Die Protesttage im Wendland waren für die Atomkraftgegner erfolgreich, selbst freiwillige und unfreiwillige Castorhüter streiten es nicht ab. Die Polizei konnte eine beträchtliche Verzögerung des Transports nicht verhindern. Der niedersächsische Ministerpräsident Gabriel hat hinterher erklärt, zwei Castorzüge pro Jahr seien unter solchen Bedingungen nicht realisierbar. Die Regierung hat es auch durch den "Atomkonsens" nicht geschafft, die Bewegung zu entmutigen. Vielmehr wurde sie selbst nervös. Die Behauptung des Bundesinnenministers, die Demonstranten hätten "schwerste Straftaten" begangen, zeugt jedenfalls nicht von Souveränität, da er sicher genau weiß, dass die Gerichte den Versuch, fragwürdige Staatsaktionen zu blockieren, vielmehr als zivilen Ungehorsam werten. Lauter positive Aspekte - und doch stellt sich die Frage, wie es denn weitergehen soll.
Der Kampf der Aktiven wirkt auf den ersten Blick perspektivlos. Es ist ja eine neue Situation eingetreten: Der Protest der Wendländer ist nicht mehr der Wind, der die Segel der Grünen bläht, sondern diese haben abgedreht und fahren im Schlepptau eines Tankers. Was soll dann noch die Fortführung des Protests, ist er nicht schon zum Ritual erstarrt? Haben sich nicht alle Mächte der Gesellschaft gegen die Bewegung verschworen? Manche fragen, was ein Widerstand nütze, der nur symbolische Bedeutung habe, an die harten Fakten der Macht aber nicht mehr heranreiche. Vergessen wir aber nicht, die Mehrheit der Bevölkerung will den Atomausstieg. Sie ist zwar keine Macht, der "Atomkonsens" hat es wieder illustriert. Sie bleibt aber für die Mächte gefährlich. Nein, wir müssen die Fragerichtung umkehren: Wenn die Wendländer Bewegung gute Symbolpolitik gemacht haben sollte, wäre sie zu beglückwünschen. Was erwarten wir denn von einer Oppositionsbewegung? Sie muss mit dem Rest der Gesellschaft sprechen und möglichst viele überzeugen, damit die Machtverhältnisse sich ändern. Ein typischer Fall solchen Sprechens, in dem es gleichsam gerafft und weithin sichtbar gemacht wird, ist eben die Politik mit Symbolen. Unlängst hat der französische Soziologie Pierre Bourdieu dazu aufgerufen, die Herrschaft der Neoliberalen mit symbolischer Politik anzugreifen. Da hat er von Symbolen wie von einer Hoffnung gesprochen. Er glaubt, sie könnten versteinerte Verhältnisse zum Tanzen bringen. Wenn uns das wie ein Traumtanz vorkommt, blicken wir in die falsche Richtung.
Warum staunen wir nicht eher über unseren Wahn, wir könnten in der Gesellschaft mit Druck und Stoß, Aufstieg und Fall und veränderten "Kräfteverhältnissen", also quasi mit Physik allein "etwas bewegen", als ob das keine Gesellschaft sprechender Menschen wäre? Solche Wesen lassen sich nicht von einem Old Shatterhand an der Hüfte packen und woandershin stellen. Das dürfen Polizisten tun, aber was sie tun, wäre nur im Polizeistaat das Paradigma politischen Handelns. Wir leben in einem Rechtsstaat. Wenn es da passiert, dass die Polizei zum Beispiel Sitzende wegträgt, ist das selbst ein Symbol. Wenn hier etwas "in Bewegung" kommt, dann immer auch deshalb, weil die Sprache oder weil Symbole zu Hilfe genommen worden sind. Bewegen die Atomkraftgegner etwas? Legen wir doch einmal Bourdieus Maße an. Fragen wir: Waren die Ereignisse im Wendland symbolisch - waren die Symbole gut - könnten sie besser sein - und was nützen sie. Zunächst ist ein Missverständnis auszuräumen. Man denkt vielleicht nur an die Menschen, die in weißen Kitteln den Tod spielen oder die sich bemalen, um einen Kulturbruch zu signalisieren. Wenn Bilder davon medial vervielfältigt werden, ist das schon mal ein Achtungserfolg. Die Bewegung will aber mehr als Achtung, sie will sich durchsetzen.
Ihre Symbolik ist reicher. Begleitsymbole am Rand ihrer sonstigen Aktionen, fahl oder grell geschmückt, damit sie im Blickfang der Fotografen auftauchen können, sind das eine. Der Symbolcharakter dessen, was sie überhaupt tut, ist das andere und wichtigere. Die Bewegung im Wendland hat versucht, einen Zug anzuhalten. Es ist ihr gelungen. Ist das nicht sprechend? Wem fiele dazu nicht allerhand ein? "Der Zug ist abgefahren" ist eine gern gebrauchte Phrase. Mit ihr wurde 1990 jeder Versuch erstickt, über schonendere Wege zur Vereinigung der deutschen Staaten zu debattieren. Im Wendland sehen wir aber: was abfährt, kann auch angehalten werden. Bundeswirtschaftsminister Müller hat im Vorfeld der "Atomkonsens"-Gespräche erklärt, wo man aussteige, könne man auch wieder einsteigen - was angehalten wird, kann auch abfahren. Zum Glück ist das Umgekehrte ebenso wahr. Dafür stehen die Wendländer. Mehr noch, man denkt an Walter Benjamins Kritik des "Fortschritts", den er mit einem fahrenden Zug vergleicht: "Dass es so weiter geht, ist die Katastrophe." Er hofft auf beherzte Menschen, die die Notbremse ziehen. Und wo wären sie nötiger als hier, wenn die Zugführer selbst zugeben, dass es einen Zielort der Reise nicht gibt? Ein "Endlager" soll angeblich erreicht werden. Wo ist es? Hier stoßen wir darauf, dass auch die Gegenseite ihre Macht durch ein Symbol zu steigern sucht. Die Züge tragen "Castoren". Der "Castor" ist eine Sache, aber auch ein Symbol. Es ist eine Gestalt aus der griechischen Mythologie, die nur gewählt wird, weil Zwillingsbrüder suggeriert werden sollen: Castor, den es nicht ohne Pollux gibt - die Fahrt zum Zwischenlager, in der irgendwie schon die Weiterfahrt zum Endlager stecke.
Hier wird ein Symbol zur Bestärkung einer Lüge eingesetzt. Zur "ungelösten Entsorgungsfrage" berichtet Joachim Raschke in seinem Buch Die Zukunft der Grünen: Als die Herren vom Sachverständigenrat, "der überwiegend aus Atomkraftbefürwortern besteht, sich von anderen Experten die Gefahren schildern ließen, die schon heute vom gelagerten Müll ausgehen, wurden sie bleich". Da sieht man doch gleich, wie die Atomkraftgegner ihre Symbolpolitik noch verbessern könnten: Aktionen, durch die der Namen "Castor" für Fernsehzuschauer entschlüsselt, zugleich aber sinnfällig bestritten wird, müssten sich leicht erfinden lassen. Wir haben das Symbolpotenzial der Castorgegner noch nicht erschöpft. Ihre Aktion bringt nämlich auch - in Umkehrung, daher nicht gleich erkennbar - ein klassisches Muster der Revolte zum Vorschein. Es ist aus dem Pariser Mai 1968 bekannt: Die Staatsmacht schließt die Universität, die Studenten sind ausgesperrt, sie kämpfen, davon springt der Funke zu unzufriedenen Arbeitern über, es kommt zu Fabrikbesetzungen. Die Symbolik, um die es hier geht, ist die eines Raums, der nicht nur als Newtonischer Raum mit Licht und Schatten, Gravitation und Peripherie gilt, sondern als Institution. Es gibt eben Umstände, in denen sich Menschen erinnern, dass eine Institution mit der Frage steht und fällt, durch welche Taufe, Prüfung oder sonstige Symbolik der Zugang zu ihr geregelt ist und wer über die Regelung entscheidet: eine demokratische Öffentlichkeit oder eine Privatgruppe, die sich nur scheindemokratisch tarnt? Eben diese Frage stellt sich in Umkehrung bei den Castortransporten.
Hier schließt die Staatsmacht keinen Raum, sondern sucht einen, den Raum "Gorleben", zu öffnen; hier wollen die Gegner einen Zugang unmöglich machen und nicht wiedergewinnen. Es ist beide Male ein Kampf um die Institution. Darum geht es im Wendland: einer breiteren Öffentlichkeit bewusst zu machen, dass die "Castor"-Zugführer nicht nur ein Loch für physikalisch und chemisch beschreibbaren Müll aufsuchen, sondern dass sie ihr Tun, bei dem dieser Müll abfällt, institutionalisieren wollen. Wenn es gelänge, wäre aus dem physikalischen Sachzwang ein gesellschaftlicher geworden. Bisher gelingt aber nur der physikalische Teil. "Gorleben" wird von den Menschen genau da angriffen, wo eine Institution ganz unbemerkt entstehen will, nämlich bei der Frage des Zugangs. Mit ihr stehen und fallen sie selbst - das haben sie drastisch gezeigt, indem einige sich anketteten und einbetonierten.
Wenn Fragen sich so elementar stellen, erwartet man schon, dass der Funke überspringt wie im Pariser Mai und mehr Menschen sich dem Protest anschließen. Das wird so schnell nicht geschehen, trotz der großen Brisanz der nächsten Castor-Transporte. Aber je klarer die Symbole, desto wahrscheinlicher die Protestausweitung. Die Symbole könnten ja selbst auf Ausweitung zielen. Wie steht es zum Beispiel um die ökologische Landwirtschaft im Wendland? Ist sie mustergültig, kann sie es werden? Die Demonstranten haben wieder Traktoren zur Blockade eingesetzt. Im Bündnis mit anderen Bauern hätten sie jetzt auch Rinderkadaver verwenden können. Über den Symbolgehalt brennender Tiere wird zur Zeit viel geschrieben. Wer wird da entgegnen, das tote Rind sei "nur" ein Symbol? Bourdieu hat Recht: Es gibt Symbole, die weh tun und "etwas bewegen" - es gibt Bewegung, wenn man den Gesprächs- und Symbolfaden nicht abreißen lässt.
Besser als ein mit Symbolen bewaffneter Kampf wären Gespräche, die nicht nur zum Schein auf Konsens zielen. Die Bundesregierung sollte den falschen "Atomkonsens" wieder aufschnüren.
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