Widerstand gegen Rentengesetz im Frankreich ist mehr als legitim
Klassenkampf Eine Präsidentschaft ist keine Legitimation für den Bruch der konstitutionellen Grundlagen dieses Regierungsmandats. Der Widerstand gegen das Rentengesetz kann sich darauf berufen, zumal es mit der Rente um existenzielle Fragen geht
Der Protest gegen Emmanuel Macrons Rentenpläne beruft sich auf das Prinzip der Gewaltenteilung, das dem Demokratieverständnis des Westens zugrunde liegt, und das bedeutet, er hat das Zeug zur „Hegemonie“ – er könnte das Scheitern der Regierungspläne durchaus bewirken. Aber sieht die französische Verfassung eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative überhaupt vor? Der Artikel 49.3 lässt daran zweifeln. In seiner ursprünglichen Fassung sah er vor, dass der Premierminister jegliche „Textvorlage“ an der Nationalversammlung vorbei per Dekret in Kraft setzen kann, es sei denn, er wird innerhalb der darauffolgenden 24 Stunden per Misstrauensantrag gestürzt.
So hatte es der erste Präsident der V. Republik,
Republik, Charles de Gaulle, gewollt, der sich und seinen Nachfolgern auch das Recht vorbehielt, den Premier selbst zu ernennen. Seit dem 23. Juli 2008 darf dieser nicht mehr bei irgendwelchen „Texten“ den Artikel 49.3 anwenden, nur bei Haushaltsgesetz- und Sozialversicherungsentwürfen – was den Artikel eher zuspitzt als schwächt, zumal noch ausdrücklich ergänzt wird, er könne es tun, sooft er wolle; nur wenn es sich um Gesetzentwürfe anderer Art handelt, darf lediglich einmal pro Sitzungsperiode (Oktober-Juni) so verfahren werden.Anpassen an DeutschlandMacron hat bereits eine Lockerung des Kündigungsschutzes per Dekret angeordnet. Dieser französische Präsident handelt aus einer ganz bestimmten Motivation heraus: Europa – sagte er 2017 in einer Rede an der Pariser Universität Sorbonne, müsse handlungsfähiger werden; die EU brauche, um „angesichts der Wirtschaftskrisen“ stabil sein zu können, „einen stärkeren Haushalt im Zentrum der Eurozone“, aber auch die Erneuerung eines „Sozialmodells“, das es „auf europäischer Ebene aufzubauen“ gelte. Es war damals schon klar, dass der europäische Haushalt vor allem Deutschland etwas kosten würde und das europäische Sozialmodell, sprich: eine Senkung der französischen Standards, als Gegenleistung gedacht war.Warum glaubt Macron, seine Rentenreform unbedingt durchbringen zu müssen? Weil sie auf das hinausläuft, was in Deutschland gilt. Macron will sich Deutschland anpassen. Der Druck aber, der auf ihm lastet, sind die Wirtschaftskrisen. Die Gewaltenteilung, vor Jahrhunderten unter ganz anderen Umständen formuliert, scheint ein „Schönwetter“-Prinzip zu sein, das den heute immer rauer werdenden Winden nicht mehr standhält.Aus dem französischen Beispiel allein könnte man nicht ableiten, dass die Vereinbarkeit der kapitalistischen Produktionsweise, die sich über endemische und immer umfangreicher werdende Krisen ja gerade entwickelt, mit dem Gewaltenteilungsprinzip immer mehr abnimmt. Aber dieses Beispiel steht ja nicht allein – ein Zug zur Machtkonzentration bei der Exekutive hat sich zuletzt in vielen Ländern gezeigt. Das krasseste Beispiel war Donald Trump: Das „America first“ dieses US-Präsidenten war eine ökonomische Kampfansage an die EU und China. Und Trump ging so weit, sich nach der Präsidentenwahl 2020 sogar vom Votum der Wählerinnen und Wähler unabhängig machen zu wollen.Überhaupt geht es, wenn man China einbezieht, weniger um den Machtzuwachs einer Exekutive, der in China eine Legislative im westlichen Sinn ja gar nicht gegenübersteht, als um Machtkonzentration schlechthin; denn auch in der ungewöhnlichen dritten Wiederwahl Xi Jinpings ist eine solche zu sehen. Paradigmatisch für den ganzen Prozess dürfte sein, was sich 2008 in den Niederlanden abspielte: Damals ergriff die dortige Regierung Maßnahmen zur Bankenrettung, die der Zustimmung des Parlaments bedurft hätten; das Parlament stimmte auch zu, konnte es aber nur noch nachträglich tun. Die Moral war, dass es keine Rolle mehr spielte, ob die Exekutive mit der Legislative oder ohne sie handelte, weil es sowieso keine Handlungsspielräume mehr gab. Es kam nur noch darauf an, das, was unbedingt zu tun war, auch wirklich, und das heißt eben, mit konzentrierter Macht zu tun.Die Gewaltenteilung ist kein überholtes Schönwetter-Prinzip. Der Protest gegen Macrons Rentenpläne bedient sich ihrer nicht als eines bloß nützlichen Instruments, sondern tut das in der Sache Richtige und Notwendige. Denn was ihr zugrunde liegt, ist die Wahl der Legislative, aus der die beiden anderen Gewalten hervorgehen. Sie ist die legitimste Gewalt, weil sie vom Volk gewählt wird. Statt dass man sie aushebelt, wäre sie zu erweitern, auf das Gebiet nämlich, in dem die Kapitallogik wütet. Auch was in der Produktion, auf dem Markt und mit den Sozialsystemen geschieht, wäre vom Volk zu wählen. Aber nur im Klassenkampf, wie er in Frankreich gerade tobt, kann das erreicht werden. Welchen Sinn soll es denn haben, die französischen Renten an die deutschen anzupassen? Statt umgekehrt die deutschen an die französischen? Der französische Protest kämpft auch für die deutsche Arbeiterklasse, die das nur noch nicht begriffen hat.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.