Zur Turangalila-Symphonie (I)

Messiaen Die 1949 uraufgeführte Komposition wäre allein aus dem Kontext der deutschen Musiktradition nicht verständlich zu machen

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Am Ende meiner Berichte über das Berliner Musikfest 2016 hatte ich angekündigt, einen Text über die Turangalila-Symphonie von Olivier Messiaen noch nachfolgen zu lassen. Über dies imposante, aber auch sehr komplexe Werk zu schreiben, das am 13. September in der Philharmonie zu hören war, gespielt vom eindrucksvollen Orquesta Sinfónica Simón Bolívar – dem staatlichen Jugendsinfonieorchester Venezuelas - unter Leitung Gustavo Dudamels, fühlte ich mich vor sieben Wochen nicht hinreichend vorbereitet. Zwar hatte ich es oft gehört in verschiedenen CD-Einspielungen, wusste aber nicht, wie ich darüber sprechen sollte. Als ich jetzt wieder daran ging, dachte ich zunächst, es ginge nur um jenem Zug, der große Kunst oft auszeichnet: dass sie der naiven Rezeption sofort gefallen kann, zugleich aber Tiefen hat, die sich erst dem Studium erschließen. Doch das war es nicht allein. Es stimmt zwar: Mit Farbenpracht und witzigen Effekten, die an Shakespeare denken lassen, der seine Tragödien gern mit komischen Volksdialogen auflockerte, ist es Messiaen schon bei der Uraufführung 1949 gelungen, ein Bostoner Publikum, das als konservativ galt, spontan zu überzeugen. So bin auch ich überwältigt, das Studium ist mir aber trotzdem schwer gefallen. Ganz am Ende habe ich geahnt, woran es wohl lag: Die Turangalila-Symphonie hat meine Rezeptionsmuster erschüttert. Von diesem Umstand wird die folgende dreiteilige Darstellung geprägt sein. Ich setze vor der Symphonie ein und erkunde zuletzt auch ihren Kontext. Die drei Folgen, alle schon geschrieben, werden kurz hintereinander ins Netz gestellt.

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Ich komme zuerst auf Galina Ustwolskaja zurück, über die zu berichten ich ebenfalls aufgeschoben hatte. Wie sich zeigen wird, ist das eine Spur, die auf Umwegen zur Turangalila-Symphonie führt. Mir scheine, schrieb ich schon am 8. September, dass Ustwolskaja „eher Messiaen als Schostakowitsch folgt“, obwohl sie dessen Schülerin sei, weshalb ja ihre dritte Symphonie an jenem Tag zusammen mit Schostakowitschs Vierter zur Aufführung gekommen war. Ich habe inzwischen auch ihr Konzert für Piano, Streichorchester unf Pauken von der CD gehört, das den Einfluss des Lehrers noch deutlich kundtut. Es wurde 1946 komponiert. Ihre dritte Symphonie indes, entstanden 1983, ist schon deshalb eines andern Geistes Kind, weil sie sich explizit als religiöse Musik präsentiert; sie trägt den Untertitel „Jesus Messias, errette uns!“. Die Worte sind Versen des Benediktiners Hermann von Reichenau (1013-1054) entnommen, die während des nur fünfzehnminütigen Werks von einem Sprecher rezitiert werden. Über die Musik schreibt Olaf Wilhelmer im Programmheft, man höre „blockhafte[.] Klänge“, „rhythmische Arbeit findet so gut wie nicht statt“: „Eine durchgehende Viertelbewegung durchpulst dieses musikalische Ritual, jeder Ton wiegt schwer, über vielen Noten steht ‚espressivo‘. Eine donnernde Klavierkadenz im ‚Espressivissimo‘ markiert das Mittelstück der schlichten dreiteiligen Form, die hinter das unmittelbare Klangereignis völlig zurücktritt.“

Das erinnert ein wenig an den Polen Górecki, bei dem man an Messiaen allerdings nicht zurückdenkt. Bei Ustwolskaja wohl. Sie schließt an gewisse religiöse Stücke, mit denen Messiaens orchestrales Komponieren beginnt und die sich dann über sein ganzes Oeuvre verstreuen, unmittelbar an: Les Offrandes oubliées von 1930 etwa, eine gut zwölfminütige „symphonische Meditation“, oder aus L’Ascension von 1935 (1934 als Orgelmusik entstanden) das erste und vierte Stück. Diese frühen Kompositionen sind nun auch deshalb interessant, weil sie die Vorgeschichte von Turangalila zeigen und selbst eine haben. Wie, so musste sich Messiaen ja fragen, kann ich Christentum in Musik übersetzen? Wie klingt es musikalisch, wenn Christus bei der Himmelfahrt (ascension) zum „Vater“ betet; wie klingen seine „vergessenen Opfergaben“ (offrandes oubliées), die Kreuzigung also vor allem? Auf solche Fragen hatte bereits Claude Debussy eine Antwort gefunden. In Le Martyre de Saint Sebastien (1911) meditiert der Titular, ein römischer Tribun, über den Kreuzestod, bevor er selbst von den Pfeilen der ihm untergebenen Prätorianer getötet wird. Darauf greift Messiaen zurück. Debussy aber hatte, und nicht zum ersten Mal, auf Wagner zurückgegriffen, und zwar auf den Parsifal.

Das ist eine bemerkenswerte Genealogie, nicht nur weil Le Martyre eine so unorthodoxe christlich-heidnische Mischung war, dass der Pariser Erzbischof allen Katholiken drohte, sie würden exkommuniziert, wenn sie die Aufführung besuchten. Genauer gesagt ist so das Stück von Gabriele D’Annunzio zu charakterisieren, zu dem Debussy eine Schauspielmusik schrieb: D‘Annunzio scheut sich nicht, den heiligen Sebastian mit dem phönizischen oder phrygischen Vegetationsgott Adonis zu assoziieren. Dessen Tod haben die Frauen vor Augen, als sie den schönen christlichen Jüngling betrauern. Auch den Kaiser Diokletian lässt der italienische Dichter in ihn verliebt gewesen sein, obwohl es in der Legenda aurea nur heißt, er habe ihn in seinem Palast „immer vor den anderen bevorzugt“. Schon dies Literarische erlaubt einen Bogen zu Messiaens Symphonie zu schlagen, ist doch deren Titel Turangalila einer nichtchristlichen Religion, der indischen, entnommen. In Debussys Musik indes spielt D‘Annunzios Synkretismus keine Rolle. Was er beiträgt, ist etwas ganz Anderes. Einen Gestus der Distanz hat er gefunden, durch den er imstande ist, ein so unaushaltbares Geschehen wie die Todesfolter zu Gehör zu bringen. Weit entfernt, das Leid von Gefolterten auszumalen oder sich gar in es hineinzuversetzen, evoziert er nur das düstere, depressive Gefühl dessen, der darüber nachdenkt.

Dass er dabei auf den Parsifal zurückgreift, ist nicht so leicht zu verstehen, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn zwar will auch Wagner das Martyrium andeuten, ein Martyrium minderer Güte: Es besteht in der Wunde, die Amfortas, der Gralskönig, von der erotischen Begegnung mit Kundry, der „Urteufelin“, davonträgt. (Wie der Althistoriker Peter Brown gezeigt hat, ist das der Ursprung der christlichen Sexualfeindschaft: Die antike Kirche hat das Martyrium durch sexuelle Frustration substituiert. Vgl. The Body and Society. Men, Women and Sexual Renunciation in Early Christianity, New York 1988; deutsch Die Keuschheit der Engel, München Wien 1991.) Doch ist es kaum wahrscheinlich, dass Debussy dies als geeignetes Modell für eine Evokation der Leiden Christi angesehen haben kann. Auch deshalb nicht, weil er an dieselbe Parsifal-Musik schon lange vorher in Pelléas et Melisande angeknüpft hatte, wo er den Liebestod ganz ohne religiöse Verklemmtheit auf die Opernbühne bringt. Aber was ist dann das Gemeinsame all dieser Klänge – in Messiaens Offrandes, Debussys Martyre und Pelléas und Wagners Parsifal? Oder anders gefragt, was lag in Wagners Musik, dass ihr Gestus für so verschiedenartige Kontexte taugte? Einer, der auch anknüpfte, Hans Pfitzner, gibt den Schlüssel zur Antwort. Der Beginn seiner Palestrina-Ouvertüre ist dem Beginn von Debussys Pelléas verpflichtet und auf diesem Umweg ebenfalls dem Parsifal. Der Ton, den Pfitzner hierbei anschlägt, ist nun ganz klar auf historische Entferntheit gestimmt. Wir werden in eine Zeitreise geschickt, zurück zum Beginn der Renaissance, wo Palestrinas Musik ein letztes Mal erglänzt und dann verdämmert - ganz wie Pfitzner denken muss, dass es seiner eigenen Musik so ergehe. An einer Reise noch tiefer in die Zeit lässt uns der Parsifal teilnehmen. Und auch Wagner macht es schon im Vorspiel deutlich, indem er dessen erstes Thema mit einem seltsamen Nachhall versieht, der Adorno aufgefallen ist.

Was man begreifen muss: Nicht nur Debussy sah in Amfortas‘ Wunde kein Vorbild für das Martyrium des heiligen Sebastian, sondern auch Wagner selbst ging es nicht darum, das Martyrium, wie er es verstand, im Gestus der Parsifal-Musik zu spiegeln. Diese Spiegelung geschieht vielmehr in einem bestimmten Thema innerhalb dieser Musik und zwar gleich im ersten des Vorspiels, das passenderweise aufs Thema der Kunst der Fuge von Bach, genauer gesagt auf dessen Umkehrung anspielt (dann auch im Klingsor-Motiv, das davon nur die „verrückte“ Form ist). Wagners Parsifal-Musik, abgesehen davon, dass sie meist rezitativisch gehalten ist, bestimmt sich ansonsten genau als distanzierte und hat gerade darin ihre Eigenart wie alle Musik, die ich genannt habe. Nur dass sie nicht das Schreckliche entfernt hält wie Debussy und Messiaen, sondern umgekehrt das weit Entfernte heranholt, zu welchem Zweck sie den zeitlichen Abstand allererst hörbar machen muss. Wagners Musik ist im Allgemeinen nicht „apollinisch“, vielmehr „dionysisch“, hier aber einmal, ganz ausnahmsweise, historisierend.

Debussy aber hat das „apollinische“ Potential der Parsifal-Musik entdeckt und ist deshalb tatsächlich der Wagner-Überwinder, der er sein wollte, obwohl er nichts andres zu tun scheint, als einen bestimmten Wagnertonfall zu wiederholen. Der Witz ist, dass er Wagners Tristan in Wagners Parsifal-Klängen artikuliert. Das geschieht im Pelléas und stellt Wagner, ja überhaupt die deutsche Musiktradition auf den Kopf. Mit dem aristotelischen Theater, der Einfühlung in Leidenschaften ist es vorbei. Keine „Katharsis“ mehr, stattdessen allegorische Bilder, die erschütternd genug sind, doch hört man sie reglos an, ohne den Kopf zu verlieren. Wagner, wenn man es so sieht, bleibt selbst noch im Parsifal „aristotelisch“, denn der historische Abstand, den er da aufbaut, ist doch nur dazu da, zuletzt als papierne Spanische Wand zerrissen zu werden. Wenn Amfortas am Ende die Gralsritter auffordert, ihn zu töten (und wenn Fischer-Dieskau es singt: „Hier bin ich, - die offne Wunde hier! heraus die Waffen! Taucht eure Schwerte tief – tief, bis ans Heft!“), ist das an Distanzlosigkeit auch musikalisch nicht mehr zu überbieten. Wagner hatte ja gute Gründe, im Parsifal wie schon im Tannhäuser die Sexualfeindlichkeit der katholischen Kirche bloßzulegen. Diese Wunde schwärt selbst heute noch. Aber das ist ein Spezialthema. Debussy ließ sich vielmehr anregen, ein neues musikalisches Idiom zu entdecken. Wenn dies Idiom in Le Martyre wie dann auch bei Messiaen auf Religiöses wieder rückübertragen wird, ist Sexualfeindlichkeit kein Thema mehr – so wenig, wie gesagt, dass Debussy den Pariser Erzbischof gegen sich aufbringt. Und dass Messiaen, wie er erklärt und wozu wir jetzt übergehen, seine Symphonie als religiöse Musik und zugleich als Musik über den Tristan-Mythos anlegen kann.

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Wie reimt sich das zusammen, Religion – katholisches Christentum – und die erotisch ganz unbekümmerte, wenn auch tragisch endende Liebe Tristans und Isoldes? Gerade das, was nicht erst die Parsifal- sondern schon Wagners Tannhäuser-Handlung nicht zusammenbringen kann (Tannhäuser hat sich im Venusberg aufgehalten und ihn dann sogar artig verlassen wie Aeneas die Dido, was den Papst aber nicht abhält, ihn auf ewig zu verdammen), behandelt Messiaen von vornherein als zwei Seiten einer Medaille. Wie unbekümmert er das tut, sieht man auf den ersten Blick am Titel der Symphonie, der die christliche Welt locker beiseite lässt. „Turangalila“ ist ein indisches Wort. Hören wir Messiaens Erläuterungen: „Allein der Tristan-Mythos schien mir der Beachtung wert“, aber „diese Legende [ist] Symbol aller großen Liebesbeziehungen und aller großen Liebesdichtung in Literatur und Musik“. Wagner und Debussy sind die Größten auf musikalischem Gebiet, „keinesfalls“ jedoch will er sie „nachschreiben“. „Ich habe für mich lediglich den Gedanken einer schicksalhaften Liebesbeziehung ausgespart, einer ausweglosen Liebe, die ihrer Natur nach zum Tode führt, ja recht eigentlich den Tod herbeiruft.“

Da liegt es schon nicht mehr fern, an die Beziehung des Jesus von Nazareth zu seinen Mitmenschen zu denken. Messiaens Gedanke beginnt indes bei der erotischen Liebe und „weitet“ diese nur „aus“: „Denn gemeint ist eine Liebe, die über das Körperliche, ja über das Geistige hinausweist und sich zu kosmischen Größenordnungen ausweitet“. Von hier aus wollen wir gleich einmal in die Symphonie springen – wie später noch mehrmals -, zu dem, was Messiaen in seinem Einführungstext zu deren fünftem und sechstem von zehn Sätzen sagt. Zum fünften:

„Dies ist ein langanhaltender, frenetischer Freudentanz. Um die Exzesse dieses Satzes begreifen zu können, vergegenwärtige man sich, dass für wahrhaft Liebende die Vereinigung sich als eine Verwandlung geradezu kosmischen Ausmaßes darstellt. André Breton betrachtet die Geliebte als Verkörperung aller [vier] Elemente: ‚Meine Frau, deine Augen gleichen einer Wasserfläche, einer Fläche aus Luft, Erde und Feuer...‘“

Hieran ist zu denken, wenn wir in der Symphonie neben anderen Hauptmotiven auch auf eines des Augenaufschlags oder der Blume stoßen, was Messiaen gleichsetzt. Man wird sagen können, dass er das Leben selber als die Zeit des Augenaufschlag begreift, oder als die Zeit der Zeit, was aufs Selbe hinausläuft. Vielleicht kennt er den Mythos der „Tochter mit Blütenkelchantlitz“. Aber dass er nun gerade Breton zitiert, den Theoretiker des Surrealismus, sollten wir uns für später merken. Weiter:

„Bereits bei Shakespeare spricht die Liebende: ‚So grenzenlos ist meine Huld, die Liebe / So tief ja wie das Meer...‘ Und Tristan sagt zu Isolde: ‚Und wären alle Menschen dieser Welt um uns, so sähe ich doch nur dich allein...‘“

Er zitiert das aus einem Tristan-Roman des 13. Jahrhunderts. Exzess und frenetische Freude sind nun freilich etwas ganz anderes als jene Distanz, von der wir sprachen – noch etwas, das zusammenzureimen bleibt. Zum sechsten Satz:

„Die beiden Liebenden sind vom Liebesschlummer umfangen. Eine Landschaft ist aus ihnen entsprungen. Der Garten, der die beiden umgibt, heißt Tristan; der Garten, der sie umgibt, heißt auch Isolde. Dieser Garten ist voller Schatten und Licht, voller Pflanzen und neuartiger Blumen, voller hell und melodisch singender Vögel. ‚Alle Vögel der Sterne...‘, sagte Harawi.“

Messiaen hatte Turangalila zum Mittelstück eines dreiteilen Tristan-Zyklus erklärt; der erste Teil ist Harawi, Gesang von Liebe und Tod für Sopran und Klavier. „Harawi, ein Begriff der altperuanischen Quechua-Sprache, bezeichnet Volksgesänge der Anden, die eine ausweglose, oft zum Tod führende Liebesbeziehung zum Gegenstand haben“, so Klaus Schweizer, Olivier Messiaen. Turangalila-Symphonie, München 1982, S. 5; ich stütze mich im Folgenden auf dieses Buch, in der auch Messiaens Selbsterläuterung abgedruckt ist, die ich hier zitiere. Weiter der Komponist:

„Die Zeit verrinnt, doch ist sie in Vergessenheit geraten. Die Liebenden befinden sich außerhalb der Zeit; wecken wir sie nicht...“

Mit dem letzten Satz spielt er aufs Hohelied der Liebe an, ein Buch der Hebräischen Bibel. „Stört die Liebe nicht auf, weckt sie nicht, bis es ihr selbst gefällt“ ist dort ein oft wiederkehrender Refrain (zuerst 3, 5). Wir kennen es vielleicht eher aus dem Lied der Puhdys: „Wenn ein Mensch kurze Zeit lebt, / sagt die Welt, dass er zu früh geht. / Weckt sie nicht, bis sie sich regt. / Ich hab‘ mich in ihren Schatten gelegt.“ Im Hohenlied heißt es schließlich: „Stark wie der Tod ist die Liebe“, „Ihre Gluten sind Feuergluten“, „Auch mächtige Wasser können die Liebe nicht löschen“ (8, 6 f.). Sie wird ganz irdisch ausgemalt: „Mit Küssen seines Mundes bedecke er mich“ (1, 1), „Trauben am Weinstock seien mir deine Brüste“ (7, 9) und so weiter. Übrigens auch dass aus Tristan und Isolde „eine Landschaft entspringt“, hat Messiaen aus dem Hohenlied genommen: „Die Quelle des Gartens bist du, ein Brunnen lebenden Wassers, Wasser vom Libanon. Nordwind, erwache! Südwind, herbei! Durchweht meinen Garten...“ (4, 15 f.)

Dass sie sich aber „außerhalb der Zeit befinden“, ist die Brücke, die er betreten kann, um nach Indien zu gelangen. Wir sind nun vorbereitet genug, Messiaens allgemeine Darlegung des Konzepts der Turangalila-Symphonie anzuhören:

Turangalila: das Wort entstammt dem Sanskrit [...]. Wie alle Vokabeln der alten orientalischen Sprachen ist auch dieser Begriff reich an Bedeutungen. Lila heißt wörtlich: Spiel. Gemeint ist aber Spiel im Sinne eines göttlichen Einwirkens auf das kosmische Geschehen, also das Spiel der Schöpfung, der Zerstörung, der Wiedererschaffung, das Spiel von Leben und Tod. Lila bedeutet auch: Liebe. Turanga: das ist die Zeit, die davoneilt wie das galoppierende Pferd, die Zeit also, die fließend zerrinnt wie der Sand einer Sanduhr. Turanga meint die Bewegung und den Rhythmus. Turangalila schließt somit gleichzeitig die Bedeutungen Liebesgesang, Freudenhymne, Zeit, Bewegung, Rhythmus, Leben und Tod ein.
Die Turangalila-Symphonie ist ein Liebesgesang. Die Turangalila-Symphonie ist eine Hymne an die Freude, wobei nicht die bürgerliche und verhalten euphorische Freudenempfindung so mancher rechtschaffener Menschen des 17. Jahrhunderts gemeint ist, sondern jene Freude, wie sie nur einer ermessen kann, dem in tiefem Elend eine Ahnung von ihr zuteil geworden ist. Gemeint ist also übermenschliche, überströmende, blendende und maßlose Freude. Auch der Begriff Liebe wird unter diesem Blickwinkel betrachtet: gemeint ist schicksalhafte, unwiderstehliche Liebe, die alles übersteigt, alles überrennt, Liebe, für die Tristans und Isoldes Liebestrank als Symbol einsteht.“

Da ist sie wieder, die „blendende und maßlose“ Freude, die uns als „frenetische“ und als „Exzess“ schon weiter oben begegnete. Man wird mich nun fragen, was das denn mit jener „apollinischen“ Distanzmusik zu tun haben soll, von der ich ausführte, dass sie von Wagners Parsifal über Debussys Le Martyre zu Messiaens religiösen Meditationen geführt habe. Ich würde antworten, dass Messiaen in der Turangalila-Symphonie die ihm sonst vorschwebende musikalische Martyriumsvorstellung in zwei Teile zerlegt, die völlig verschieden, ja gegensätzlich zu sein scheinen, es aber nicht wirklich sind, wobei das musikalische Spiel (Lila) dieses Gegensatzes nur ein äußerst erregtes sein kann. Diese Teile haben musikalische Namen, es sind die beiden Hauptthemen der Symphonie: die eine ein schrecklich erscheinendes „Statuen-Thema“, die andere das „Liebes-Thema“ in seiner fast schon peinlich anmutenden Wehrlosigkeit (die mir kitschig erscheint in Momenten, wo ich so viel Wahrheit nicht aushalte). Jene „blockhaften Klänge“, die Messiaen anfangs von Debussy übernimmt und worauf später die Schülerin Schostakowitschs rekurrieren wird, wären als die Asymptote zu begreifen, der sich das Spiel annähern würde, wenn der Gegensatz verschwinden könnte im Verlauf der Symphonie.

Das kann er freilich nicht, denn, wie Messiaen deren Ende beschreibt: „Die Melodie verharrt unschlüssig in einem Zustand leuchtender Erwartung. Diese große Gebärde auf ein Ende hin, das es gar nicht geben kann – Lobpreis und Freude sind unendlich -, bewirkt, ja provoziert die Coda, die [...] voller Brillanz und Vehemenz ihren Schlusspunkt setzt.“

Wie wir aber sehen werden, sind das Statuen-Thema und das Liebes-Thema Kehrseiten voneinander.

Zum Teil II / zum Teil III

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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