Diese Partei schreibt so fleißig Programme, und die Medien gucken kaum hin. Sie beobachten viel lieber die Konkurrenz um Führungsposten. Aber so wird man den Grünen nicht gerecht, deren große Stärke nun einmal die Programmatik ist. Auch der Erfurter Parteitag fasst wieder bewundernswerte Beschlüsse. Beschlüsse? Es sind eher hervorragende Analysen, die, wenn es mit rechten Dingen zuginge, von allen Seiten begeistert aufgegriffen werden müssten. Leider geht es nicht mit rechten Dingen zu, so dass höchstens die Hoffnung bleibt, die Grünen selber seien nicht nur in der Analyse stark, sondern auch in der praktischen Umsetzung; das aber ist leider nicht der Fall.
Das Dilemma zeigt sich schon in der ersten Debatte. Die traditionelle Klimapolitik wird weiterentwickelt: Nachdem noch der letzte Parteitag geglaubt hatte, die Gesamtumstellung auf erneuerbare Energien könne bis 2050 warten, setzt sich jetzt die Basis, unter Anleitung des unermüdlichen Hans-Josef Fell, mit der Vorverlegung auf 2030 durch. Dabei zeigt der Beschlusstext zum "Kohlemoratorium" genau auf, was der vermeidbare Bau von 29 geplanten Kohlekraftwerken stattdessen bedeuten würde. Die von der Bundesregierung proklamierten Klimaschutzziele könnten unmöglich eingehalten werden. Wenn das die Medienvertreter läsen, würden sie nicht solchen Unsinn schreiben: Die Grünen zeigten Sehnsucht nach der chaotischen Gründerzeit, und dergleichen mehr. Aber genau diesen Eindruck ruft das Führungspersonal hervor, das die Grünen immer noch haben, indem es über Fells Antrag entsetzt ist und ihn winkeladvokatisch abschwächt. Nach Jürgen Trittins Intervention ist nur noch von einem Versuch, es bis 2030 zu schaffen, die Rede. Das haben die Medien genau verstanden: Trittin verhindert "das Schlimmste", tritt der wild werdenden Basis entgegen.
Zum anderen haben sie auch kluge Schlüsse aus der Niederlage beim Kraftwerk Moorburg gezogen. Es wird genau analysiert, wie wenig das vorhandene Umweltrecht Klagen gegen solche Ungetüme begünstigt. Detaillierte Vorschläge zur Rechtsbesserung werden vorgelegt, auf nationaler wie auf EU-Ebene, damit die Behörden den Bau verhindern können. Gegenwärtig haben sie "kaum eine juristische Handhabe", lesen wir nun einerseits. Das hält die Partei aber andererseits nicht ab, "die Klage des BUND gegen die Genehmigung des Kohlekraftwerks Moorburg" zu "begrüßen". Also meinen sie doch, eine geringe juristische Chance gebe es jetzt schon, und man fragt sich, warum ihre eigene Hamburger Senatorin sie nicht ergriffen hat. Hier zeigt sich die ganze Hilflosigkeit: eine Partei, die es "begrüßt", wenn man ihre Politik bekämpft!
Neben der Klimapolitik steht naturgemäß die Finanzkrise im Zentrum dieses Parteitags, der zeitgleich mit dem Washingtoner Finanzgipfel stattfindet. Dazu gibt es den längsten Beschluss, und er hat es in sich. Die Grünen fordern nicht nur, wie das jetzt viele tun, dass man die Steueroasen schließen, neue Finanzprodukte radikal kontrollieren müsse und so weiter. Sie erinnern vor allem an die anderen Krisen - Klimakrise, Hungerkrise - und stellen fest, dass man sie nur alle im Zusammenhang oder gar nicht bewältigen kann. Dies wird passend als "grüner New Deal" bezeichnet. Der Begriff war in den frühen neunziger Jahren schon einmal lanciert worden (von Willi Brüggen und Ludger Volmer), er meinte damals den Deal, dass sich Beschäftigte und Mittelschichten auf ein sozial und ökologisch orientiertes Bündnis einigen sollten. Heute kommt er dem ursprünglichen Sinn, den er beim amerikanischen Präsidenten Roosevelt hatte, so verblüffend nahe, dass man an dessen "drei Säulen" direkt anknüpfen kann: "einer strikten Regulierung des entfesselten Finanzsektors, massiven Investitionen in eine Reihe von Infrastrukturvorhaben, der Bereitstellung von Finanzmitteln für sozialen Ausgleich und die öffentliche Infrastruktur durch eine progressive Besteuerung". Genau dasselbe sei jetzt notwendig, sagt der Beschluss und fordert Investitionen in die ökologische und soziale Infrastruktur.
Das bedeutet, der Staat müsste gewaltige Finanzmittel in die Produktion stecken: 15 Milliarden Euro in ökologische Projekte wie Kraft-Wärme-Kopplung und Schienenwege, zwölf Milliarden für Kindertagesstätten und zusätzliche Studienplätze. Die bloße Idee macht die Medien so verlegen, dass sie sich freiwillig entlarven. Eine gigantische Verschuldung werde von grünen Utopisten geplant - als ob der Staat nicht gerade zur Zeit Milliarden in Banken pumpt, ohne irgendeine bestimmte Kreditpolitik von ihnen zu verlangen.
Die Partei ist zu keynesianischer Politik zurückgekehrt, auch wenn die Anführer behaupten, sie hätten es schon immer gesagt. Die "grüne Marktwirtschaft" sei schließlich schon voriges Jahr beschlossen worden, und da habe man bereits Kontrollen gefordert. Aber niemals hätten sie voriges Jahr durchgehen lassen, was jetzt allen einleuchtet: dass man den Banken nur um den Preis der Teilenteignung aushelfen solle. Der Beschluss schlägt vor, der Staat solle im Gegenzug Aktien erhalten, damit er über die Linie des Unternehmens mitentscheiden kann. Die Delegierten gehen über die Selbstrechtfertigung der Anführer fast gelangweilt hinweg. Ein bisschen Selbstkritik stünde dem Beschluss gut an, mahnt einer, habe man doch in der Schröder-Zeit selbst zur Deregulierung der Finanzmärkte beigetragen. Die Anführer sind "über ihren Schatten gesprungen", äußern mehrere unbeirrt und zufrieden.
Aber dass es immer noch dieselben Anführer sind, versteht sich nach der Logik des Beschlusses nicht von selbst. Denn dort liest man, die Kontrolle der Finanzmärkte solle nicht von G8, Weltbank oder Welthandelsorganisation ausgeübt werden - die bisher das Heft in der Hand hielten, um es niemals aufzuschlagen -, sondern von der UNO. Bei den Grünen ist es doch ebenso fraglich, ob eine Abbildung der neuen Politik in der überkommenen Leitungsstruktur gelingen kann. Der Fraktionsvorsitzende Kuhn wurde abgestraft, weil er die neue Afghanistanpolitik der Partei im Bundestag "aus Gewissensgründen" ignorierte: Er ist aus dem Parteirat geflogen. Trotzdem bleiben er und Trittin im Führungsquintett, dem auch noch Claudia Roth, Renate Künast und seit diesem Wochenende Cem Özdemir angehören. Hat die Partei keine andere Wahl? In dieser Führung spiegelt sich die zunehmende Linksverschiebung der Partei nicht wider. Es gibt auch keine Hoffnung, an ihrer Unfähigkeit, schöne Programme umzusetzen, könne sich je etwas ändern. Sie reden zu sehen, tut fast körperlich weh: So viel schauspielernde Leidenschaft und aufgesetzte Entschlossenheit, als riefen sie die Massen zur Revolution auf - wer ihnen zusieht, soll wohl vergessen, wie oft die Partei schon umgefallen ist.
Einzig von Özdemir gewinnt man ein anderes Bild. Er ist Realo, auch seine Wahl spiegelt die politische Entwicklung der Partei nicht wider. Bekannt ist zum Beispiel seine Offenheit für schwarz-grüne Bündnisse. Die übrigens gar kein Problem zu sein bräuchte. Wer würde sie noch kritisieren, wenn die Hamburger Grünen tatsächlich das Kraftwerk Moorburg zu Fall gebracht hätten? Höchstens doch diejenigen, die nicht wahrhaben wollen, dass die SPD im Prinzip genauso prokapitalistisch und antisozial agiert wie die Unionsparteien.
Nein, das Problem ist ein anderes: Politiker, die im Spannungsfeld dieser nur wenig verschiedenen Parteien grüne Inhalte durchsetzen wollen, brauchen viel mehr Stehvermögen, taktischen und strategischen Sinn, als die überkommene Führungsriege aufzubringen vermag. Von Özdemir hat man wenigstens den Eindruck, er reiche an das gewöhnliche Politiker-Format heran. Sein Auftritt ist kühl. Hart scheint er auch zu sein, hat er doch schon einige Höhen und Tiefen in seiner Karriere durchlitten. Menschen wie er oder Tarik Al-Wazir, der auch ein Realo ist, können der Partei vielleicht immer noch mehr nützen als jene aufgeregt herumfuchtelnden, ihr "Linkssein" wie eine Monstranz vor sich hertragenden Schauspieler.
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