Gibt es in Berlin ein potenzielles schwarz-grünes Lager, das gegen die rot-rote Senatskoalition antritt und ihr am Wahltag im September womöglich die Macht entwindet? Jedenfalls gibt es Zeitungen, die das so sehen. Ihr Argument ist die sozialstrukturelle Nähe der grünen und christdemokratischen Wähler. Doch der Aussagewert des Arguments ist begrenzt, und es ist auch in sich selber fragwürdig.
Dass die Grünen eine urban geprägte und in der bürgerlichen Mittelschicht verankerte Partei sind, sieht man heute auch ohne Wahlforschung. Von der Union weiß man, dass sie sich um mehr Attraktivität gerade für städtische Wähler müht. So scheint es eine starke Schnittmenge zwischen beiden Parteien zu geben. Die Grünen ersche
nen erscheinen als eine Art neue FDP, mit der sich die CDU genauso problemlos verbünden kann wie mit der alten. Die sozialstrukturelle Ähnlichkeit von Grünen und FDP liegt darin, dass beide überproportional von „Selbstständigen“ gewählt werden. Im Bundesdurchschnitt liegt die FDP bei dieser Gruppe weit vorn, in Berlin schneiden die Grünen am besten ab: 24 Prozent erreichen sie bei ihr, dicht gefolgt nicht etwa von der FDP, sondern von der SPD mit 21 Prozent. Bei Arbeitern allerdings finden die Grünen nur 7 Prozent Zustimmung, das macht sie der FDP ähnlich.Wenn man genauer hinsieht, überwiegen die Unterschiede. Der Parteienforscher Richard Stöss fasst es so zusammen: Das zur FDP neigende Bürgertum ist eher besitz- und einkommensstark sowie männlich, lebt in Klein- und Mittelstädten und folgt dem traditionellen Ehemuster, hat aber oft keine Kinder. Bei den Grünen hingegen sammelt sich mehr ein „bildungsstarkes“ Bürgertum eher weiblichen Geschlechts, das in Großstädten lebt; Eheleute leben oft getrennt, doch deshalb nicht kinderlos; es gibt auch viele Vier-Personen-Haushalte mit zwei Kindern. Die Kinder sind ein Berührungspunkt mit der familienfreundlichen CDU. Gerade auf diesem Feld versucht die Union „moderner“ zu werden und sich dem urbanen Lebensstil der Grünen mehr anzunähern. Elterngeld und Bundeszuschüsse für den Ausbau von Betreuungseinrichtungen, das ist Stadtpolitik, wie sie der Kanzlerin vorschwebt. Auch in der freien Schulwahl kommt die CDU den Grünen neuerdings entgegen. Keine Abkehr vom dreigliedrigen Schulsystem, aber mehr Freiheit für Gemeinden und Eltern, über lokale Schulformen selbst zu bestimmen: Auf diese neue Linie soll sich im Herbst ein Parteitag verständigen.Bescheidene SchnittmengenAber wenn das schon alles ist, was die Union an urbanem Lebensstil zu bieten hat, bleibt die Schnittmenge der Parteien bescheiden. Zur Stadtpolitik der Union gehört immer auch der Ruf nach mehr Polizei. Von der multikulturellen Großstadt ist sie auch nicht begeistert. Besonders in Großstädten sammeln sich ja Migranten. Überhaupt fallen immer deutlichere Unterschiede ins Auge, je mehr der Blick auf die Großstädte fällt. Und zumal auf Berlin! Eine Ähnlichkeit der Parteien liegt zwar darin, dass beide eher im Westteil der Stadt verankert sind. Die Grünen haben freilich auch im Osten Standbeine, vor allem weil Westwähler umgezogen sind. Am wichtigsten ist aber: Sie sind eine Partei des Stadtzentrums, während die CDU ihre Wähler-Schwerpunkte in der Peripherie hat.Bei der letzten Berliner Wahl erreichten die Grünen innerhalb des S-Bahn-Rings 23,5 Prozent der Wähler, außerhalb nur 9,7; die CDU bekam umgekehrt in den Randbezirken 23,9 und in der Innenstadt nur 13,7 Prozent. Wenn man von der urbanen Prägung einer Partei spricht, ist das ein entscheidender Unterschied. Kein Wunder, dass die Grünen ein „urbanes Lebensgefühl“ ausstrahlen, während es bei der CDU mehr dabei bleibt, dass sie gute administrative Lösungen für Stadtprobleme herbeiführen möchte. Wir sind jetzt dabei, die Grenze der sozialstrukturellen Betrachtungsweise zu überschreiten. Schon sozialstrukturell sind die Unterschiede zwischen Grünen einerseits, Union und FDP andererseits groß, auch wenn von allen dreien gesagt werden kann, dass ihre Wähler „bürgerlich“ sind und in Großstädten wie Berlin gleichsam hautnah zusammenwohnen. Egal aber, ob es an den Unterschieden liegt oder ob Sozialstrukturen ohnehin nicht alles erklären, sind die Parteien kulturell unübersehbar geschieden.Libertäre MelangeKulturell und schließlich auch intellektuell. Wenn die Grünen eine Lieblingspartei der „Selbstständigen“ sind, dann begünstigt das ihren Status als Partei der Intellektuellen, besonders weil es unter den „Selbstständigen“ – einer unklaren Kategorie – mehr die bildungsstarken als die einkommensstarken Bürger sind, die sich bei ihnen sammeln. Inzwischen stoßen freilich immer mehr Einkommensstarke dazu. Aber „selbstständig“ sind auch die vielen Kleinstunternehmer und Freischaffenden, die ein intellektuelles Prekariat bilden. Bei den Grünen fließt das zusammen und ergibt eine „libertäre“ Melange, die sich gerade in Berlin auf zwei Pole verteilt. Da sind zum einen die Kiez- und sozial orientierten, oft immer noch rebellischen und jedenfalls anti-etatistischen Wähler etwa in Kreuzberg. Zum anderen die eher Erfolgsorientierten mit Tendenzen zum Hedonismus, deren wirtschaftspolitische Ansichten mehr klassisch liberal sind. Beide Gruppen stimmen aber in den Grundwerten überein: Selbstbestimmung, Umweltschutz, gesunde Lebensführung. In Renate Künasts Formulierung bilden sie zusammen eine „Verantwortungsmittelschicht“.Diese Partei steht der CDU nicht näher als der SPD. Die kann das nicht glauben, hat sie doch seit Willy Brandt versucht, ein liberales Bürgertum in die eigene Partei zu ziehen. Wenn dieses Bürgertum seinen intellektuellen Ansprüchen lieber eigenständig gerecht werden will, nähert es sich deshalb noch nicht der Union. Man kann sich zwar Umstände denken, unter denen die Grünen in Berlin mit der CDU koalieren würden. Etwa, dass sie die SPD überflügeln, diese sich aber weigert, eine grüne Bürgermeisterin mitzuwählen. Doch dann zu sagen, Grün-Schwarz sei aus sozialstruktureller Nähe entstanden, wäre abwegig.
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