Worin besteht die Klimakatastrophe?

Europawahl Die Ökologie der Grünen, Teil 2. Was wird der Westen tun? Seinen Planetenverbrauch mit Waffen gegen den Rest der Welt verteidigen?

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Auswirkungen des Klimawandels: Der schmelzende Rhonegletscher.
Auswirkungen des Klimawandels: Der schmelzende Rhonegletscher.

Foto: Fabrice Coffrini/AFP/Getty Images

Beginnen bei Teil 1

Wie wir sahen, verfügen die Grünen über eine „industriepolitische Strategie“, die unter dem Strich nur in der Förderung vermehrter technischer Effizienz besteht. Wenn ihr Europaprogramm 2019 auch ein paar ganz knappe Hinweise auf Suffizienz enthält, sind sie doch nur genau das, was Sigmund Freud Verdrängung nennt: Den Verfasserinnen ist offenbar bekannt, was nottäte, sie haben es aber so isoliert, dass es im Kontext des Gesamtwissens, und damit im Handlungskontext, keine Rolle spielen kann.

Aber vielleicht tut es ja gar nicht not? Vielleicht muss sich die Kritik nur gegen das propagierte Handeln „gemeinsam mit der Fahrzeugindustrie“ richten, einer bekanntlich kapitalistisch produzierenden Industrie? An dieser Stelle sollten wir etwas weiter ausholen. Worin besteht eigentlich die Klimakatastrophe? Einem 2011 erschienenen Buch von Oliver Stengel, das bis heute als Überblick über die Details der ökologischen Problematik und die in der Wissenschaft diskutierten Lösungsansätze unübertroffen sein dürfte (Suffizienz. Die Konsumgesellschaft in der ökologischen Krise, oekom, München, auch online verfügbar), können wir entnehmen, dass schon vor zehn Jahren klar war, das seit den 1970er Jahren diskutierte Ziel, den Treibhauseffekt bis 2100 auf zwei Grad über der Temperatur von 1850 (Beginn der Industrialisierung) zu begrenzen, ist nicht mehr realistisch. „Saubere Quellen“ wären die Lösung gewesen, aber dann hätten sie schnell genug umfassend eingerichtet werden müssen. Und das ist schon der Schlüssel zur Verallgemeinerung: Es würde so etwas wie eine Klimakrise gar nicht geben, wenn der Zeitfaktor nicht wäre. Denn dann könnte man sagen: Irgendwann basiert die Industrie gänzlich auf „sauberen Quellen“ und dann ist es vollkommen egal, wie viel sie produziert, oder wie viel die Konsumentinnen konsumieren. Zur Katastrophe kommt es „nur“ deshalb, weil Industrie und Konsum erst mal noch nicht auf diesen Quellen basieren. „Theoretisch“, wie schön, ist die Sache also gelöst! Das ist die „gute Nachricht“ des grünen Europaprogramms. Und nun, ist das ein Trost? Nein. Die Industrie ist irgendwie auf dem Weg und das reicht nicht. Wenn du keine Eile hast, ein brennendes Haus zu verlassen, nützen vorhandene Ausgänge gar nichts. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

Es ist, wie gesagt, schon heute zu spät, umso mehr geht es darum, die Katastrophe soweit möglich zu begrenzen. Und das heißt, sie so schnell wie möglich zu begrenzen. Wenn es also, wie die Wissenschaft darlegt, grundsätzlich drei Strategien gibt, auf denen das geschehen kann, wie sollte es nicht notwendig sein, sie alle zusammen einzusetzen, damit sie sich wechselseitig bestärken und in der Summe das Geschwindigkeitsoptimum erreichen. Es wäre freilich auch denkbar, dass sie einander im Weg stehen, aber das ist nicht der Fall. Aufeinander angewiesen sind zunächst einmal die Strategien der Effizienz und der Konsistenz, von welchem das grüne Programm abstrahiert. Die Konsistenzstrategie zielt auf Abfallvermeidung. Alle Güter sollen naturverträglich sein und möglichst vollständig recycelt werden können. Doch wird es noch lange brauchen, bis die Verfahren entwickelt sind und die Entwicklung ausgereift ist. Bislang sind nur höchstens 30 Prozent der industriellen Stoffmengen recycelfähig. Was hingegen die Effizienz angeht, werden ständig überall Fortschritte erzielt. Von 1990 bis 2007 nahm die globale Energieeffizienz um jährlich 0,7 Prozent zu. Es wird daher gesagt, auf Konsistenz müssen wir zwar noch warten, aber die Pause wird ja durch Effizienzsteigerungen ausgefüllt.

Ohne Suffizienz, die dritte Strategie, haben Effizienz und Konsistenz aber auch zusammen keinen Sinn. Das liegt erstens daran, dass Effizienz zu langsam arbeitet. Stengel erklärt den Mechanismus: Die weltweiten CO2-Emissionen gehen nur dann zurück, „wenn die Effizienzrate größer ist als der Bevölkerungszuwachs und die Zuwachsrate der Einkommensentwicklung, welche den Pro-Kopf-Konsum entscheidend mitbestimmt“. Tatsächlich wuchs aber seit 1990 „die Weltbevölkerung jedes Jahr um 1,3 Prozent und das Pro-Kopf-Einkommen nahm jedes Jahr um durchschnittlich 1,4 Prozent zu. Mit diesen Daten lässt sich ableiten, warum die globalen CO2-Emissionen“ zwischen 1990 und 2007 trotz der genannten jährlichen Effizienzsteigerung „um rund 40 Prozent gestiegen sind“. Und dann gibt es noch den Bumerang- oder Rebound-Effekt, der die Errungenschaften sowohl der Effizienz als auch der Konsistenz hinterrücks wieder auffrisst. Effizienz kann nämlich nur bewirken, dass der Energieinput und damit der CO2-Ausstoß pro Stück sinkt, nicht aber dass die Stückmenge auf einem gegebenen Niveau gehalten wird. Die Stückmenge wird im Gegenteil immer größer, vor allem weil das Kapital – hier kommt das Kapital ins Spiel – so viel wie möglich Profit anstrebt und die Menschen entsprechend zum Kauf anstachelt. Wenn es also technisch möglich geworden ist, ein gegebenes Auto mit weniger Benzin anzutreiben, dann führt das nur zur Verbilligung der Autofahrt, die Verbilligung aber verleitet dann noch mehr Leute als bisher, Leute, die es sich jetzt endlich auch leisten können, zum Autokauf.

Das ist der Rebound-Effekt, der auch vielfach empirisch untersucht worden ist. Er schließt nicht nur neue Konsumentenschichten auf, sondern zeigt sich auch darin, dass Unternehmer durch den Mehrverkauf zu Extraprofiten gelangen, die sie gleich wieder reinvestieren, um ihre Produktpalette auszuweiten, was die Produktmenge und vorher den Umfang der Produktion samt CO2-Emission nochmals steigert. Der Rebound-Effekt durchkreuzt ebenso die Konsistenzstrategie. Zum Beispiel können „nachhaltige Holzbewirtschaftungsmethoden“, so weiter Stengel, „Bauern oder Unternehmen dazu verleiten, mehr Waldflächen in Landwirtschafts- oder Holzplantagen umzuwandeln“.

Man sieht also, Effizienz und Konsistenz führen weder einzeln noch zusammen zu einer Produktmenge, deren Produktion nicht durch zu viel CO2-Ausstoß erkauft ist; zwar wenn wir genügend Zeit hätten, würde es bei noch so großer Menge gar keinen Ausstoß mehr geben, aber wir haben sie nun einmal nicht. Deshalb geht es nicht an, von drei möglichen Strategien nur zwei zu verwenden und die dritte beiseite zu lassen - als könnte es uns gleichgültig sein, bis zu welchem Grad sich die Katastrophe noch steigern kann! Diese dritte Strategie, die Suffizienz, würde das direkt angehen, wozu die beiden anderen unfähig sind: die Gütermenge und zu ihr führende Produktion zu verringern. Das muss tatsächlich geschehen, denn schon 2011 musste Stengel konstatieren, dass die Menschheit so lebt, als bewohnte sie anderthalb Erden.

Ich bediene mich des Ausdrucks „Katastrophe“ und meine, es ist nicht Panikmache, sondern purer Realismus. Nach dem Klimareport könnte die Temperatur auf der Erde um sechs Grad ansteigen, referiert Stengel, wenn nämlich alles weiterläuft wie bisher – und das tut es ja. (Dabei weiß man inzwischen, dass schon bei zwei Grad jene Kippeffekte eintreten, von denen ich sprach.) Überflutungen sind eine Folge, die heute schon öfters geschieht. Denn weil sich die Wassertemperatur der Meere erhöht, nimmt die Intensität und Häufigkeit tropischer Stürme zu. „Über vierzig Prozent der heutigen Millionenstädte liegen knapp über oder unter dem Meeresspiegel, darunter auch Megastädte mit über zehn Millionen Einwohnern. Im Grunde“, kommentiert Stengel, „ist ein um ein Meter erhöhter Meeresspiegel keine ernsthafte Gefahr, bei Sturm und Sturmfluten aber kann er zu großen zusätzlichen Schäden führen.“ Die Landflucht war lange und ist noch heute ein weltweiter Trend, der ja gerade auch durch die ökologische Krise befeuert wird, die Zunahme der Wüsten, ausgelöst teils durch die Erwärmung, teils durch die Viehherden, auf die wir noch zu sprechen kommen. Aber schon in den nächsten Jahrzehnten werden immer mehr Menschen begreifen, dass weder Stadt noch Land ihnen erträgliche Lebensbedingungen offerieren, sie werden daher nach Europa beziehungsweise in die USA zu fliehen versuchen. Ökologie ist eo ipso Sozialökologie.

Ökologische Rucksäcke

Ob sie fliehen oder nicht, der Hunger wird sie treiben, etwas zu tun. „Die Umweltorganisation der Vereinigten Nationen stellt fest, dass gegenwärtig [2009] rund 2,6 Milliarden Menschen (das sind ca. 40 Prozent der Weltbevölkerung), die von weniger als zwei US-Dollar am Tag leben, in besonders hohem Ausmaß den Auswirkungen der Erderwärmung ausgesetzt sind, weil sie weniger Optionen und Ressourcen zu deren Bewältigung haben.“ „Gegenwärtig haben bereits über eine Milliarde Menschen keinen sicheren Zugang zu Trinkwasser.“ Verwüstung und Wasserverknappung senken die landwirtschaftliche Produktivität, letztendlich steigen die Preise für Grundnahrungsmittel. In den betroffenen Regionen wird es daher Aufstände geben – einen gab es schon, den sogenannten Arabischen Frühling, der alles andere als ein Frühling war – und Kriege zwischen Staaten, die sich um das verbleibende Süßwasser streiten. Nicht zuletzt aber werden sich kriegerische Impulse gegen den Westen, den Schuldigen richten. Der ökologische Fußabdruck, das ist „die gesamte biologisch produktive Fläche, die beansprucht werden muss, damit die“ von einem Menschen „konsumierten Lebensmittel sowie die übrigen von ihm gekauften Produkte und seine Energienachfrage bereitgestellt werden können“, dürfte 1,8 Hektar pro Mensch nicht übersteigen, ein Deutscher verbrauchte aber 2007 fünf Hektar, ein US-Amerikaner acht Hektar.

Zu den von Deutschen oder US-Bürgerinnen gekauften Produkten gehören zum Beispiel Smartphones und Hamburger. Man käme ganz gut ohne das aus, aber wer liebt nicht seine Spielzeuge oder hat manchmal einen Fressanfall. „Ein 100 Gramm Rindfleisch enthaltender Hamburger benötigt für seine Herstellung 3500 bis 7000 Liter Wasser.“ Das gehört zu seinem „ökologischen Rucksack“, der definiert ist als die „Summe aller biotischen und abiotischen Ressourcen, die aufgewendet werden mussten, um ein jeweiliges Produkt (oder eine Dienstleistung) anbieten zu können“. Man kann sagen, er veranschaulicht den vorher genannten ökologischen Fußabdruck, denn der setzt sich aus der Summe solcher Rucksäcke zusammen. Ist es wirklich nötig, in der U-Bahn nachzusehen, ob neue Mails gekommen sind, oder beim Schieben des Kinderwagens im Internet zu surfen? „Ein Handy wiegt nur einige hundert Gramm, dessen ökologischer Rucksack aber rund 75 Kilogramm.“ Schon 2011 wurden mit jeder Handy-Innovation die älteren Modelle nach durchschnittlich zwei Jahren gegen neuere ausgetauscht. Es gab 2007 2,5 Milliarden Handynutzer, in jenem Jahr errang erstmals das Smartphone nennenswerte Marktanteile, 2008 kamen 1,2 Milliarden hinzu. 2016 wurden allein in Deutschland 24,2 Millionen Smartphones verkauft. Deutsche benutzen sie durchschnittlich nur 18 Monate, bevor sie ein neues erwerben. Wie hoch das Gewicht des ökologischen Rucksacks aller Smartphones der ganzen Welt sein mag, kann sich jede(r) selbst ausrechnen. Der Elektronikschrott, über 20 Kilo pro Person, wird meistens im armen Süden entsorgt. Er enthält hochgiftige Substanzen.

Das alles wissen die dort lebenden Menschen im Prinzip. Sie lehnen sich nicht gegen den Konsumismus auf, suchen vielmehr nach Kräften mitzumachen, aber die Kräfte, jetzt schon schwach, werden durch die Katastrophen-Kehrseite des Konsumismus sehr schnell noch viel mehr geschwächt werden. Während die einen versuchen werden, zu uns zu fliehen, werden die anderen uns verantwortlich machen. Und etwa nicht mit Recht? Stengel macht darauf aufmerksam, dass zu den Gebieten, die am meisten vom Klimawandel betroffen sind, „auch fast alle Länder der gesamten islamischen Region“ gehören. Was sollen Europäerinnen tun? Eine Möglichkeit ist natürlich, unseren Planetenverbrauch mit Waffen gegen den Rest der Welt zu verteidigen. Unsere Waffentechnologie ist ja so hoch entwickelt, es würde zweifellos gelingen. Sich einschleusende Terroristen wird es immer geben, aber auch die Mittel, ihre Zahl niedrig zu halten, werden noch immer mehr verfeinert werden können. Überdies lässt sich jeder Anschlag mit Todesopfern dazu nutzen, das gute Gewissen der Europäerinnen aufrechtzuerhalten.

Der andere Weg bestünde darin, dem Krieg gegen den Rest der Welt zuvorzukommen, ihn also zu vermeiden. Dazu müssten wir ganz viel von unserem Reichtum dazu verwenden, die Lebensbedingungen im Süden zu verbessern, und zugleich unsere eigenen den ökologischen Gleichgewichten anpassen. Diese Haltung dem Süden gegenüber müsste sich auch ausdrücken in unserer Antwort auf die ökologische Migration. Es wäre kaum möglich, dem Süden einerseits Hilfe anzubieten und andererseits Migranten, deren Zahl viel größer sein wird als heute, an hochgezogenen Mauern um Europa herum krepieren zu lassen. Das heißt, möglich wäre es schon, aber nur, wenn man eben doch den Krieg in Kauf nimmt. Wenn wir ihn nicht wollen, müssten wir noch sehr viel mehr Migranten als in den letzten Jahren in Europa aufnehmen; dieser Kontinent müsste sich zum einen ökologisch anpassen und müsste zum andern, was die in ihm wohnenden Menschen angeht, ein Stück weit zum Abbild der Weltgesellschaft im Kleinen werden. Dann und nur dann könnte der Süden uns eventuell als Vortrupp der Rettung der Erde akzeptieren - das heißt dessen, was von ihr noch zu retten ist. Aber wie unwahrscheinlich ist eine solche Entwicklung! Hat doch schon das Eintreffen der syrischen Kriegsflüchtlinge in ganz Europa zu politischen Verwerfungen geführt, auch sogar unter europäischen „Linken“.

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Zum dritten Teil hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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