Aus zwei Quellen schöpft Judith Butler ihre Kritik an der Politik des israelischen Staates den Palästinensern gegenüber. Zum einen betont sie, dass dieser Staat nicht das Recht habe, im Namen „der“ Juden zu sprechen, weil solche auch in der Diaspora leben: nicht nur in Israel, sondern verstreut über die Welt. Zum anderen sei es gerade die jüdische Tradition, in deren Spiegel der israelische Siedlerkolonialismus als unmenschlich erscheine. Dabei denkt sie an Emmanuel Lévinas, Walter Benjamin, Hannah Arendt und Primo Lévi. In der Auseinandersetzung mit ihnen entwickelt sie ihre Position. Butler, selbst Jüdin, will zeigen, dass für die Genannten die Diaspora nicht bloß eine Lebenssituation war, mit der sie sich abfanden, sondern sie eine ethische Wegweisung in ihr erkannten. Es entsprang nämlich aus der Situation die Forderung, gerecht zu sein im Zusammensein mit Anderen – Nicht-Juden –, wobei auch deutlich wurde, dass sie selbst keine vom Anderen abgeschottete Identität haben konnten. Die Verstreuung, in der sie lebten, führte sie zur Entdeckung der Figur des verstreuten Selbst – des Subjekts, das sich von sich selber trennt.
Auch weil schon Mose unter Ägyptern lebte, vielleicht selbst einer war – nach Sigmund Freud, der die Psychoanalyse begründete: eine Theorie des verstreuten Selbst – und sein Leben als Wanderer verbrachte, kann Butler in der von ihr nachgezeichneten Traditionslinie eine spezifisch jüdische sehen. Wichtig ist ihr aber, dass sich zuerst Edward Said, der US-amerikanische Literaturtheoretiker palästinensischer Herkunft, auf Mose den Wanderer, ja den Flüchtling, berufen hat, um im Schicksal von Juden und vertriebenen Palästinensern das Gemeinsame, zum Bündnis Befähigende hervorheben zu können. Denn noch die Kritik am Siedlerkolonialismus will Butler nicht auf einen allein jüdischen Standpunkt gründen, weil darin immer noch eine Ungleichbehandlung der am Konflikt Beteiligten läge.
Man sieht aber auch, wie ihre eigene Philosophie hier durchschlägt. Sie hat ja einen Namen als Kritikerin des identitären Subjektbegriffs und gilt als Begründerin der Queer Theory, in der das Geschlecht als verstreutes erscheint. Beides kann von ihrem Nachdenken über sich selbst als Angehörige einer Gruppe von Menschen, die in der Diaspora leben, offenbar nicht getrennt werden. Indem sie die genannten großen Gestalten in ihre philosophische Perspektive stellt, überzieht sie keineswegs ihren Kredit. Das Resultat ist vielmehr erhellend. Es hat auch ganz unabhängig von Butlers Schlussfolgerungen für den israelisch-palästinensischen Konflikt seinen Wert. So wird man ihr folgen, wenn sie in Lévinas’ Philosophie des Anderen, von dessen „Antlitz“ ein zwingendes ethisches Gebot ausgeht, die Situation der Diaspora wiedererkennt. Das „Antlitz“ ist die wahrnehmbare Verletzlichkeit des Anderen, die mir zu verstehen gibt, dass ich ihn zu schützen und nicht etwa zu töten habe. Verletzlich ist die Minderheit der Juden, die mit der Mehrheit der Nicht-Juden zusammenlebt. Wenn sich die Situation umkehrt wie in Israel, gilt das ethische Gebot natürlich weiter.
Zwingendes ethisches Gebot
Hannah Arendt leitet ihr Buch über den Totalitarismus mit einer Kritik des Nationalstaats ein, der sich auf eine Ethnie gründet und dazu neigt, andere Ethnien, die sein Territorium ebenfalls besiedeln, zu benachteiligen oder gar zu vertreiben. Sie zeigt, wie die Gründung neuer Nationalstaaten in Osteuropa nach dem Ersten Weltkrieg eine Vielzahl von Flüchtlingsströmen hervorrief, und sieht darin eine Ursache des Aufstiegs der Nationalsozialisten. Doch dass sie zur selben Zeit, als sie darüber schrieb – Ende der vierziger Jahre –, gegen die Landnahme-Fraktion der Zionisten erfolglos kämpfte, kann man in ihrem Buch nicht lesen. Butler trägt es nach. Israel wurde in besonders krasser Weise als Nationalstaat einer Ethnie gegründet, die einer anderen Ethnie (zudem noch der vorgefundenen) mindere Rechte zuwies und sie in erheblichem Maß auch vertrieb. Zionistische Juden, die nach Palästina flüchteten, machten dort andere zu Flüchtlingen, wodurch die Legitimität des Staates, den sie gründeten, im Kern und von Anbeginn untergraben war.
Von der Homogenisierung eines Staates auf eine einzige Ethnie hin schlägt Butler den Bogen zu Walter Benjamin, der den Fortschrittsglauben kritisiert, in dem Geschichte als in sich homogener Prozess erscheint. Dass der Zionismus eine Version von Fortschrittsglauben ist – in der vorentschieden scheint, dass Jerusalem als Zion das Ziel aller jüdischen Wanderung ist und Juden auch immer schon im Begriff sind, sie zu unternehmen –, kann man bei Benjamin nicht lesen, dafür bei Butler. Sie weist außerdem darauf hin, dass unter dem Fortschritt der Sieger die Erinnerung der Besiegten verborgen ist, deren Wiederaufblitzen Benjamin für fähig hält, die Fortschrittsgeschichte zu unterbrechen. Auch da liegt es nahe, an Israel zu denken, wo man es den Palästinensern verbietet, ihrer Vertreibung öffentlich zu gedenken.
In den Grenzen von 1967?
Bis hierher wird es schwer fallen, Butlers Analyse zu widersprechen. Doch wenn sie sich Said auch darin anschließt, dass die Lösung des Konflikts im jüdisch-palästinensischen Einheitsstaat bestehe – auf der Basis, wie gesagt, dass Juden und Palästinenser sich als zwei Flüchtlingsgruppen verstehen, einander akzeptieren und einigen –, kommen erhebliche Zweifel auf. Said starb 2003, und unter den Texten in Butlers Buch ist keiner, der nach 2010 geschrieben wurde: Da konnte man wohl noch so denken. Heute aber, nachdem die Arabellion 2011 begann und sich bis 2013 vielerorts in Bürgerkriege verrannte, ist das kaum mehr möglich. Wenn sich Muslimbrüder und Säkulare in Ägypten, Alawiten und Rechtgläubige in Syrien, Sunniten und Schiiten im Irak nicht vertragen, warum sollte es den fanatisierten Gruppen auf beiden Seiten des jüdisch-palästinensischen Konflikts gelingen? Später vielleicht einmal; im Moment muss daran gedacht werden, dass Spannungen solcher Art manchmal auch nur durch staatliche Trennung aufgelöst werden können, siehe zum Beispiel Indien und Pakistan.
Wie es scheint, kann Butler das deshalb nicht denken, weil sie sich eine Lösung vorstellt, in der alles geschehene Unrecht rückgängig gemacht wird. So betont sie, dass alle jemals vertriebenen Palästinenser das Rückkehrrecht haben. Sie erörtert zwar auch Möglichkeiten, es auf verschiedene Weise zu befriedigen, also nicht unbedingt dadurch, dass alle den Boden zurückerhalten, der ihnen oder ihren Vorfahren jemals unrechtmäßig entzogen wurde. Sie schreibt aber auch, in Israel/Palästina werde ohnehin ständig Land umverteilt – heute in der Westbank – und dieser Prozess könne ja einmal umgekehrt werden. Wie soll man sich das aber vorstellen, dass Palästinenser nicht nur in der Westbank, sondern auch „in den Grenzen von 1967“ ihr Land zurückerhalten?
Butler scheint nicht zu sehen, dass die Idee der Rückgängigmachung geschehenen Unrechts, wenn sie verabsolutiert wird, eine verzweifelte Ähnlichkeit mit der von ihr abgelehnten Idee der Rache gewinnt. Das Problem nicht erst der Rückgängigmachung, sondern schon der Rache ist ihre Unmöglichkeit. Wenn mir mein Auge ausgeschlagen ist, wird es mir durch „Auge um Auge“ nicht wieder eingesetzt. Wenn alle Palästinenser-Familien, die je Land besaßen, es wieder zurückerhielten, wäre das keine Rückkehr zum alten friedlichen Palästina. Was vor 1967 geschehen ist, kann nicht mehr aus der Welt geschafft werden. Zu einem Urzustand zurückzukehren, den es nicht mehr gibt, ist keine mögliche Lösung. Und selbst wenn sie möglich wäre, könnten nur neue Ungerechtigkeiten daraus entspringen. Die Lösung kann nur darin liegen, dass die Beteiligten des Konflikts – seine Urheber wie seine Opfer – anders fortfahren, als sie begonnen haben.
Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus, Judith Butler, Reiner Ansén (Übers.), Campus 2013, 277 S., 28,90 €
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