Angst vor dem Abstieg, Radikalisierung nach rechts - nicht selten wird die Neuauflage dieses Musters gefürchtet, das in der Weimarer Republik den Nationalsozialismus begünstigte. Damals war es eine Entwicklung im Kleinbürger- und Kleinbauerntum. Und heute? Treffen wir unter heutigen Neonazis nicht ebenso viele Proletarier wie Kleinbürger an?
Die Fokussierung auf Kleinbürger war schon damals nur die halbe Wahrheit. In der Weltwirtschaftskrise nach 1929 verloren nicht nur Handwerker Kunden und Bankkredit, standen nicht nur Bauern vor dem Aus, sondern auch das kleine bis mittlere Kapital konnte sich in der verschärften Konkurrenz oft nicht mehr halten. Man sollte es nicht seinerseits zum Kleinbürgertum rechnen: Dessen trennscharfer Begriff ist, dass es sein kleines Eigentum in ungefähr gleicher Werthöhe zu bewahren versucht, und zwar durch Unternehmer- oder sonstige "selbstständige" Tätigkeit - während man jegliches Kapital, egal wie groß seine Wertmasse ist, an der Strategie unendlicher Mehrwertgewinnung erkennt, also an der "erweiterten Reproduktion". Nein, gerade weil Kleinbürger und -bauern einerseits, kleines bis mittleres Kapital andererseits verschiedene Klassen waren und weil beide in die Krise gerieten, konnte es zur Weimarer Katastrophe kommen. Denn die Kleinbürger und -bauern als solche waren nur eine sich nach rechts radikalisierende Massenbasis, aber zu den herrschenden Klassen gehörten sie nicht. Umgekehrt war das kleine bis mittlere Kapital zwar Bestandteil des "Machtblocks" (der Einheit aller herrschenden Klassen), auf dessen Boden im Staat regiert wurde, es war aber zahlenmäßig unbedeutend wie alles Kapital. Erst durch die Verbindung beider Kräfte - der Masse und der Macht - und durch den Umstand, dass auch noch andere Teile des Machtblocks teilnahmen, wurde das faschistische Gebräu zum übermächtigen Faktor.
Heute ist vieles anders. Es gibt zum einen keinen Grund mehr, die Abstiegsangst vor allem an der Klasse der Kleinbürger und Kleinbauern festzumachen. Die Angst der Kleinbürger vor der Proletarisierung ist heute der Angst von Kleinbürgern wie Arbeitern vor Hartz IV gewichen. Nach 1929 orientierten sich Arbeitslose nach links, wählten die KPD, verwandelten ihre Angst in die Hoffnung auf eine neue, nicht mehr kapitalistische Gesellschaft, die in der Sowjetunion Gestalt anzunehmen schien. Eine analoge Hoffung einzuflößen, hat die heutige Linkspartei weder Fähigkeit noch Mut. Was die Kleinbürger angeht, haben sie ihren Charakter gewandelt. "Proletarisiert" sind viele längst - man spricht nicht zufällig von "Scheinselbstständigkeit", wozu im weiteren Sinn auch all die "Zulieferer" gehören, die in heutigen ökonomischen Netz eine so große Rolle spielen -, und so haben sie zwar noch einen Begriff von Kleineigentum, an dem sich ihre Mentalität festklammert, das sie also angstvoll gegen den Absturz verteidigen; aber als dieses Eigentum schwebt inzwischen hauptsächlich das pure Geld vor, das dazu befähigt, auf großem Fuß zu konsumieren. Das ist bei vielen gut verdienenden Proletariern nicht anders.
Der Angst dieser Klassen entspricht aber heute keine Angst einer Fraktion der herrschenden Klassen. Das heutige kleine bis mittlere Kapital steht unter Globalisierungsbedingungen gut da, ist häufig sogar zu "Weltmarktführern" aufgestiegen, kann sich im "outsourcing" der billigsten Arbeitskräfte oder hierzulande auch der Früchte verlängerter Arbeitszeit bedienen. Es bildet zusammen mit ebenso globalisiertem großem Kapital eine neue Kapitalfraktion, die es zu Hitlers Zeiten noch nicht gab. Da diese Fraktion überhaupt keinen Grund hat, die ökonomische Entwicklung zu bedauern, kommen Kapitalmacht und angsterfüllte Masse erst einmal nicht zueinander. Deshalb spielt das Neonazitum bis heute nur eine marginale Rolle in der Politik. Würde freilich die neue Kapitalfraktion von den Opfern der Globalisierung politisch angegriffen, oder wollte es einem solchen Angriff vorbeugen, könnte es die faschistische Neuauflage durchaus versuchen.
Dies würde nicht spontan geschehen wie seinerzeit, sondern aus kühler Kalkulation, und eine solche kann man durchkreuzen, wenn man sie frühzeitig erkennt. Man darf nur nicht erwarten, ein neuer Faschismus sähe ungefähr so aus wie der alte. Die heutigen Neonazis sind schwerlich sein Modell. Eher muss man auf die paralegalen Netze schauen (Plan eines "Nationalen Sicherheitsrats", der das Parlament ausschaltet, Zusammenarbeit "privater" Geheimdienste mit Libyen), die vom heutigen Staat schon prophylaktisch aufgebaut werden.
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