Zweierlei Maß

Nebeneinkünfte Der Streit über Baerbocks Verhalten zeigt: Nicht sie, sondern ihre Kritiker bedienen sich einer verlogenen Doppelmoral
Ausgabe 21/2021
Insgesamt 23.720,28 Euro „Weihnachtsgeld“ hat Annalena Baerbock von ihrer Partei innerhalb von drei Jahren erhalten
Insgesamt 23.720,28 Euro „Weihnachtsgeld“ hat Annalena Baerbock von ihrer Partei innerhalb von drei Jahren erhalten

Foto: Henning Schacht/Pool/Getty Images

Dass die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock Nebeneinkünfte verspätet gemeldet und sich auch noch den „Corona-Bonus“ zugestanden hat, ist besonders von der CSU genüsslich ausgeschlachtet worden. Die Maskenaffäre ist Schnee von gestern: „Dass ausgerechnet die grünen Kapitalismuskritiker ihren Vorsitzenden Erfolgsprovisionen zahlen, ist grotesk“, erklärt Generalsekretär Markus Blume. Noch interessanter, was die Bild schreibt: „Die Grünen-Chefs, die sonst so gerne die Moral hochhalten, sind die einzigen Parteivorsitzenden, die den Corona-Bonus abgegriffen haben.“

Halten die Grünen die Moral hoch? Wie auch die Linkspartei haben sie für Nebeneinkünfte von Bundestagsabgeordneten mehr Transparenz gefordert, weil sich dahinter Lobbyismus verbergen kann, zum Beispiel wenn Unternehmen Abgeordnete zu märchenhaft besoldeten Vorträgen einladen. Man könnte sich fragen, warum den Grünen nicht eher vorgeworfen wird, sie forderten diese Durchsichtigkeit aus Neid, weil sie bisher keine Chance hatten, zu Spitzenverdienern wie dem FDP-Politiker Carl-Julius Cronenberg aufzuschließen, der schon nach einem Jahr der laufenden Legislaturperiode über 500.000 Euro dazugewonnen hatte.

Aber nein, bei den Grünen ist es Moral, und natürlich verlogene. Vielleicht weil sie auch die ökologische Wende fordern, wozu Verhaltensänderungen, Verzicht auf eigentlich sinnlosen Konsum gehören würden? Wollen sie uns den Spaß vermiesen? Wer das tut, kann ja nur ein „Moralapostel“, ein „Gutmensch“ sein. Ihre Verlogenheit liegt auf der Hand, da die Wählerinnen und Wähler der Grünen oft zu den Besserverdienern in diesem Land gehören – sie konsumieren mehr als andere. Aber dass „Gutmenschen“ nur so tun, als ob sie gut wären, versteht sich ohnehin von selbst.

Eine Moralfrage ist ganz gewiss die Plagiatsaffäre um den Doktortitel der SPD-Politikerin Franziska Giffey. Nachdem er ihr nun aberkannt werden soll, ist sie als Bundesministerin zurückgetreten, hat aber ihre Kandidatur für das Amt der Berliner Regierenden Bürgermeisterin aufrechterhalten. Man konnte lesen, sie habe Ballast abgeworfen. Diese Affäre hat keine Wellen geschlagen. Und warum auch – in der SPD sieht niemand eine Ansammlung von „Gutmenschen“. Sozialdemokraten sind einfach nüchterne Politiker. Gegen die drohende ökologische Katastrophe haben sie wenig unternommen.

Von Baerbock wissen wir also nun, dass sie über ihre Diät als Abgeordnete in Höhe von etwa 10.000 Euro monatlich hinaus noch „Weihnachtsgeld“ von ihrer Partei erhalten hat, insgesamt in drei Jahren 23.720,28 Euro. Das ist zwar fast nichts im Vergleich zu dem, was die beiden SPD-Vorsitzenden bekommen: 9.000 Euro monatlich zusätzlich zur Diät beziehungsweise dem Ruhegehalt. Nach drei Jahren im Amt wird sich das zu einer Summe von 324.000 Euro addiert haben. Auch die Generalsekretäre von SPD, CDU und CSU erhalten Zusatzzahlungen in vergleichbaren Größenordnungen. Da könnte Baerbock wieder neidisch sein. Nach ihr hat nun auch Karl Lauterbach (SPD) verspätet Nebeneinkünfte angemeldet, 17.850 Euro in zwei Jahren. Wird man deshalb seinen Ruf als Corona-Spezialist infrage stellen? Wohl kaum.

Aber wie kommt der Generalsekretär der CSU darauf, dass die Grünen „Kapitalismuskritik“ üben? Nun, einen Bundesverkehrsminister wie Andreas Scheuer (CSU), Christian Schmidt (CSU), Alexander Dobrindt (CSU) oder Peter Ramsauer (CSU) – das waren die letzten vier – werden die Grünen vermutlich nicht mehr hinnehmen. Diese CSU-Politiker haben ihre Aufgabe darin gesehen, die bayerische Autoindustrie zu fördern und vor politischer Kritik zu schützen. Dass die Grünen für weniger Autos in den Städten sorgen wollen, reicht für jemanden wie Markus Blume offenbar aus, sie zu Kapitalismuskritikern zu machen. Für Karl Marx, nebenbei gesagt, würde es wohl auch ausreichen, definiert er doch das Kapital als unendliche Bewegung: Es „setzt nur einen bestimmten Mehrwert, weil es den unendlichen nicht at once setzen kann; aber es ist die beständige Bewegung, mehr davon zu schaffen“. Alle, die gegen dieses verselbstständigte unendliche Wachstum etwas tun – Wachstum der Warenmenge, die Mehrwert enthält und, gleichsam nebenher, durch die Überfülle ihrer Produktion und Konsumtion die ökologischen Gleichgewichte überfordert –, sind an Marx’ Definition gemessen objektiv Kapitalismuskritiker, selbst wenn sie es subjektiv nicht sind.

Der „Corona-Bonus“ besteht nicht in der einmaligen Auszahlung von 1.500 Euro – die kann jedes Unternehmen, auch jede Partei vornehmen oder unterlassen, wie es beliebt –, sondern in der von Baerbock nicht in Anspruch genommenen Steuerfreiheit. Unmoralisch erscheint diese Zahlung dennoch, wenn man etwa bedenkt, dass der Bonus für Hartz-IV-Empfänger nur 150 Euro beträgt. Nur, was soll der ganze Moral-Diskurs? Parteien dürfen die Regeln nicht brechen. Baerbock bricht sie nicht. Parteien sind aber nicht dazu da, Moralvorbilder zu sein, sondern Interessen zu vertreten. Die Grünen fordern zum Beispiel einen Marktwettbewerb, in dem nur Unternehmen erfolgreich wären, die „übergeordnete gesellschaftliche Ziele nicht konterkarieren, sondern befördern“. Was heißt das konkret? Eine Diskussion darüber wäre spannend. Warum führen wir sie denn nicht?

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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