicht fertig da, sondern zieht sich gerade erst zu sich zusammen, aus dem Material des umgebenden Außen heraus. Dabei kann es passieren, dass es, um an Schnebels Worte anzuknüpfen, nicht nur eintaucht, oder immer schon eingetaucht ist – uranfänglich „geworfen ist“, statt mit einem Entwurf schon beginnen zu können -, sondern nachgerade untergeht. Bei Cage mag das der Fall sein.

Bei Varèse sicherlich nicht. Durch seine Komposition ziehen sich kaum verhüllte Zitate aus Strawinskys Sacre du Printemps wie ein roter Faden. Ich habe mich gefragt, ob nicht geradezu der Ablauf des Sacre dem Ablauf von Amérique als Strukturmodell zugrundeliegt. Da ich das Stück zum ersten Mal hörte, kann ich es nicht entscheiden. Wie auch immer, das hat Varèse nach Amerika schon mitgebracht. Er kam mit einem fertigen musikalischen Ich, in eine Neue Welt jedoch, wo er wieder ganz von vorn beginnen musste.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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