Zur Turangalila-Symphonie (III)

Messiaen Komplikation und Abrakadabra: Mit seiner Arbeitsweise steht der Komponist in der Tradition des Surrealismus

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In dieser letzten Folge müsste etwas Bündiges über die Symphonie gesagt werden können. Was ihren „Inhalt“ angeht, ist das auch möglich; wir können uns Schweizer anschließen, dessen Bemerkung zum fünften Satz, dem Semi-Finale, sich auf die ganze Komposition beziehen lässt: „Schicksalsverkündung und Freudentanz erweisen sich als Äußerungen ein und derselben Bewegkraft.“ (A.a.O., S. 35) Was Messiaens Vorgehen angeht, fragen wir uns aber nach wie vor, was er sich dabei denn wohl gedacht hat. Er setzt viele Organisationsprinzipien gleichzeitig ein, das Werk wird dadurch „unfassbar“. Tut er nicht zu viel des Guten? Kommt nicht im Grunde eine große Unordnung heraus? Im Versuch zu antworten werde ich vor allem zitieren; ich glaube, die Zitate haben es in sich. Der Sache nach nehme ich wieder auf, was sich in der ersten Folge ergab: Wir befinden uns auf französischem Boden und sollten uns klar machen, dass wir dort nicht ohne Weiteres heimisch sind.

Auf das Konzept des organlosen Körpers stieß ich einst am Anfang des Anti-Ödipus von Gilles Deleuze und Félix Guattari, da, wo sie auf die Beschreibung eines „schizophrenen Tisches“ durch Henri Michaux verweisen:

„Wie er da stand, war es ein Tisch mit Zusätzen, so wie gewisse überladene Zeichnungen Schizophrener gemacht sind, und war er vollendet, so in dem Maße, wie die Mittel nicht mehr vorhanden waren, ihm irgend etwas noch hinzuzufügen, Tisch, der immer mehr von einem Haufen, immer weniger von einem Tisch an sich hatte. [...] Man wusste nicht, wie ihn nehmen (sowohl geistig wie manuell). Die Tischplatte, der nützliche Teil, zunehmend an Umfang verlierend, verschwand, stand zu diesem unhandlichen Gestell so wenig in Beziehung, dass man das Ganze als einen Tisch nicht mehr zusammenbrachte, vielmehr als ein gesondertes Möbelstück ansah, dessen Verwendung noch nicht hätte angegeben werden können. Ein Tisch, der von menschlichen Spuren nicht mehr zeugte, bar jeder Schnörkelei, der nicht bürgerlich, nicht rustikal war, der kein Tisch vom Lande, kein Küchen- und kein Arbeitstisch war. Der für nichts sich hergab [...].“(Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt/M. 1977, S. 12 f.)

Ich mag die Symphonie von Messiaen, und ja, so wirkt sie auf mich. In dem zitierten Buch von Michaux wird es noch ausgeführt und wir finden da Bilder, die noch besser auf Turangalila zu passen scheinen: „E., der Urheber des Tisches, kannte noch andere Ausdrucksformen. Seine Begrüßungen [...] bildeten ein überspanntes Zeremoniell. Da ihm ein gewöhnlicher Gruß offenbar nicht genügte, richtete er eine Art von Empfangsfest, ein Märchenspiel aus Gesten, Anerkennung und Freude, in das sich auch Spielerisches, Spott, Widersetzlichkeit und Pomp mischten. Ein Meisterwerk von Komplikation und Abrakadabra. Ein richtiges Ritual, spaßig, verdächtig, in dessen Hintergrund vielleicht eine Art von Herausforderung stand.“ (Die großen Zerreißproben und andere Störungserlebnisse, Frankfurt/M. 1970 [frz. 1966], S. 120)

Und wenn Michaux auf den Tisch zurückkommt: „In der Tat hatte E. [...], ohne auf das Material und seine für das Ganze störende Wirkung zu achten, Stücke alten Linoleums gebraucht, die er hier und da als Pendants zu dessen Teilen aus Holz verwendete.“ (Ich kann nicht anders, als hier an die Ondes Martenot zu denken, obwohl sie ja gerade nicht etwas Altes, sondern das Neueste hinzufügen, ein Vorschein elektronischer Musik sind.) „Aber bestand nicht gerade darin das Rührendste, dass er in regelmäßigen Zeitabständen wieder zur Symmetrie zurückkehrte wie zu einer Verpflichtung und dass die Teile trotzdem nicht übereinstimmten.“ (S. 121 f.) Der letzte Satz könnte einem auch zu Messiaen einfallen – obwohl er sich, wie alles Vorausgehende, auf die Taten eines Schizophrenen bezieht.

Das ist nun weniger sensationell, als es dem Anschein haben mag. Denn wie schon der Volksmund weiß, liegen „Genie“ und „Wahnsinn“ niemals weit auseinander. Warum das so ist, erklärt uns der Begründer der Psychoanalyse: „Die Neurosen“, schreibt Freud in Totem und Tabu (Studienausgabe Bd. IX, Frankfurt/M. 1982, S. 287-444, hier S. 363), „zeigen einerseits auffällige und tiefreichende Übereinstimmungen mit den großen sozialen Produktionen der Kunst, der Religion und der Philosophie, andererseits erscheinen sie wie Verzerrungen derselben. Man könnte den Ausspruch wagen, eine Hysterie sei ein Zerrbild einer Kunstschöpfung, eine Zwangsneurose ein Zerrbild einer Religion, ein paranoischer Wahn ein Zerrbild eines philosophischen Systems. Diese Abweichung führt sich in letzter Auflösung darauf zurück, dass die Neurosen asoziale Bildungen sind; sie suchen mit privaten Mitteln zu leisten, was in der Gesellschaft durch kollektive Arbeit entstand.“ Wenn uns also ein Kunstwerk an „Verrücktes“ erinnert, ist nicht das Kunstwerk selber verrückt - es ist nicht die privatistische Schwundstufe seiner selbst. Trotzdem geschieht es nicht jeden Tag, dass ein Kunstwerk sofort an „gewisse überladene Zeichnungen Schizophrener“ erinnert. Wir haben also immerhin eine Spur gefunden und können ihr zu folgen versuchen.

Messiaen ist Künstler jenes Landes und jener Zeit, deren Intellektuelle von der existenziellen Radikalität eines Antonin Artaud beeindruckt waren, der viele Jahre im Irrenhaus interniert war. Artaud seinerseits war Anhänger des Surrealismus gewesen, von dessen Theoretiker André Breton wir bei Messiaen ein Zitat gefunden haben, und hatte sich dann von dieser Strömung gelöst, weil sie ihm nicht radikal genug war. Auf Artaud geht das Konzept des „organlosen Körpers“ zurück. Er äußert sich 1948 in einer Rundfunksendung, die der Zensur zum Opfer fiel: „Der Körper ist der Körper. Er ist allein. Und braucht keine Organe. Der Körper ist niemals ein Organismus. Die Organismen sind die Feinde des Körpers.“ Wenn Deleuze und Guattari das zitieren, setzen sie gleich ihre Deutung hinzu, die mir ein wenig zu rationalistisch erscheint: „Der organlose Körper ist kein Gegensatz zu den Organen, sondern widersetzt sich mit seinen ‚echten Organen’, die zusammengesetzt und an die richtige Stelle gebracht werden müssen, dem Organismus, der organischen Organisation des Organismus.“ (Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1992, S. 218)

Er ist die Weigerung, wollen sie sagen, den eigenen Körper als eine entfremdet funktionierende, auf ein von außen gesetztes Ziel gerichtete Maschine zu begreifen. Der organlose Körper ist für sie ein atheistisches Konzept. Gut, aber so wird er schwerlich erlebt; sie werden trotz allem froh sein, ihn nicht selbst zu erleben. Es scheint zwei Erlebnisarten zu geben: eine, die den Organismus durch das Hinzufügen von immer mehr Organen ad absurdum führt, wie „E.“ es unternimmt, und eine, bei der er nach und nach alle Organe zu verlieren scheint, wie es dem Gerichtspräsidenten Schreber ergeht, einem von Freud untersuchten Paranoiker; beides dürfte sich schlecht aushalten lassen, wo es nicht objektiviert und so vom eigenen Körper gerade entfernt gehalten wird. Und übrigens war Artaud kein Atheist. Er schwankte zwischen Christus und Altmexiko. Was Messiaen angeht, bleibt es bemerkenswert genug, dass sein Kunstwerk als Objektivation der zerreißenden Überfrachtung überhaupt erscheint, als solche noch durchsichtig bleibt; bei allem Jubel, auf den es hinauslaufen will, kommt es uns doch wie das Dokument einer Krise vor.

*

Wenn bisher dargestellt wurde, wie Messiaens „Tisch“ sich überwuchert und tendenziell formlos erscheint, weil er zu viele Formen auf einmal einsetzt, so will ich jetzt auch unterstreichen, dass es veritable Tischbeine und –platten sind, die er verfugt. Zwei Beispiele mögen zeigen, wie er arbeitet, und wir nehmen als erstes den ersten Satz, weil uns sein Höreindruck schon beschäftigt hat. Ich zitiere Schweizers Ablaufschema (a.a.O., S. 13 f.):

„A Rahmenabschnitt (locker gefügt)
.......Modéré, un peu vif. Eröffnung
.....[2] Lourd, presque lent. Vierfacher Einsatz des ‚Statuen-
..........Themas‘
.....[4] Bien modéré. Fächerartig sich ausweitende Überleitung
.....[7] mit treppenartigem Unisono-Abstieg und
.....[8] Presque lent. Strawinski-Reminiszenz,
.....[9] Lent. ‚Blumen-Thema‘
.....[11] Kadenz des Solo-Klaviers (thematisch ungebunden)
B. [12] Modéré. Zentralabschnitt (fest gefügt), mehrschichtig
A‘ .Rahmenabschnitt (locker gefügt), stark verkürzt:
.....[21] treppenartiger Unisono-Abstieg, kombiniert mit
...........‚Statuen-Thema'
.....[22] Un peu vif. Schlussgeste“

„Locker gefügt“, „thematisch ungebunden“ – der Voluntarismus des Ablaufs springt ins Auge. Er springt noch mehr ins Auge, wenn wir uns erinnern, dass B eigentlich kein Zentralabschnitt, sondern eher der zweite Teil des Satzes ist, dem mit A‘ nur noch eine sehr kleine Coda aus A-Materialien folgt. Allerdings haben wir es hier ja nur mit dem Einleitungssatz zu tun. Schweizer sagt, es sei darum gegangen, „den Klangraum auf[zu]schließen, die Farbpalette des nicht ganz alltäglichen Instrumentariums ins Bewusstsein des Hörers [zu] tragen und nicht zuletzt zwei der zyklischen Themen eindrücklich vor[zu]stellen“ (S. 13). Wir sehen uns daher noch ein zweites Beispiel an, den vierten Satz, Chant d’amour 2, zu dem Schweizer bemerkt: „Der Komponist verweist auf die Scherzo-Anlage als Formgerüst.“ Sehr bezeichnend indes fährt er fort: „Doch kann das Modell etwa eines Beethovenschen Scherzos mit seiner traditionellen Dreigliederung Scherzo-Trio-Scherzoreprise nur allererste Denkanstöße vermittelt haben.“ (S. 27) Hier das Schema (S. 28):

„A........Bien modéré. Scherzo-Periode (Piccolo-Flöte, Fagott) in
............zwei Durchgängen: a) in einfacher Gestalt, b) [1]
............figurativ bereichert (Solo-Klavier, Glockenspiel,
............Kontrabässe
B.........[2] Modéré, un peu vif. Überleitung, sich ausweitend
C.........[5] Très modéré, avec amour. Trio 1, dominierende Bläser
D.........[7] Trio 2, dominierende Streicher
ACD‘ .[8] Trio 1 und 2 gleichzeitig, durchführungsartig
................überlagert von Partien der Scherzo-Periode mit
................Figuration des Solo-Klaviers (‚comme un chant
................d’oiseau‘)
B........[11] Modéré, un peu vif. Überleitung, sich konzentrierend
ACD‘‘.[14] A Tempo (bien modéré). Scherzo-Periode,
.................reprisenartig, in zwei Durchgängen, jeweils
.................figurativ bereichert (Solo-Klavier!). Nach 5 Takten
.................überlagert von Trio (Holz) und Trio 2 (Streicher)
.................gleichzeitig. In der Schlussphase (7 Takte vor [16]):
.................‚Statuen-Thema‘ (Posaunen, Tuba)
E....... [16] Kadenz des Solo-Klaviers (thematisch ungebunden)
..........[17] Coda: a) Lent ‚Blumen-Thema‘, b) Lourd, presque lent
.................‚Statuen-Thema‘, c) [18] Très lent Trio-Reminiszenz
.................(Refrain-Phrase)“

Diese Art zu fügen, in einem übrigens nur elfminütigen Satz, der so noch zu den längsten zählt, ist charakteristisch für alle Sätze: Einzelne Stücke mögen eine traditionelle Form wenigstens ungefähr aufgreifen, im Ganzen ist aber die Folge willkürlich. Das heißt, sie könnte, wenn es nach der Form geht, auch anders sein; natürlich gibt es eine Ablauflogik, doch verdankt sie sich nur dem vom Komponisten beabsichtigten Höreindruck. Wenn man sich klar macht, dass die ganze mehr als einstündige Symphonie ein Nacheinander solcher Kleinstabschnitte ist, von denen kaum jemals einer dem andern gleicht, dann kann man so schon ahnen, wie der Höreindruck des Ganzen bei aller Faszination ein „organloser“ sein muss. Dennoch haben wir uns jetzt befähigt, einen anderen Standpunkt einzunehmen, die Sache nämlich von innen, von der Produktionsweise her zu betrachten. Da legt sich ein weiterer Begriff nahe, den Ernst Bloch zur Interpretation der Avantgardekunst brauchte: die Montage.

Bloch sieht in der Montage die Reaktion auf einen Zusammenbruch vormals geglaubter organischer Einheiten. Statt dass die Künstler gleich neuartige Einheiten probieren – wie sollten sie das können, sie müssten dann ja über neue Ziele verfügen, die es so schnell nicht schon wieder gibt -, bleibt ihnen nur, aus den Trümmern des Alten etwas zu machen. Montage, so Bloch, „improvisiert mit dem gesprungenen Zusammenhang, sie macht aus den pur gewordenen Elementen [...] variable Versuchungen und Versuche im Hohlraum“ (Erbschaft dieser Zeit. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt/M. 1962 [Erstausg. 1935], S. 215). „Fasslich für viele“, führt er aus, „war zunächst nur das geschnittene, neu geklebte Lichtbild ‚montiert‘“, „ihre Form war [...] der Jazz, die Revue, das Mosaik aus Fetzen, Lumpen und Lockerung. [...] Freilich zeigte der Ausgang an Jazz wie an Revue, dass nicht hier schon das Material irgendwo konkret durch Montage verändert worden ist, sondern das Großkapital lenkte beide wieder (ohne dass eine Materialveränderung geschehen wäre) in die kleinen Formen der Irratio ab – hier der Militärtrommel, dort der Hitlerparade. Auch die Montage also kann unmittelbar immer nur als Mittel enden, den Hohlraum zuzubauen [...].“ (S. 221 f.)

So weit haben wir es nur mit „Trümmern“ zu tun, „die den Mut nicht finden, zu phosphoreszieren“ (S. 222). Doch dabei bleibt es nicht! „Bei Joyce, als dem Monument der ‚Surrealisten‘, ist Montage geradezu der Schlüssel aller Wunderlichkeit, sie ist die Beschreibung des Durcheinander der Erlebniswirklichkeit mit eingestürzten Sphären und Zäsuren. Die Sprache hier ist auf nichts als Anfänge gebracht, auf verkommene Anfänge des Klingklangs und in ihm nochmals kombiniert; die Handlung läuft zwischen innerem Monolog (der alles sagt, was der Person durch die Sinne geht), Unterwelt, Querwelt und Überwelt (die wieder im engsten Leibkontakt stehen). [...] „Zote, Chronik, Gewäsch, Scholastik, Magazin, Slang, Freud, Bergson, Ägypten, Baum, Mensch, Wirtschaft, Wolke gehen in diesem Bildfluss aus und ein, mischen sich, durchdringen sich in einer Unordnung, die ihre Gestalt freilich bei Proteus sucht, im Durcheinander der gärenden Natur, nicht mehr bei Prometheus, am expressiv gärenden Subjekt. [...] Die zerlegte Geige Picassos ist so, in schwer durchschaubarer Breitstapelei, zur Wortkinetik geworden [...].“ (S. 224 f.) Das ist nun mehr als Zuschütten des Hohlraums, es ist produktiv: „Die konstitutive Montage nimmt sich die besten Stücke, baut andere Zusammenhänge daraus, und der Besitzer des früheren Zusammenhangs erfreut sich am neuen [...] nicht mehr.“ (S. 225)

Bloch fügt noch hinzu, und das ist natürlich in dieser Sphäre das höchste Lob, das er vergeben kann, dass vollends bei Bert Brecht Montage nicht bloß mit irgendwie „‚interessanten‘ Zufallsfiguren“ befasst ist, sondern der kommunistische Dichter „sie geradezu als Produktivkraft gebraucht. Nämlich als Unterbrechung des dramatischen Flusses und lehrhafte Versetzung seiner Teile, kurz, als regiehaftes Politikum.“ (S. 226) Auch die „philosophischen Querbohrungen Benjamins“ werden gewürdigt, hier „[holt sich] Montage [...] das Ihre aus manchem Stegreif, der früher beliebig gewesen wäre [...]; sie holt eingreifende Mittel aus verachteten oder verdächtigen Formen und aus Formen ehemals zweiter Hand“. Man könnte hinzufügen, dass die Allegorie, der Walter Benjamins besonderes Interesse galt, anders als das Symbol ein äußerlich Zusammengefügtes ist. Und noch einmal zum Surrealismus: „Montage hat den Zug zum Interim, zu neuer ‚Passagenbildung‘ durch die Dinge und zur Auslage von bisher weit Entferntem; an anderen Stellen, so in manchen merkwürdigen Versuchen der Surrealisten, von Max Ernst bis Aragon, ist sie eine Art Kristallbildung am gekommenen Chaos, die die kommende Ordnung bizarr versucht zu spiegeln.“ (S. 227)

Mit solcher Begrifflichkeit scheint man sich der Turangalila-Symphonie denn doch annähern zu können. Da sie, in literarische Worte gefasst, eine noch recht klare Thematik hat, den Tristan-Mythos in katholischer Perspektive, formell aber aus verwirrend vielen Stücken „montiert“ ist und es zudem noch liebt, die Montage-Elemente zu überlagern, liegt es tatsächlich nahe, sie mit einer „zerlegten Geige Picassos“ zu vergleichen. Ähneln nicht auch die kubistischen Bilder Picassos so einem Tisch, „der immer mehr von einem Haufen, immer weniger von einem Tisch an sich hat“, ja hat er nicht auch Tische direkt gemalt? Und hier bewährt sich, das heißt mit Bloch begreifen wir besser, was Freud uns sagen wollte – was den Tisch des Künstlers vom „schizophrenen“ Tisch unterscheidet. Der Tisch des „E.“ ist das sinnlose Dokument eines privatim zusammengebrochenen Menschen, der kein selbstgewähltes Umfeld mehr hat („E.“ war als Mörder seiner Frau in die Klinik eingeliefert worden); der kubistische Kunst-Tisch ist Reaktion auf einen gesellschaftlichen Zusammenbruch und ist der Versuch, aus ihm heraus der Gesellschaft, und darüber vermittelt den Individuen, einen wieder gangbaren Weg zu erspüren.

Und so die Turangalila-Symphonie. Trotz ihres dezidiert katholischen Jubeltons würde man sie nicht begreifen, sähe man in ihr das Zeugnis einer Selbstsicherheit. Nein, sie stellt sich als unfertig aus. Ohne dass es einen Weg gibt, bahnt sie sich einen. Anders gesagt, das Religiöse der Symphonie, so sehr es „gemeint“ ist, ist auch metaphorisch zu verstehen: Wenn Messiaen zum zehnten und letzten Satz sagt, am Ende verharre die Melodie „unschlüssig in einem Zustand leuchtender Erwartung“, dann darf man das auch auf die unklare Situation beziehen, die mit und nach dem Zweiten Weltkrieg hereingebrochen ist. Um das aber zu begreifen, muss man sich von gewissen Rezeptionsmustern lösen. Messiaens Montagetechnik steht zwischen zwei Produktionsweisen, die vertrauter sind: der entwickelnden, die auf kohärente Einheit hinausläuft, indem sie diese genetisch erzeugt, und der logisch „konstruierten“, deren Anspruch es ist, die Kohärenz der Einheit noch viel weiter zu treiben. Wer Ästhetik von Adorno gelernt hat, wird sich in dieser Polarität bewegen und nicht nur Entwicklung über Konstruktion stellen, sondern zudem noch leugnen, dass zwischen Konstruktion und Montage überhaupt ein nennenswerter Unterschied besteht (vgl. Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1973, S. 233; am Ende erweist sich sogar die Wiener Klassik als montiert, vgl. S. 402, womit dann alle Klarheit restlos beseitigt ist). Wie auch immer, Montage fällt zwischen die Stühle und wird bestenfalls mit bösen Worten bedacht (vgl. S. 90), wie Strawinsky sich viele einfängt (in der Philosophie der neuen Musik, Frankfurt/M. 1976 [zuerst 1949]); zu Messiaen hat Adorno gar nichts zu sagen. Doch wie gesagt, ohne Messiaen ist Boulez nicht zu denken. Die Konstruktion hat in der Montage ihre Vorgeschichte.

Und was kommt eigentlich nach der Konstruktion? Ein halbes Jahrhundert ist seitdem vergangen, Analysen auf der Höhe solcher Begriffe wie Konstruktion und Montage stehen aber noch aus.

*

Heute vor exakt sieben Wochen erschien mein Bericht über den wohl beeindruckendsten Abend des diesjährigen Musikfests: die Vorführung des sowjetischen Films Iwan Grosnij von Sergej Eisenstein mit der Musik von Sergej Prokofjew, die wie aus einem Orchestergraben live ergänzt wurde. Was ich damals am Ende ankündigte, sei hier noch einmal wiederholt: Film und Musik werden am 7. November von ARTE ausgestrahlt, 23 Uhr 15 Uhr bis 2 Uhr 25 – das ist übermorgen.

Und wie ich eben noch sehe: Die Turangalila-Symphonie wird ebenfalls übermorgen von ARTE gesendet, beziehungsweise morgen nacht um 0 Uhr 15.

Zum Teil I / zum Teil II

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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