Zarte Landschaft

MaerzMusik 2018 Die „Normen westlich-postkolonialer Ästhetik“ werden von Frauen und Männern außereuropäischer Herkunft kritisiert

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Salims Salon, das „szenische Konzert“ gestern Abend im Werner-Otto-Saal des Konzerthauses am Gendarmenplatz, war ein faszinierendes Ereignis. Es handle sich, so der Programmzettel, um einen „Raum für Musiker und Musikerinnen unterschiedlicher kultureller Herkunft – aus Ägypten, Kamerun, London und der Demokratischen Republik Kongo. In ‚Salims Salon‘ treffen sie sich, um über ihre Erfahrungen mit den Normen westlich-postkolonialer Ästhetik, über das Fremde in der Musik und im Leben [...] nachzudenken und es klingend erfahrbar zu machen.“ Diese Themen würden mit einem „nicht nur musikalische Abläufe bestimmenden Thema verknüpft: der getakteten Zeit. Die Geschichte des Chronometers ist die Geschichte großer Errungenschaften der Moderne, [...] aber auch die Geschichte der Kolonialisierung, der Uniformisierung und der Unterdrückung indigener Kulturen.“ Das Werk hatte im September vorigen Jahres in Frankfurt seine Uraufführung.

Cedrik Fermont aus dem Kongo und Seth Ayyaz, der in London lebt, arbeiten mit Elektroakustik, Jacqueline George, die in Kairo lebt, „experimentiert mit Außenaufnahmen“ und auch die Kamerunerin Amet hat solche gestern hören lassen. Alle vier tun noch anderes, der Abend war aber ganz auf Elektroakustik fokussiert, ein wenig auch auf Gesang; die Frauen sangen, die Männer ließen sich über die Technik der Synthesizer hören. Doch wurde auch viel gesprochen, von allen. Die Sätze wurden in deutscher Übersetzung auf eine Wand projiziert. Hannes Seidel hatte die künstlerische Gesamtleitung.

Beginnen wir mit der Elektroakustik. Die Künstler bekannten sich zum Synthesizer als einem Weg, auf dem die schlechte Tradition der westlichen Orchestermusik überwunden werden könne. Der Satz, dass „noise“ Macht sei, gute Macht, kehrte mehrmals wieder. Wichtig war ihnen außerdem, dass sie improvisierten. Die projizierten Texte waren sicher nicht improvisiert, sonst aber hörte man gleichsam Gesprächen zu. Ich möchte eine Passage herausgreifen, in der sich einer der Männer mit der Frau aus Kairo „unterhielt“: Sie deutete eine arabische Melodie an, er stellte Elektroakustik daneben. Das fand ich besonders interessant, weil ich mich schon im vorigen Jahr gefragt habe, ob und wie Gesang elektroakustisch „begleitet“ werden kann - wie sonst vom Klavier oder Orchester. Gestern ging das hervorragend und war schön. Die Elektronik stellte ein Klangfeld neben die Stimme, das manchmal unbeweglich war, sich manchmal ab- und wieder anschaltete. Manchmal wuchsen relativ dünne Fäden aus ihm heraus. Indem sie sich am Tonhöhenverlauf der Stimme rieben, entstanden schöne Dissonanzen.

Ein elektroakustischer Klang ist so etwas wie ein musikalischer Raum, ein Raum, der sich zeitlich entwickelt, erst einmal aber eher Raum als Zeit ist. Wenn ich so einen Raum höre, entsteht er für mich allererst, vorher hat es ihn nicht gegeben und er ist ganz anders als der physikalische Raum, den ich kenne, oder der Raum meines Leibes, den ich ebenfalls kenne. Da es andererseits so viele elektroakustische Räume wie Kompositionen gibt, können sie auch so komponiert werden, dass sie allgemein bekannten Raumstrecken oder –gestalten zwar nicht ähneln, aber entsprechen, also etwa einer kompakten Masse, einer monochromen oder mehrfarbigen Fläche, aber auch einer Landschaft, einer Gegend, ja einem Gesicht. Natürlich können sie auch einem Orchesterstück angeähnelt werden, aber nochmals, die Logik des elektroakustischen Klangs ist zunächst eine primär räumliche – während die Logik der traditionellen Konzertmusik, wozu das Orchester und die Stimme gehören, eine primär zeitliche ist. Und zwar ist das eine besondere zeitliche Logik, die darin besteht, dass Zeitmomente erst noch kommen und doch schon gewesen sind; ein Gewesenseinwerden, das einst von Augustin als Bild der zeitlosen „Ewigkeit“ aufgefasst wurde. Wie „zeitlos“ aber auch immer, es ist deshalb nicht räumlich.

Wenn eine Stimme elektroakustisch begleitet wird, wird „Zeitlosigkeit“, oder deren musikalische Bezeichnung, mit einer erfundenen unsichtbaren, nur hörbaren, auch nur als hörbar vorstellbaren Landschaft verbunden oder in sie hineingestellt. Von der Landschaft, die man gestern hörte, kann gesagt werden, dass sie zart war. Das gilt überhaupt für alle Elektroakustik des Abends.

Ich komme zu dem, was sprachlich mitgeteilt wurde. Die Künstler kritisieren, wie gesagt, die westliche Tradition der Orchestermusik. Was werfen sie ihr vor? Sie sei herrschaftlich. Der Dirigent sei etwas wie ein allmächtiger Priester. Außerdem werde diese Musik vom Chronometer beherrscht. Das Orchester sei eine Maschine. Dagegen setzen sie ihre freie Improvisation.

Ein Chronometer ist zwar keine Uhr, funktioniert aber nach derselben Logik wie diese. Die Kritik richtet sich zuletzt gegen die Uhrzeit. Mit ihr habe der Aufstieg des Kapitalismus begonnen, und tatsächlich sei die kapitalistische Form der Ausbeutung an diese Zeit gebunden. Sie berufen sich auf Marx, der gezeigt hat, wie Arbeit stundenweise entlohnt wird und dabei auch der Mehrwert entsteht, den sich die Kapitalisten ohne Gegenleistung aneignen. Herrschaft sei auch die einheitliche Weltzeit mit ihrem Zentrum in London / Greenwich. Sie erzählen, dass auf die Uhr in Greenwich einen Bombenanschlag verübt wurde, der fehlschlug. Bei dieser Gelegenheit erfahre ich, dass es überhaupt sehr viele Schüsse auf Uhren gegeben hat – nicht nur die, die von Walter Benjamin irgendwo erwähnt werden. Die Künstler stellen sich andere Uhren vor, „Uhren, die einschlafen“, „Uhren, die dem Schatten einer Katze folgen“.

Ich würde diese Kritik nicht in allem unterschreiben. Als das Orchester entstand, hat man unter einer Maschine nicht von vornherein das Leblose verstanden. Orchestermusik orientiert sich zwar am Chronometer, ist aber nicht selbst chronometrisch: Sie „swingt“. Ein Dirigent wird wie ein Priester verehrt, das ist wahr, aber man kann auch daran denken, wie er bei Marx vorkommt. Für Marx ist Dirigieren das Gegenteil von Kommandieren: Das „Kommando des Kapitals“ über Produzenten, die „Widerstand“ üben, sei letztlich bedingt „durch den unvermeidlichen Antagonismus zwischen dem Ausbeuter und dem Rohmaterial seiner Ausbeutung“. Hier werde nicht so koordiniert, dass alle mit allen zusammenarbeiten, sondern jede(r) arbeite nur, oder jedenfalls primär und grundsätzlich, mit der Kommandozentrale zusammen. Auch in einer befreiten Produktion, fährt Marx fort, sei „Direktive“ notwendig, die dann aber nur noch „die Harmonie der individuellen Tätigkeiten vermittelt“. „Ein einzelner Violinspieler dirigiert sich selbst, ein Orchester bedarf des Musikdirektors.“ (MEW 23, S. 350 ff.)

Was Marx anführt, reicht vielleicht nicht, das Problem zu erschöpfen. Doch gehört es zum Problemhorizont.

Die Botschaft der Künstler war bewegend. Besonders was die Frau aus Kamerun sagte, hat mich bewegt. Sie lebte lange in Deutschland, hat sich immer als Fremde angesprochen gefühlt, wollte deshalb nach Kamerun zurückkehren, wurde aber schließlich zur Pendlerin. In Kamerun nahm sie Straßengeräusche im Abstand von zehn Jahren auf und fand, dass sie sich verändert hatten. Die elektroakustische Bearbeitung solcher Geräusche war übrigens sehr interessant. Man kann sie musikalisieren bis zu dem Grad, den man wünscht. Das legt einen für mich unerwarteten Rückblick auf John Cage nahe, der am Anfang dieser Entwicklung stand. Ich habe aber auch an Adorno gedacht. Für den konnte ein Orchester- oder Streichquartettklang das Bild einer befreiten Gesellschaft sein: Hier waren es hauptsächlich Autos, die Straßen herauf- und herabfuhren.

Die Kamerunerin und der Kongolese kritisierten gemeinsam das Bild, das sich Europäer von Afrika machen. Manche dächten immer noch zuerst an primitive Stämme und zeigten sich überrascht, wenn sie erfahren, dass etwa auch in Angola elektroakustisch komponiert werde. Oder man assoziiere zu Afrika Hunger und AIDS; die Kamerunerin sagte, ihren Erfahrungen entspreche das überhaupt nicht.

So viel zu diesem hochinteressanten Abend, den ich kaum kommentiert habe. Manchmal ist es besser, einfach nur zuzuhören.

Am Vorabend übrigens, dem 19.3., wurde Deproduction „für Ensemble und Elektronik“ von Terre Thaemlitz im Haus der Festspiele uraufgeführt. „Darin untersucht Thaemlitz“, so das Programmheft, „die Machtdynamik hinter den westlich-humanistischen Vorstellungen von Familie und zeigt strukturelle Verbindungen zwischen Heteronormativität, familiärem Missbrauch, häuslicher Gewalt und institutionalisierter Dominanz auf.“ Ich habe hierüber für die Printzeitung geschrieben, die morgen erscheint. Die Online-Veröffentlichung folgt am Wochenende. Heute Abend ist eine andere Komposition von Thaemlitz zu hören, daneben eine von Ashley Fure, über die ich am Montag schon geschrieben habe. Ich werde auch über dieses Konzert berichten.

Berichte zu Berliner Musikfestivals seit 2010 finden Sie hier.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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