Metallerstreiks werden "nicht erwartet", liest man. Warum denn nicht? In der Tarifrunde 2002 ist gestreikt worden, warum nicht auch 2004? Antwort eines Herrn Rees, Volkswirt der Hypovereinsbank, zitiert in der FAZ: "Niemand in Deutschland könnte verstehen, wenn es jetzt zu einem langen Streik kommen würde." Denn Gewerkschafts-Forderung und Unternehmer-Angebot lägen nur 2,6 Prozentpunkte auseinander. Die "vergleichsweise moderate Forderung" von vier Prozent mehr Lohn sei die Reaktion der IG Metall "auf das, was vor einem halben Jahr in Ostdeutschland passiert ist". Nun stünde sie "unter extremem Druck", ihr sei bewusst, "dass sie sich eine zweite Niederlage nicht leisten kann". Aber moderat ist nicht genug: Ob mit Streik oder ohne, es wäre für die Gewerkschaft "gefährlich", einen "forderungsnahen Abschluss" durchsetzen zu wollen. Ein forderungsferner Abschluss hingegen hätte den Vorteil, gesetzmäßig zu sein. Denn seit 1970, erklärt Herr Rees, sei der Abstand zwischen Lohnforderung und Lohnwirklichkeit immer größer geworden.
Auf solche Töne war man gefasst. Als "historische Niederlage" ist die Streikniederlage des Sommers 2003 von interessierten Kräften gewertet worden. Wenn sie historisch war, heißt das, die IG Metall, vormals stark, ist in ein Tal der Schwäche gelangt. Also: nachtreten! Aber so einfach ist es denn doch nicht. Die IG Metall schläft nicht. Eher schläft Rees. Er hat nicht bemerkt oder schon wieder vergessen, was seit dem Sommer passiert ist. Zunächst einmal schaffte man es nicht, die Niederlage der Gewerkschaft in eine Niederlage ihres designierten Chefs Jürgen Peters umzumünzen. Der konnte sein Amt allen Störmanövern zum Trotz antreten. Dann kam es auch nicht zu der erhofften großen Gewerkschaftsspaltung. Peters und Berthold Huber, der Exponent der anderen innergewerkschaftlichen Strömung, verständigten sich auf ein Führungs-Tandem. Sie arbeiten geräuschlos zusammen.
Auf dieser Basis gelang der IG Metall wenige Monate nach der Krise ein fast unglaublicher Coup: Sie zeigte dem Kanzler, dass er immer noch von ihr abhängig ist. Denn ohne ihre Intervention hätte er seine "Reform"-Agenda nicht durch den Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat gebracht. Frau Merkel, die Oppositionsführerin, hätte die dort geführten Verhandlungen am liebsten platzen lassen. Deshalb verlangte sie die Abschaffung der Tarifautonomie. Da die Gewerkschaften nicht von sich aus zu betrieblichen Öffnungsklauseln bereit seien, müssten diese gesetzlich festgelegt werden, sagte sie. Alles, was Schröder vorschwebe, die Steuersenkung wie die Agenda 2010, hänge ohne eine solche "Reform des Arbeitsmarkts" in der Luft. Da meldete sich kurz vor Abschluss der Verhandlungen Jürgen Peters zu Wort: Die Gewerkschaft sei bereit, mit dem Tarifpartner über betriebliche Sonderregelungen zu sprechen. Peters brachte kein Opfer, sondern machte sich nur den verlogenen Diskurs Frau Merkels zueigen. Die tut so, als ob das Problem in der betrieblich flexiblen Gestaltung an und für sich läge. Es geht aber vielmehr um die Frage, ob die Gewerkschaft ihr Kontrollrecht behält.
Die wahren Fronten verlaufen so: Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall fordert, dass Unternehmensleitung und Betriebsrat die Wochenarbeitszeit "freiwillig" auf 40 Stunden sollen anheben dürfen. Auch die IG Metall kann sich vorstellen, dass 40 Stunden im Einzelfall hilfreich sein können, will es dann aber in "betrieblichen Ergänzungsverträgen" unter ihrer Obhut geregelt sehen. Der Vorteil sei, dass die Beschäftigten einen Ergänzungsvertrag auch ablehnen könnten. Nun hatte Frau Merkel keine Trumpfkarte mehr, und Schröder konnte nicht behaupten, es sei notwendig, vor ihr zurückzuweichen. Peters war bereit! Womit er auch das Märchen entkräftete, zwischen ihm und seinem Vize Huber lägen Welten. Denn dieses Märchen nährte sich immer von der Vorstellung, er im Unterschied zu Huber lehne die betriebliche Flexibilisierung ab.
Ob Frau Merkel sehr erleichtert gewesen sein kann, wenigstens folgende Klausel durchgesetzt zu haben: Die Bundesregierung erwarte, dass die Tarifvertragsparteien "sich in den nächsten zwölf Monaten auf eine neue Balance zwischen Regelungen auf tarifvertraglicher und betrieblicher Ebene verständigen"? Die ihr nahestehende Journaille jedenfalls schäumte vor Wut. Sie dachte sich ersatzweise eine forcierte Interpretation der Klausel aus. Deren Sinn sei es, der Gewerkschaft eine letzte Ruhe vor dem Sturmangriff zu gönnen. Für den Fall, dass die Gewerkschaft nicht rechtzeitig kapituliere, habe Schröder die gesetzliche Abschaffung der Tarifautonomie praktisch schon unterschrieben.
Man sieht also, die IG Metall ist noch lange nicht ausgezählt. Aber natürlich ist sie in Gefahr und muss klug agieren. Pünktlich zum Jahresbeginn konnte sich Berthold Huber dazu öffentlich äußern, der Stern gab ihm Gelegenheit. Klipp und klar sagt er: "Wenn die betriebliche Lohnfindung ein ökonomisches Erfolgsmodell sein soll, kann ich wirklich nur kichern." Nur wenn die Einheitsgewerkschaft das Sagen hat, sei der arbeitende Mensch "als bürgerliches und als Wirtschaftssubjekt" anerkannt. Stern-Leser erfahren, dass die IG Metall über veränderte, flexible, teils längere, teils aber auch kürzere Arbeitszeiten sehr phantasievoll nachdenkt. Ihr Schlüsselbegriff sind die "Lebensarbeitszeitkonten". Huber geht von der Notwendigkeit steigender Lebensarbeitszeit aus, "weil es aus demografischen Gründen nicht anders gehen wird". Aber dann muss jeder Arbeiter das Recht auf ständige Fortbildung haben, fügt er hinzu. Wichtig seien die Details einer Neuregelung. Es könne sinnvoll sein, dass in jungen Jahren viel, dafür in älteren wenig gearbeitet wird. Bestimmte Berufe seien so nervenaufreibend, dass die Arbeitszeit noch drastisch gesenkt werden müsse, bei einigen neuen Berufen hingegen wollten die Beschäftigten von sich aus lange arbeiten. Wer soll glauben, der IG Metall sei nicht an der Klärung solcher Fragen gelegen?
Aber sie ist in Gefahr, und Huber sieht noch mehr Gefahren als andere. Nicht nur die Tarifautonomie ist bedroht: Immer mehr Wirtschaftsvertreter, sagt er, schießen sich auf die Mitbestimmung ein. Diese Kreise "bereiten sich auf den erhofften Regierungswechsel 2006 vor". Das lohne den Kampf, zu dem auch das Vorantreiben der eigenen zukunftsfähigen Konzepte gehöre.
Der eingangs zitierte Herr Rees hat wohl kaum den Nagel auf den Kopf getroffen. Mag sein, dass die IG Metall sich "eine zweite Niederlage nicht leisten kann", wie er sagt. Aber vor allem ist sie zum Kämpfen gezwungen. Davon hängt nicht nur ihr eigenes Schicksal ab. Huber erkennt, dass die "Fantasien" eines Friedrich Merz "systemverändernd" sind. Es schleichen sich ja wirklich schon Erinnerungen an die Endzeit der Weimarer Republik ein. Ist es nötig, sie aufzufrischen? "Mit dem Beginn der Krise", schreibt der Historiker Karl Dietrich Bracher, "erfolgten neue Einbruchsversuche. Sie gingen auf die Beseitigung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung und Unabdingbarkeit der Tarifverträge und besonders auf Abbau der Leistungen in der Arbeitslosenversicherung aus, deren Höhe ja unmittelbar mit der Lohnfindung zusammenhing. Dahinter stand die Einsicht in die gewaltige politische Bedeutung des Arbeitsrechts, das weit über die sozialpolitischen Implikationen hinaus eine wichtige Rolle beim Sturm auf die Republik selbst spielen sollte."
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