Eskalation Wladimir Putin droht mit Atomwaffen. Moskau ist in die Enge getrieben. Doch statt eine Verhandlungsbereitschaft auszuloten, denkt der Westen über militärische Reaktionen auf mögliche russische Nuklearschläge nach
Die Nonchalance, mit der dieser Mann über einen Atomwaffen-Einsatz spricht, macht ebenfalls wütend
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Es ist nun vorstellbar geworden, dass ein nuklearer Krieg begonnen wird, jetzt, in den nächsten Wochen oder Monaten. Das ist eine ganz neue Erfahrung. In meiner Generation hatten wir zwar geglaubt, wir müssten uns das quasi täglich vorstellen, und taten es auch, damals im Kalten Krieg zwischen dem kapitalistischen Westen und der Sowjetunion. Die Angst vor dem Atomkrieg war omnipräsent. Am Ende sagte man sich freilich, das Atomwaffenarsenal auf beiden Seiten habe den dritten Weltkrieg gerade verhindert, eben weil kein Zweifel bestand, dass er atomar geführt werden würde. Einen Sieger konnte es ja nicht geben, gemeinsam würden die Kontrahenten untergehen und mit ihnen die ganze Welt – da das niemand wollte, fand er nicht statt.
Aber heute erst sehen wi
t sehen wir, wie weit entfernt der Atomkrieg wirklich war, weil wir nun wissen, wie es ist, wenn er nahe heranrückt: Er muss, wie jede mögliche Praxis, erst einmal operationalisiert werden! Wer das tiefgefrorene Gemüse kochen will, kann es ja auch nicht einfach in den Kochtopf legen. Er oder sie muss vielmehr die Packung öffnen, dann den Inhalt reinschütten, etwas Wasser zugeben, vielleicht auch einen halben Brühwürfel, und zuletzt noch die richtige Temperatur einstellen. So geht das. Wie fängt man einen Atomkrieg an, was sind seine ersten Schritte? Davon hat man damals in den Jahrzehnten des Kalten Krieges nichts gelesen. Das ist jetzt anders.Am 22. September führte die Washington Post in das Thema ein. James Cameron vom Oslo Nuclear Project der Universität Oslo befasste sich dort mit der Ankündigung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, es würde eine Teilmobilmachung der russischen Streitkräfte geben und in vier russisch besetzten Gebieten der Ukraine würden Referenden über einen Anschluss an die Russische Föderation abgehalten. Mit dieser Ankündigung reagierte Putin auf Niederlagen seiner Streitkräfte in der Ukraine. Da er die Drohung hinzufügte, einen Angriff auf russisches Gebiet notfalls mit Atomwaffen zu beantworten, stellte sich die Frage, ob dies auch für den Fall gelten sollte, dass ukrainische Truppen Gebiete zurückeroberten. Denn die würde Putin nach den (Schein-)Referenden zu Russland zählen. An der westlichen Reaktion war neu – wenn man Cameron folgte –, dass bei früheren nuklearen Drohungen vonseiten Putins stets gesagt worden war, der russische Präsident bluffe nur, man solle sich nicht einschüchtern lassen: Jetzt lasen wir, dass „einigen Analysten“ zufolge Putins neuerliche Warnung „den Spielraum für einen russischen Ersteinsatz von Atomwaffen ausweitet“.Bisher war zumindest in Deutschland stets kommuniziert worden, Verhandlungen mit Russland seien erst sinnvoll, wenn kein Diktatfrieden mehr drohe, Russland in die Enge getrieben sei. Das war es nun, aber statt auszuloten, ob es in Moskau Verhandlungsbereitschaft gebe – die Signale waren zwar nicht ermutigend, konnten es aber gar nicht sein, da die russische Führung um Gesichtswahrung bemüht sein musste –, wurde im Westen laut Cameron über Reaktionen auf russische Nuklearschläge nachgedacht.Das hieße also: Der Westen hätte abgewartet, nicht etwa bis Russland zu günstigen Bedingungen verhandlungsbereit sein, sondern bis es seine Atomwaffen ins Spiel bringen würde, und das in der Erwägung oder gar Absicht, dieses Spiel dann mitzuspielen.Russland, so Cameron, würde es immer noch darum gehen, mit dem Atomkrieg „nur“ zu drohen. Die Drohung würde nun aber in ersten kleinen Schlägen bestehen, mit taktischen Atomwaffen, die als Hinweis auf den Willen, notfalls auch stärker zuzuschlagen, gelten sollten. So könnte Putin einen „Demonstrationsschlag“ im Schwarzen Meer anordnen. „Er könnte die Ukraine auch direkt angreifen, ein militärisches Ziel oder vielleicht sogar eine ukrainische Stadt. Putin könnte diese Optionen nacheinander einsetzen, um der Ukraine Zeit zum Einlenken zu geben“, oder dem Westen, damit er Druck auf die Ukraine ausübt.Der Westen aber würde sich nicht einschüchtern lassen. US-Präsident Biden hat das in allgemeinen Worten schon erklärt: Je nachdem, wofür sich Putin genau entscheide, werde eine angemessene „Reaktion erfolgen“. Da hätten sich, so Cameron, die „nichtstaatlichen Analysten“ gefragt, was das für Reaktionen sein könnten: nichtnukleare auf jeden Fall; denkbar wären „konventionelle Schläge gegen die russischen Streitkräfte, um die Einheiten zu bestrafen, die den Angriff verübt haben“. Auch würde man „die ukrainischen Truppen bei der Vertreibung Russlands aus ihrem Gebiet unterstützen“.Mit anderen Worten, die NATO würde als NATO auf ukrainischem Boden gegen Russland Krieg führen. Sie verhielte sich, als gehöre die Ukraine der NATO an und der Bündnisfall sei eingetreten. Die nächste Frage wäre nun, wie wiederum Russland reagieren würde. Sich geschlagen geben? Oder seinerseits eine NATO angreifen, die auch in Deutschland stationiert ist? Die Hoffnung ist zweifellos, dass Russland sich geschlagen gibt. Die Haltung aber: Schaun mer mal. Das werden wir ja sehen, ob der große Atomkrieg kommt oder nicht kommt. Sind wir denn Propheten?Die NATO als KriegsparteiNun könnte man sich mit zwei Vermutungen trösten, in deren Licht die Lage nicht ganz so düster aussähe. Erstens, es ist ja nur von „Analysten“ die Rede gewesen. Was die fantasieren, kann uns egal sein. Und zweitens, selbst wenn die westlichen Regierungen so dächten, wie die Analysten sich das vorstellen, würden sie doch nicht wirklich ihre Armeen oder Luftwaffen oder beides in die Ukraine schicken: Sie behaupten das jetzt nur, um Putin abzuschrecken. Aber beides ist zu kurz gedacht – Pfeifen im Walde.Ad eins: Cameron hat wohl nicht alles gesagt, was er wusste. Denn in der FAZ lesen wir am 26. September, die in der Washington Post beschriebenen NATO-Reaktionen, und so der „konventionelle Schlag gegen russische Stellungen in der Ukraine“, habe „Washington mit seinen Bündnispartnern beraten“. Ad zwei: Weil das nun ausgesprochen ist, wird die NATO glauben, so auch handeln zu müssen, falls Putin sich nun doch nicht abschrecken lässt. „Der nächste Schritt läge dann wiederum bei Putin“, schreibt die FAZ: „Er müsste entscheiden, ob er die Vereinigten Staaten beziehungsweise die NATO zur Kriegspartei erklärt.“ Schaun mer mal!Man muss der FAZ dankbar sein, dass sie uns unterrichtet. Und offenbar nicht in der Absicht, noch mehr Öl ins Feuer zu gießen. Am 28. September warnt Nikolas Busse im großen FAZ-Kommentar auf Seite eins: Wir geraten in „eine Situation, für die es in der modernen Weltgeschichte keinen Präzedenzfall gibt“. In Deutschland habe man sich „eine oft erstaunlich leichtfertige Debatte über die Lieferung von Kampfpanzern geleistet“ – warum: weil man in „Bidens Strategie“ einen „vermeintlichen Schutz“ sah! Vielleicht schützt sie gar nicht, vielleicht bedroht sie uns? Das sagt Busse nicht, mag aber sein, er denkt es.Es ist schlimm, dass sich keine große Friedensbewegung anzubahnen scheint. Wir werden doch wirklich für dumm verkauft: Obwohl die Ukraine der NATO nicht angehört, sollen wir jetzt glauben, die NATO müsse offen intervenieren, weil Russland sie sonst nicht mehr ernst nehme. Als hätte das nie jemand ahnen können. Dass Putin eher Atomwaffen einsetzt, als zu kapitulieren, wurde doch schon in den ersten Kriegswochen diskutiert.Aber ich frage mich, ob die große Friedensbewegung vielleicht doch nicht ausfällt. Wie war es um 1980 herum, als die NATO in Westdeutschland Pershing-II-Raketen und Marschflugkörper aufstellte, von denen sich die Sowjetunion unmittelbar bedroht fühlen musste? Wir glaubten seinerzeit, der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, ein Sozialdemokrat, habe solche Waffen gefordert. In Wahrheit waren sie von den USA geplant worden und Schmidt, in der Form seiner Forderung, informierte darüber.Das löste damals die große Friedensbewegung aus. Zu wünschen wäre, dass wir uns heute von der FAZ warnen ließen. Die deutsche politische Klasse, einschließlich der Bundesregierung und auch der CDU/CSU-Opposition, sieht wahrscheinlich mit Sorge auf die Entwicklung, traut sich aber nicht, es auszusprechen. Die FAZ, immer noch auf ihre Art eine bürgerliche Zeitung, die sich verantwortlich fühlt, macht dazu eine Andeutung. Das sollte uns aufwecken, und es sollte den Bundeskanzler aufwecken. Olaf Scholz hat geschworen, er werde „Schaden von ihm wenden“, vom deutschen Volk. Wann, wenn nicht jetzt.
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