Wohl dem, der lieben kann

Kulturindustrie Wir zahlen Eintritt ins Museum, und Netflix will uns süchtig machen: Können wir Kunst überhaupt noch genießen, ihr begegnen?
Ausgabe 51/2018
Wohl dem, der lieben kann

Fotos: Getty Images (2)

Zum guten Leben gehört der Genuss, zum Genuss die Genussfähigkeit, zu den Genüssen der Kunstgenuss. Genießen aber ist nicht Konsumieren. Wer Kunstwerke konsumiert, erfährt sie nicht als Kunst. Dies scheint darauf hinzudeuten, dass es überhaupt ein Unding ist, Kunst in der Warenform zu erfahren. Aber anders als warenförmig können uns Kunstwerke gar nicht begegnen. Um den „archaischen Torso Apollos“ zu sehen, den Rainer Maria Rilke besingt, müssen wir den Louvre besuchen und dafür Eintritt zahlen. Rilke macht den Besuch dieses Torsos zum Paradigma von Kunst überhaupt. Wer fähig sei, Kunst zu genießen, der fühle sich von diesem bloßen Rumpf eines Körpers so wahrgenommen, wie er selber ihn wahrnehme: „Da ist keine Stelle, die dich nicht sieht.“

Wenn das stimmt, wäre Kunstgenuss Begegnungserfahrung. Aber welcher Tourist wird sich dafür öffnen können? Der Torso ist nur eins von Tausenden Kunstwerken, für deren Anblick er bezahlt hat und an denen er nun vorbeieilt. Für die Mona Lisa wollte er sich Zeit nehmen, aber da stehen schon so viele, dass sie das Bild verdecken. Ein Bild, das nun wirklich auch selber sieht, ihn ansehen würde, mit leicht spöttischem Blick, dabei nicht unliebenswürdig, nur dass die Menschentraube davor es verhindert. Die Konkurrenz, könnte man auch sagen. Alle sind nämlich darauf aus, den bezahlten Konsum voll auszuschöpfen.

Viele können sich nicht einmal vorstellen, dass so etwas wie Kunstbegegnung überhaupt erstrebenswert sei. Sie würde doch offenbar Mühe machen. Man setzt sich lieber vor den Bildschirm und „zieht“ sich eine Netflix-Serie „rein“. Ist das nicht auch ein Genuss? Die Warenform zeigt sich hier darin, dass die Serie süchtig machen will. Je mehr Menschen süchtig werden, desto größer ist der Gewinn. In jeder Folge sehe ich dieselben Personen und gewöhne mich an sie. Und es geht wie im Leben zu, das gefällt mir. Da ist jemand rücksichtslos, er oder sie ringt sich zum Verzeihen durch, oder wird verlassen. Es ist dennoch nicht wie im wirklichen Leben. Dort geht das Verlassenwerden vom anderen Menschen aus, über den ich nicht verfüge. Vor dem Bildschirm sitzend sehe ich aber nur zu. Ich bin gar nicht im Spiel. Da geschieht dann auch nichts, was mich überraschen könnte. Deshalb ist es ein bescheidener Genuss. Wer wollte bestreiten, dass es ein Genuss ist, geliebt zu werden? Dafür brauche ich den anderen Menschen, der mir natürlich Mühe macht, einfach weil er anders ist. Streit und Verzeihen werden für uns der Alltag sein. Wer lieben kann, freut sich darüber. Mühe ist also kein Argument gegen den Liebesgenuss – warum soll sie gegen den Kunstgenuss sprechen? In der Kunst begegnet mir das Andere, das mich betroffen macht, ganz wie mich die Liebe „berührt“.

Ästhetik. Ware. Widerstand

Es ist nicht wirklich die Warenform, die mich von dieser Begegnung abhält. Wann wäre Kunst jemals nicht warenförmig gewesen? Sie wurde immer verkauft, und wenn etwa Shakespeare seine Dramen mit viel Unterhaltung spickte, mit Falstaff zum Beispiel, dem Saufbruder, dann auch um der Größe des erhofften zahlenden Publikums willen. Aber Unterhaltung und Unterhaltung ist nicht dasselbe. Die Unterhaltung der Kunst hat „apollinischen“ Charakter, wie Nietzsche das nannte. Das will sagen, sie liegt wie ein schön gestickter Schleier über dem, was mich betroffen machen wird, wenn ich bald anfange, durch ihn hindurchzusehen. Der bloße Umstand, dass wir bezahlen, macht diese Verwandlung, auf die es ankommt, nicht unmöglich. So sehen wir bald neben Falstaff den König, der sich darin, in seiner Jugend ein Saufbruder gewesen zu sein, nicht erschöpft. Aber in einer Netflix-Folge weist die Unterhaltung nicht über sich hinaus, vielmehr nur auf ihre unendliche Wiederholung. Weil sie nur süchtig machen will.

Das ist der Charakter einer bestimmten Warenform, der kapitalistischen. Kunst und Kapital sind allerdings Feinde. Aber selbst das Kapital kann den Kunstgenuss nicht verhindern. Es ist ja nicht verboten, im Louvre nur den Torso Apollos zu besichtigen. Ich werde freilich Menschen brauchen, die mir die Begegnung vermitteln. Das heißt, ich muss solchen Menschen begegnen. Oder muss selbst einer sein, der anderen hilft. Darin übrigens besteht das Programm, das Peter Weiss in seinem Roman Die Ästhetik des Widerstands entwirft. Ja, die kleine Gruppe von Menschen, die dort den Pergamonaltar anschaut, besteht aus kommunistischen Kämpfern.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden