Wie man eine Sozialismus-Debatte erzwingt

Eurokommunismus in Westdeutschland Der Vorstoß der westeuropäischen Parteiführer wirkte als Katalysator und trug zur Bündelung der politischen Kräfte bei

Der "Eurokommunismus" hat in Westdeutschland keine große Bedeutung erlangt, eine größere jedoch als in Spanien, Italien und Frankreich.
Die These mag seltsam klingen; man muss sich aber klar machen, dass die kommunistischen Parteien der zuletzt genannten Länder es nicht nötig hatten, auf die neue Etikettierung zu warten, um ihre Politik des demokratischen Weges zum Sozialismus zu entfalten. Dieser Weg war ja längst beschritten, als der Name "Eurokommunismus" aufkam, und er wurde speziell durch die Namensgebung weder länger noch kürzer. Die italienische und die französische Partei hatten sich bereits nach 1968, als der Prager Frühling erfror, aus dem sowjetischen Herrschaftsnetz gelöst. Für dessen Knoten dürfen wir die damals übliche jahrelange Schulung aller Kader, die irgendwo in der Welt zur Parteiführung ausersehen waren, im Moskauer Lenin-Institut ansehen. Dort traf man Italiener und Franzosen nicht mehr an. Der Verfasser dieser Zeilen, der sich 1973 für zwei Monate in dem Institut aufhielt, erlebte mit, wie Enrico Berlinguer vor der Vollversammlung einen Vortrag über den italienischen Weg zum Sozialismus hielt. Der Parteichef aus Rom, der mit Breschnew konferiert hatte, besuchte anschließend die Kaderschmiede wie ein nicht einmal befreundeter Staatsgast. Sein Vortrag bekam höflichen Beifall; die Diskussion wurde mit der Frage eröffnet, worin der italienische Weg zum Sozialismus bestünde. Die Genossen hatten auf Durchzug geschaltet.
Das Etikett "Eurokommunismus" kam Ende 1975 im Vorfeld der Konferenz europäischer kommunistischer Parteien auf, die 1976 in Ostberlin abgehalten wurde. Als Erfinder werden mehrere italienische Journalisten genannt. Ein italienischer Autor schreibt 1977 gar, der amerikanische Sicherheitsberater Brzezinski stecke dahinter. Ist "Eurokommunismus" als Begriff überhaupt brauchbar? Trotz allem: Ja; denn in dieser Zeit müht sich der PCI um eine kommunistische Strategie auf europäischer Ebene. Der Begriff kann den Versuch bezeichnen, ein neues, nun eben westeuropäisches Zentrum des Weltkommunismus zu schaffen. Dieser Versuch scheitert aber vollständig an den Differenzen zwischen der italienischen, französischen und spanischen Partei.
Der Eurokommunismus lebte also nicht, obwohl er mehr war als ein Gerücht; er war eine Totgeburt. Nur innenpolitisch hatten die genannten Parteien Erfolge. Wenn wir nun aber Westdeutschland betrachten - hier verhält es sich gerade umgekehrt.
Die DKP und die Westberliner SEW bekamen bei Wahlen etwa ein Prozent der Stimmen. Ihre strikte Orientierung an der Moskauer Zentrale, zudem noch an Ostberlin, ließ sie nicht im Traum daran denken, sich westeuropäischen Erfolgsrezepten zu öffnen. Aber da das westdeutsche Leben nun einmal eher dem französischen und italienischen als dem ostdeutschen und russischen glich, gab es trotzdem viele Sozialisten und Kommunisten, die sich für die Rezepte interessierten. Auf sie wirkte Berlinguers europapolitischer Vorstoß wie ein Katalysator.

Auf Gramscis Spuren
Die Universitäten Marburgs und Westberlins waren Hochburgen des an Moskau orientierten Parteikommunismus. Mitte der Siebziger gab es in beiden Städten Studenten und wissenschaftliche Mitarbeiter, die - gerade erst Mitglieder der DKP oder SEW geworden - sie schon wieder hatten verlassen müssen. Sie waren um die Erfahrung reicher, dass es naiv war, Entschlüssen der Parteiführung zu widersprechen. Im Frühjahr 1976 gründeten ein paar enttäuschte, ausgeschlossene oder ausgetretene Marburger und Westberliner Genossen zusammen mit früheren Parteisympathisanten, die ebenso enttäuscht waren, eine eurokommunistische Studiengruppe: den Arbeitskreis Westeuropäische Arbeiterbewegung (AWA). Da Leute in ihm waren, die in Westberlin oder Westdeutschland die gesamte universitäre Parteibasis kannte - so der Marburger Initiator Christoph Kievenheim (er war an der Führung des MSB Spartakus, der DKP-Studenten-Organisation, beteiligt und hatte auch im Frankfurter IMSF, dem Forschungsinstitut der Partei, gearbeitet) -, mussten die Parteiführer eine Gefahr in der neuen Gruppe wittern und taten dies auch.
Der AWA, der seine Arbeit mit einem Studium charakteristischer Veröffentlichungen und Dokumente aus dem Umfeld eurokommunistischer Parteien begann, stieß bald auf die Grundfrage: Wie halten wir es mit der "Diktatur des Proletariats"? Kann noch von Kommunismus die Rede sein, wenn die Formel über Bord geworfen wird, wie es soeben die französische KP getan hatte? Kann jedoch von Demokratie die Rede sein, wenn sie nicht über Bord geworfen wird? So niederschmetternd die Frage fast täglich in der bürgerlichen Presse gestellt wurde, war sie, theoretisch gesehen, doch eigentlich nicht schwer zu beantworten. Der Marburger Juraprofessor Abendroth hatte von einer "kommissarischen" Diktatur gesprochen und damit in Erinnerung gerufen, dass nicht nur Marx und Engels, sondern auch Carl Schmitt den Staat der Neuzeit ganz generell so charakterisierten. Der Begriff sagt aus, dass es Machtbefugnisse nur "kommissarisch" geben soll, also in einem definierten Umkreis der Verhältnismäßigkeit und, vor allem, auf Abruf. In der ursprünglichen, antiken Verwendung des Begriffs sind "Diktatur" und "kommissarische Diktatur" überhaupt dasselbe, nur dass die "Kommissare" im alten Rom nicht demokratisch vom ganzen Volk gewählt wurden. In der Realität moderner Staaten steht dem "kommissarischen" Diktaturtyp nur noch die Erziehungsdiktatur gegenüber, die erstmals in der Französischen Revolution Gestalt annahm. Aus dem AWA ging ein Aufsatz von Rolf Hosfeld hervor, der das sowjetische System als Erziehungsdiktatur kennzeichnete und seinen Modellanspruch entschieden zurückwies. Kurzum: Die Frage "Diktatur ja oder nein" erwies sich als Scheinfrage.
Aber die französische Parteiführung hatte den Begriff "Diktatur des Proletariats" wegen seiner Missverständlichkeit über Bord geworfen. Das war nun selber eine missverständliche, vielleicht "opportunistische" Aktion. Louis Althusser, der bekannteste Parteitheoretiker, widersprach jedenfalls heftig und deckte zugleich "stalinistische" Führungsmethoden im Parteileben auf. So stand der AWA vor der Frage, wie demokratisch der demokratische Kommunismus wirklich war. Er hielt sich mit den Verlautbarungen der "eurokommunistischen" Parteiführer nicht lange auf; die Theoretiker waren interessanter. Althusser wurde damals erst von wenigen gelesen, doch das theoretische Erbe, über das die italienische KP verfügte, bestimmte bald die Arbeit der ganzen Gruppe: die Quaderni del Carcere von Antonio Gramsci. Auf Gramscis Spuren schälte sich ein einfacher Gedanke heraus. Man musste die objektiven Strukturen und Gesetzmäßigkeiten der Politik zum Thema machen. Die Politik war nicht nur Reflex der Ökonomie, sondern folgte einer eigenen Logik, der Gramsci nachgegangen war, indem er sich gerade für das Wechselverhältnis verschiedener Parteien, darunter der kommunistischen, interessiert hatte. Dem Politikverständnis der an Moskau orientierten Parteien, das sich in der "Kunst" einzelner Schachzüge, der "Einschätzung" von "Kräfteverhältnissen" und der "konkreten Analyse der konkreten Situation" erschöpfte, war damit der undemokratische Boden entzogen. Denn nicht nur bürgerliche, auch kommunistische Demokratie musste nun mit Gramsci als bestimmte politische Form statt nur als "Ausdruck" eines "Inhalts" gerechtfertigt werden.
In der Absicht, diesen Gedanken zu propagieren, veranstaltete der AWA im November 1977 eine Konferenz "über methodische Voraussetzungen einer Strategie der Arbeiterbewegung in der BRD". Praktisch die gesamte sozialistische Intelligenz nahm teil: Abendroth und Altvater, Bader und Bischoff, Huffschmidt und Herkommer, Krätke und Narr, Jaeggi und Haug ... Die AWA-Mitglieder fanden hinterher, sie hätten ihr Ziel nicht erreicht. Es war menschlich ein zu großer Mantel für sie. Christoph Kievenheim, der das Eröffnungsreferat halten sollte, befand sich in einer schweren persönlichen Krise, die - wie er meinte - mit Politik nichts zu tun hatte, ihn nur an der politischen Arbeit hindere. Sein Eröffnungsvortrag fiel aus. Im Januar 1978 nahm er sich das Leben. Die Gruppe arbeitete noch zwei Jahre, bevor sie sich an der Frage zerstritt, in welchem Maß sie nicht nur Forschungs-, sondern auch politische Gruppe sein konnte. 1979 gab sie das Buch zur Konferenz heraus, den Sonderband 44 der Zeitschrift Das Argument.

Kräfte der Arbeit und der Kultur


Der AWA hat kaum etwas erreicht, aber auf ein paar Spuren kann man schon hinweisen. Manche Mitglieder haben den politischen Kampf bis heute fortgesetzt. Einer ist jetzt Planungschef in einem grün geführten Bundesministerium. Eine arbeitet im Regierungsapparat des Landes Brandenburg. Einer war Feuilletonchef der Woche. Noch eine Wochenzeitung, bei der einer politischer Redakteur ist, könnte genannt werden. Einer organisiert Lyrikfeste auf Berlins Straßen, auch das ist eine politische Aktion. Als der AWA als Gruppe verschwand, ging der AWA-Impuls in anderen Strömungs- und Gruppenaktivitäten auf. Zum Beispiel interessierte sich nicht nur der AWA für Gramsci. Während er hier vorwiegend als Theoretiker des Parteiensystems gelesen wurde, lasen ihn andere als Theoretiker der "Kultur", der "Intellektuellen" oder der "Zivilgesellschaft". Alle waren jedoch einig: Gramsci lehrt, dass auch kommunistische Macht auf diskursiver "Hegemonie" noch mehr als auf dem demokratisch (kommissarisch) auszuübenden Zwang des Staates basiert.
Die Erfahrung des PCI hatte ein linker Sozialdemokrat wie Detlev Albers - heute Landesparteichef in Bremen - schon seit Anfang der siebziger Jahre auszuwerten begonnen. Er freilich wollte dann weniger von Gramsci als von dem "Austromarxisten" Otto Bauer lernen. Peter Glotz, der 1981 Generalsekretär der SPD wurde, tat sogar so, als seien Gramsci und Bauer dieselbe Person. Auch die Sozialistischen Studiengruppen um Joachim Bischoff, den man später im Parteivorstand der PDS wiederfindet, wollten von der eurokommunistischen Erfahrung lernen. Für die Frage der Eigenlogik politischer Strukturen scheint Bischoff sich nicht interessiert zu haben, aber er wollte die Demokratisierung der Parteien der Arbeiterbewegung vorantreiben. Sein Verlag VSA machte schon 1977 Carrillos "Eurokommunismus" und Staat zugänglich, im selben Jahr, als das Buch auf spanisch erschien. Übersetzt wurde es von dem AWA-Mitglied Hans-Werner Franz.
Den Personen und Gruppen, die 1977 an der AWA-Konferenz teilgenommen hatten, begegnet man von Neuem auf drei Sozialistischen Konferenzen 1980, 81 und 82. Vom Eurokommunismus sprach niemand mehr; es ging jetzt um die Grünen. Aber das war nicht wirklich ein Themenwechsel. Die Brücke wird durch eine Person geschlagen: Rudolf Bahro. Warum wird Bahro von dem belgischen Trotzkisten Ernest Mandel - in seinem Buch Kritik des Eurokommunismus (1978) - als Eurokommunist eingestuft? Weil er in Die Alternative (1977), mit einem Begriff von Gramsci, den "historischen Block" fordert, in dem auch Intellektuelle und technische Kader für den Kommunismus kämpfen sollen. "Diesem Teil von Bahros Werk", meint Mandel, "kommt das Verdienst einer brutalen Offenheit zu, die bei dem größten Teil der italienischen, französischen und spanischen kommunistischen Parteiführer kaum anzutreffen ist"; denn "die eurokommunistische Strategie basiert in der Tat gerade auf einer Ablehnung des revolutionären Potentials der Arbeiterklasse".
Der in die Bundesrepublik abgeschobene Bahro ist die zentrale Figur der Sozialistischen Konferenzen. Das "Potential" sieht er inzwischen in den ökologischen, feministischen und antimilitaristischen Bewegungen. Er spaltet die Zweite Sozialistische Konferenz, indem er der Mehrheit kurzfristig eine andere Tagesordnung aufzwingt. Während die meisten noch nach Wegen zur sozialistischen Einheit suchen, rekrutiert er schon nur noch Mitglieder für die neue grüne Partei.
Das war logisch. Auf der AWA-Konferenz waren die an Moskau orientierten Parteien nur leise kritisiert worden; eine seltsame Angst, sie zu verschrecken und sich dadurch von "der Arbeiterbewegung" zu entfernen, hatte fast den Debattengeist erstickt. 1981 war dergleichen immer noch zu befürchten. Die DKP berief sich auf "die Arbeiterbewegung", um den Massenprotest gegen die wachsende Kriegsgefahr nur auf die NATO zu lenken und die Rolle Moskaus eher auszublenden. Im selben Jahr gelang es dem Sozialdemokraten Erhard Eppler, sich an die Spitze dieses Protests zu stellen: Auf der Kundgebung der 100.000 in Bonn sagte er, man dürfe sich trotzdem nicht von "der Arbeiterbewegung" distanzieren. Das war, wie alle verstanden, die Aufforderung, SPD zu wählen. Trotzdem kamen 1982 die Grünen in den Bundestag. Sie wurden bis zum Ende der achtziger Jahre von Sozialisten geführt. Eine "eurokommunistische" Entwicklung? Jedenfalls verfolgten auch Marchais, Carrillo und Berlinguer eben dieses Ziel: die "neuen sozialen Bewegungen" zu integrieren. Denn nur mit ihnen zusammen ließ sich eine Mehrheit erringen. Und an der Mehrheit hing der demokratische Weg zum Sozialismus.
Auch was die Sozialisten in den Grünen versuchten, gelang nicht. Man wünscht sich im Nachhinein, sie hätten jenen Diskurs "über methodische Voraussetzungen einer Strategie" nicht so schnell ad acta gelegt. Aber das Desinteresse an Theoriefragen gehört nun eben auch zur politischen Logik. Deshalb ist der Kreis um Wolf Haug und die Zeitschrift Das Argument so wichtig. Haug hatte sich nach 1970 an die DKP angelehnt, ihr aber seit 1976 eine "Sozialismus-Diskussion" aufgezwungen. Bei der Gründung des AWA spielte er wahrscheinlich im Hintergrund seine Rolle. Er ließ die Gruppe jedenfalls in seiner Zeitschrift publizieren. 1980, als es den AWA nicht mehr gab, initiierte Haug die Volksuni. Er gab ihr Carrillos eurokommunistische Formel zum Programm: "Die Kräfte der Arbeit und der Kultur" müssten zusammenkommen. Die "Kultur", das waren die neuen sozialen Bewegungen. Haug fügte noch die "Kräfte der Wissenschaft" hinzu.
Auch die Glanzzeit der Volksuni ist längst vorbei. Aber Haug ruhte nicht, er brachte die Übersetzung von Gramscis Quaderni del Carcere in Gang. Die SED hatte sich stets gehütet, das zu tun. 1999 ist der letzte Band erschienen. Jetzt brauchen die neun Bände nur noch studiert zu werden.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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