Wünschen, hoffen, beten

Friedenspreis-Rede Navid Kermanis Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ist ein Signal wider den Nihilismus
Ausgabe 43/2015
Navid Kermani, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2015
Navid Kermani, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2015

Foto: epd/Imago

Für seine Friedenspreis-Rede hat der Schriftsteller Navid Kermani viel Lob erfahren – aber auch scharfe Kritik, vor allem in der Süddeutschen Zeitung. Kermani hatte seine Rede in der Frankfurter Paulskirche mit einer Aufforderung zum Gebet beendet, und dies sei „ein unerträglicher Übergriff“ gewesen, schreibt Johan Schloemann in jener Zeitung. Der Journalist räumt ein, dass Kermani „großzügig erlaubte, statt Gebeten nur ‚Wünsche‘ zu entsenden“. Doch das versöhnt Schloemann nicht, denn „trotzdem entkam ja keiner der kollektiven Andacht“.

Das Gebet sollte 200 vom Islamischen Staat (IS) entführten syrischen Christen und dem entführten Pater Paolo gelten. Das Kloster aus dem dritten Jahrhundert, in dem sich Paolos katholischer Orden niedergelassen hatte, wurde vor zwei Monaten vom IS mit Bulldozern zerstört. „Und wenn Sie nicht religiös sind“, so Kermani, „dann seien Sie doch mit Ihren Wünschen bei den Entführten. Was sind denn Gebete anderes als Wünsche, die an Gott gerichtet sind? Ich glaube an Wünsche und dass sie mit oder ohne Gott in unserer Welt wirken.“

Ist die Aufforderung zum Wünschen ein Übergriff? Dann hätte Ernst Bloch sein Hauptwerk, Das Prinzip Hoffnung, nicht schreiben dürfen. Bloch weiß noch, dass es Nihilismus ist, sich vom Hoffen und Wünschen zu verabschieden. Denn wer das tut, hat keine Ziele, auf die er oder sie hinlebt. Ziele auch, die sein oder ihr Leben übersteigen, weil sie in einer Generation nicht zu verwirklichen sind. Ein Mensch ohne übergreifende Ziele muss sich fragen, wozu er überhaupt lebt. Behält gegen ihn nicht Goethes Mephisto recht, der vom endlichen Leben sagt, es sei „so gut, als wär’ es nicht gewesen“? Der Nihilismus ist eine sehr heutige Problematik: Wer es nicht wahrhaben will, lese Purity, den neuen Roman von Jonathan Franzen, der ihn zum Thema hat und auch Mephisto zitiert.

Schon vor Jahren sagte Kermani, dass mit der „kompletten Verdrängung des Religiösen“ ein „religiöser Analphabetismus“ einhergehe, der zu einer „grundlegenden Verarmung der Gesellschaft“ führe. Dieses Motiv spielt in seiner Friedenspreis-Rede eine grundlegende Rolle. Würde die Aufforderung zum Wünschen als „Übergriff“ wahrgenommen, wenn Kermani sie nicht mit dem Beten parallelisiert hätte? Wohl kaum. Dabei könnte man wissen, dass es die Parallele wirklich gibt. Ein Friedrich Nietzsche scheute sich nicht, seine Suche nach übergreifenden Zielen als Suche nach einem „Gott“ zu bezeichnen, obwohl er mit jeglicher Religion gebrochen hatte. So hätte Nietzsche auch – umgekehrt wie Kermani – vom Wünschen sagen können, es sei eine Art Beten. Wer zu solchen Brücken bereit ist, ist in der Lage, mit religiösen Menschen zu kommunizieren. Weil er von ihrer Religion etwas weiß. Wie kommt es nur, dass man heute glaubt, Irreligiosität verwirkliche sich am besten, wenn die religiöse Kenntnis vernichtet sei? Und das in einer Welt voller Christen und Muslime?

Toleranz kommt so nicht zustande. Eher kommt etwas heraus, was dem IS-Terror nicht unähnlich ist. Das ist Kermanis Botschaft. Der IS vernichtet ja alles, was von seiner Doktrin im Geringsten abweicht. Hätte er Erfolg, würde die Welt nichts mehr kennen als die IS-Religion. Wozu bräuchte man dann noch Toleranz? Viele Muslime flüchten jetzt zu uns aufgeklärten Menschen, die wir religiöse Analphabeten sind. An ihnen Toleranz zu üben, werden wir noch reichlich Gelegenheit haben.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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