In der Interpretation der Klaviersonaten von Beethoven gab es um 1968 herum einen Einschnitt. Bis dahin hatte man ihn mit Gefühlstiefe und oft pathetisch dargeboten, dann setzte man mehr auf Durchsichtigkeit und nüchterne Spielfreude. Friedrich Gulda ist ein Vertreter dieser Revision, die darauf zurückgeführt werden kann, dass die Werte der Beethoven-Zeit fragwürdig geworden waren. Die neue Pianisten-Generation lebte, wie Werner Oehlmann schreibt, „in einer desillusionierten Welt“.
Das ist nun auch schon wieder sehr lange her. Heute wird die Koreanerin HJ Lim gefeiert, 26 Jahre alt, die wieder Gefühle in den Vordergrund stellt, aber anders als damals: nicht mehr, um eine romantische Spieltradition fortzusetzen, sondern um nach deren unwiderruflichem Abbruch zu rekonstruieren, was Beethoven und seine Zeit bewegt haben mag.
Der "Geist" der Musik
„Historische Rekonstruktion“ ist heute ein Grundzug der Musikaufführungspraxis. Wenn dann nicht nur rekonstruiert wird, wie die Pianos klangen, sondern auch, was der „Geist“ der Musik war, ist das nur konsequent. Aber dann wecken auch die großen früheren Interpreten von Neuem unser Interesse. Einer der Größten ist jetzt wieder aufgelegt worden: Claudio Arrau mit seiner ersten Einspielung aus den Jahren 1964 bis 68 (eine zweite folgte in den achtziger Jahren).
„Beethoven ist unser Zeitgenosse“, behauptete er und sprach von einer „Botschaft des unendlichen Kampfes, der mit dem Triumph der Erneuerung und spirituellen Wiedergeburt endet“. Auf dem Booklet-Foto schaut er uns an mit einem Gesicht, als spiele er traurige Tangos von Piazzolla. So könnte man meinen, er reproduziere nur einen Zeitgeist. Dem ist aber nicht so; seine Interpretation ist streng an den Noten orientiert. Claudio Arrau beharrt nur entschieden darauf, dass Beethovens Musik übers Klingen hinaus auch sprechen will.
"Angstvoll fragend"
Es war Richard Wagner, der sich für seine Musikdramen auf Beethoven berief: In dessen Klängen, schrieb er, habe sich das Wort immer schon angemeldet und gleichsam darauf gewartet, zur Eigenständigkeit entbunden zu werden. Tatsächlich vermitteln besonders Beethovens Klaviersonaten diesen Eindruck. Die späteren verwenden manchmal Rezitativmelodien, so dass man meint, eine Arie müsse folgen. Hätte die Musik aber sprechen können, was hätte sie denn gesagt? Dass es eine fragende Musik sei, ist eine von Arraus Antworten, die zentrale vielleicht. „Angstvoll fragend“ nennt er den Finalsatz von op. 10, Nr. 3. Aber greifen wir ein Hauptwerk heraus, die Waldsteinsonate op. 53. Man hat sie L’aurore, die Morgenröte, genannt. Viele fanden, dass sie mit ihren Anfangsakkorden einem unbekannten Ziel zustrebe. Es ist bei Arrau ein gedankliches Streben.
Der zweite und schon letzte Satz folgt in seiner Deutung einem Frage-Antwort-Schema, wobei sich die Frage musikalisch von der Antwort herleitet: Nach oben tastende Glockentöne verwandeln sich in ein herunterfließendes, zunächst schauerlich leises, dann selbstsicheres Glück. Wie es Arrau gelingt, aus der ganzen Sonate eine ununterbrochene Rede zu machen, ist großartig. Sie kann auch anders gespielt werden. Die genannte HJ Lim etwa hört da, wo Arrau tastend fragt, ein „Pulsieren der Luft“ und „zuckende Lichtblitze auf dem unbekannten, dunklen Meer“. Auch das überzeugt. Man kann sich an ihren kalkulierten Energieausbrüchen berauschen. Aber Arrau bleibt doch unübertroffen.
Ludwig van Beethoven: Complete Piano Sonatas Claudio Arrau, bei DECCA 2012
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