Vielleicht stellt man sich vor, das Grundgesetz sei ein Oktroi der Westalliierten, deren republikanischer Erziehungsimpuls sich leider nur schwach auswirke, weil deutsche Politiker autoritär geblieben seien, in der nachfolgenden Verfassungswirklichkeit nur die Verfahren beachtetet, oft genug auch geändert und jedenfalls nicht mit demokratischem Geist erfüllt hätten; so verhält es sich aber nicht. Es ist nicht so schlimm und zugleich schlimmer. Das Grundgesetz ist ein Kompromiß zwischen westalliierten und westdeutschen Interessen, in dem sich die deutsche Seite weitgehend durchgesetzt hat. Wir haben es also mit einem originär deutschen Dokument zu tun, das im guten wie im schlechten Sinn in der Kontinuität der deutschen Geschichte steht. Gut ist die Kontinuität zur Weimarer Verfassung. Diese wurde bekanntlich mit dem Ziel modifiziert, eine konstitutionelle Selbstaushöhlung wie zwischen 1930 und 33 unmöglich zu machen. Schlecht ist das preußische Obrigkeitsdenken. Schon in der Weimarer Verfassung nicht überwunden, wurde es im Grundgesetz eher noch verstärkt.
Die Westalliierten hatten drei Interessen, die den Interessen der deutschen Seite entgegenstanden: extremer Föderalismus, Bildung eines separaten westdeutschen Staates und volle Restauration der privatkapitalistischen Wirtschaftsordnung. Was diese Ordnung anging, gab es mit den Politikern, die die erste Bundestagswahl gewannen, 1949 schon keine Differenzen mehr, im Grundgesetz aber ist die Möglichkeit einer sozialistischen Wirtschaftsordnung festgeschrieben (Artikel 15). Den separaten Weststaat nahm die deutsche Seite nur unter der Bedingung hin, daß er ein Provisorium sei. Das war der Grund, weshalb sie keine Verfassung ausarbeitete, sondern nur das provisorische Grundgesetz. Extremen Föderalismus wollten die Westalliierten durchsetzen, weil sie glaubten, damit werde dem Obrigkeitsdenken, das unter Hitler zum »Befehlsnotstand« geführt hatte, das Wasser abgegraben. Hier wurden sie von der deutschen Seite nicht nur gebremst, sondern vollkommen ausgetrickst.
Föderalismus war eine zu vage Idee, damit wurde der Fachverstand der Juristen, die auf deutscher Seite agierten, alle preußisch geschult, doch spielend fertig. Die Amerikaner fragten sich, warum Amerikaner so demokratisch sind, und kamen auf ihre Bundesstaatlichkeit. Gut; aber das Reich der preußischen Kaiser war auch bundesstaatlich gewesen. Um mit der Reichs-Bundesstaatlichkeit zu brechen, hätte man den Bundesrat nach amerikanischem Vorbild gebraucht, also direkt gewählte Senatoren, dazu kam es aber nicht, sondern er wurde eine Versammlung von Bevollmächtigten der Landesexekutiven. Und das war er eben schon immer gewesen. Ferner legten die Juristen den Zentralstaat als »Kanzlerdemokratie« an; dafür fehlte den Alliierten nun gänzlich der Blick. Diese Deutschen hatten zu der Frage, weshalb Hitler die Macht ergreifen konnte, ihre eigene Meinung, die der Meinung der Alliierten gerade entgegengesetzt war: nicht zu viel, sondern zu wenig Obrigkeitsdenken hatte das bewirkt. Hitler war von Reichspräsident Hindenburg ernannt worden. Der Reichspräsident war eine Art preußischer Ersatzkaiser gewesen. Diese Funktion wurde abgeschafft. Aber warum? Um das autoritäre Regieren zu unterbinden? Nein, sondern weil der Ersatzkaiser direkt vom Volk gewählt worden war. Das autoritäre Regieren wurde durchaus nicht unterbunden, sondern eher vereinfacht und effektiviert und in eine einzige Hand gelegt, die des Kanzlers.
Im Unterschied zum Reichspräsidenten ist der Kanzler vom Parlament abhängig, aber doch nicht zu sehr. Die Väter des Grundgesetzes betraten gerade darin verfassungspolitisches Neuland, daß sie die Abhängigkeit des Regierungschefs vom Parlament mit vorher unbekannten Methoden lockerten. Ist er einmal gewählt, kann er, bevor die Legislaturperiode zuendegeht, nur noch gestürzt werden, wenn ein Ersatzkanzler mit parlamentarischer Mehrheit bereitsteht (konstruktives Mißtrauensvotum); folglich kann er die Prozesse, die zur Findung dieses Ersatzes führen, aufmerksam verfolgen und stören. Ungewöhnlich ist weiter, daß er allein über die Berufung und Entlassung seiner Minister entscheidet. Die Minister sind daher dem Parlament nicht verantwortlich. Daß man die Kreise eines Regierungschefs stört, indem man seine Minister abwählt, das ist im Iran erlaubt, aber nicht in der Bundesrepublik Deutschland. Diese Regelung stärkt zwar nicht nur den Kanzler, sondern macht die ganze Regierung vom Bundestag unabhängiger. Aber der Kanzler hat die Organisationsgewalt, das heißt er allein entscheidet über Anzahl und Zuschnitt der Ministerämter. Aufgrund dieser Bestimmung nahm sich schon Konrad Adenauer das Recht, ein im Grundgesetz nicht vorgesehenes »Bundeskanzleramt« zu schaffen. Dieses Amt mit inzwischen über 500 Mitarbeitern ist eine Verdopplung der Regierung, jedem Ministerium entspricht dort spiegelbildlich eine Abteilung. Mit diesem Amt im Rücken konnte Adenauer den Weg zur Wiederbewaffnung einleiten, ohne daß sein Minister Gustav Heinemann davon auch nur wußte. Alle Kanzler haben die Macht dieses Amtes weiter ausgebaut und als Gegengewicht zu den Ministerien benutzt. Ferner auch dazu, unerlaubte Quasiministerien zu schaffen; Adenauers Militär-»Amt Blank« war das erste, Schröders Kulturbeauftragter Naumann ist das jüngste Beispiel.
In der Weimarer Republik hatte der Reichspräsident die Organisationsgewalt. Im Zusammenspiel mit dem Kanzler konnte er sich vom Parlament vollkommen unabhängig machen, aber sie waren zu zweit und ein verwickeltes Gespann: Hindenburg war mächtig, konnte aber nicht regieren, während Brüning zwar regieren konnte, aber nur mit geborgter Autorität. In der Bundesrepublik hat der, der regiert, die Autoritätsfülle. Seine Abhängigkeit vom Parlament hält sich in Grenzen, aber seine Autoritätsfülle reicht aus, die Grenzen zu seinen Gunsten zu verschieben.
Gewiß können Verfassungsgrundlagen allein einen Kanzler nicht zur starken Figur machen. Das dualistische Parteiensystem kommt hinzu. Es bewirkt, daß Kanzler und »Kanzlerkandidat« quasi als Paar agieren, indem sie sich wechselseitig als charismatische Personen legitimieren. Auf die Person des Kanzlers konzentriert sich daher alles öffentliche Interesse. Das war sogar schon in den Zeiten so, als man von einer »Mediendemokratie« noch nicht sprechen konnte. Diese hat das Gewicht des Kanzlers noch weiter verstärkt. Daß große »liberale« Medien, wie beim Antritt der rot-grünen Regierung geschehen, wochenlang schreien, der Kanzler solle endlich in seiner Regierung durchgreifen - die laut Grundgesetz ihre eigene vom Kanzler abweichende Ansicht haben darf -, er und sein Kanzleramtsminister sollten nicht zaudern, ihr in der SPD minoritäres Wirtschaftsprogramm zu vollstrecken, das wäre trotz »Kanzlerdemokratie« noch vor zehn Jahren undenkbar gewesen. Die »liberalen« Medien wollen ganz buchstäblich, nein, nicht Hitler, wohl aber ihren alten Kaiser Wilhelm wiederhaben. An diesem Punkt ist die Entwicklung auch über den Willen der Grundgesetzväter hinweggegangen. Sie waren zwar autoritär, hielten es aber für gefährlich, die Autorität an Plebiszite zu binden. Einem bloßen Volksliebling, heiße er auch Hindenburg, wollten sie keinen Blankoscheck geben. Aber nun ist statt der Reichspräsidentenwahl die Parlamentswahl zum Personalplebiszit um die eine einzige mächtige Figur, den Kanzler, geworden.
Als Wolfgang Abendroth vor 30 Jahren über diese Materie schrieb, urteilte er noch, die sichtbare Macht der charismatischen Figur des Kanzlers verhülle nur die unsichtbare, viel größere Macht der Ministerialbürokratie.
Das Kanzleramt, das wie eine Schlingpflanze den Regierungsbaum festzurrte und -quetschte, fiel ihm nicht einmal sonderlich auf. Aber die Bürokratie ist heute im Zeichen des »schlanken Staats« selbst unter Beschuß geraten. Wenn der mächtige Kanzler einer noch größeren Macht unterliegt, dann ist es heute eher, und auf direkterem Weg als je, die Macht des Kapitals. Gerhard Schröder kann die Organisationsmöglichkeiten seines Kanzleramts einsetzen, um Kapitalinteressen in korporativen Gremien nicht nur am Parlament, sondern auch, wenn es sein muß, am Finanzministerium, am Atomministerium, am Arbeitsministerium, am Gesundheitsministerium vorbei durchzudrücken. Eine britische Expertenkommission urteilte vor einem halben Jahr, das deutsche System habe »eher zu viel als zu wenig Stabilität hervorgebracht«. Stabilität ist kein Selbstzweck; man muß immer fragen, wem sie nützt.
Literatur: Wolfgang Abendroth, Das Grundgesetz. Eine Einführung in seine politischen Probleme, Pfullingen 1966; Karlheinz Niclauß, Bestätigung der Kanzlerdemokratie? Kanzler und Regierungen zwischen Verfassung und politischen Konventionen, in Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage 20/99 zur Wochenzeitung Das Parlament.
Wolfgang Ullmann
Raum des Rechts?
Wolf-Dieter Narr
Umfahrbare Slalomstangen
Thomas Koch
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