Finis Germaniae?

Nationalstaat Georg Fülberth und Marcus Hawel fragen nach dem Charakter des Gebildes, das 1990 entstanden ist

Georg Fülberths Deutsche Geschichte seit 1945 ist eine knappe, meisterhafte Skizze, die den Ereignisablauf in Bundesrepublik und DDR sowohl gesondert als auch im Zusammenhang, schließlich in der Verschmelzung darstellt und zuletzt auf die "Blockade: 2005 ff." hinausläuft. Wahrhaft lohnend wäre es, das Buch in seinen Einzelheiten zu würdigen. Doch hier kann nur die Grundthese diskutiert werden.

Finis Germaniae heißt das Buch im Haupttitel. Die deutsche Geschichte, lesen wir, habe eigentlich schon 1945 ihr Ende gefunden. Zwei neue Völkerrechtssubjekte seien da entstanden, und auch als sie 1990 fusionierten, habe das keine Rückkehr zum deutschen Staat sein können. Es sei lediglich eine kapitalistische Region neben anderen kapitalistischen Regionen entstanden. Ja, auch die europäischen Nachbarn hätten ihren nationalstaatlichen Charakter verloren, bei ihnen werde es nur nicht so krass deutlich.

Die These mag in ihrer Radikalität befremden, sie ist aber gut begründet. Zwei Staaten sind nach dem Krieg unter der Hoheit auswärtiger Mächte neu errichtet worden. Damit man sagen könnte, da seien auf wenn auch paradoxe Art "deutsche Staaten" entstanden, müsste wenigstens je ein "Staatsvolk" aufgewiesen werden, das diesen Gebilden oder später ihrer Zusammenlegung zustimmte und sie sich als "deutsche" Gebilde zu eigen machte. Dass die DDR von ihrer Bevölkerung gewollt wurde, hält Fülberth jedoch für höchst zweifelhaft. Und was die Bundesrepublik angeht, so ist über Annahme oder Ablehnung ihres Grundgesetzes nie abgestimmt worden. Gut, man sagt, ihre Bürger hätten durch freiwillige Wahlbeteiligung faktische Zustimmung signalisiert. Aber war das eine Zustimmung zur "Deutschheit" dieses Staatsgebildes oder nur dazu, dass man die Früchte des Marshallplans so gut genießen konnte? Und was 1990 kam, könnte das nicht wirklich bloß "DM-Nationalismus" gewesen sein?

Der Rezensent will gar nicht verhehlen, dass er Fülberths These für überzogen hält. Wie ihm scheint, wird in ihr etwas vorschnell die Frage, ob "der Staat von 1871" beendet worden sei, mit der Frage gleichgesetzt, ob damit überhaupt jeglicher deutsche Staat ein Ende habe. Es kann doch mehrere ganz verschiedene Staaten "deutscher Nation" hinter- wie auch nebeneinander geben. Im Übrigen zeigt das gleich zu besprechende Buch von Marcus Hawel, dass schon in der These, der Staat von 1871 sei verschwunden, eine fragwürdige Vereinfachung liegt. Denn wer will widersprechen, wenn Hawel schreibt: "Deutschland kann nur im Gewand von Europa als Weltmacht zurückkehren, so wie Preußen es nur im Gewand des Deutschen Reiches konnte. Dass sich Deutschland heute in Bezug auf Europa aber ähnlich verhält wie Preußen damals zum Deutschen Reich, ist kaum von der Hand zu weisen." Hier wird jedenfalls das Kriterium deutlich, das Fülberth hätte anlegen müssen: Ob ein Gebilde noch deutscher Nationalstaat, gar der Staat von 1871 ist, kann nur daran gemessen werden, ob Strukturen von seinerzeit - wie in Hawels Anmerkung die Struktur preußischer Hegemonialmethodik - noch wiederholt werden und in relevanter Weise wirksam sind oder nicht mehr. Dabei darf sich die Analyse keineswegs auf den staats- und völkerrechtlichen Aspekt beschränken.

Mit Fülberths Rede von der "kapitalistischen Region" ist aber trotzdem etwas Wichtiges getroffen. Es könnte nämlich sein, dass die Deutschen sich nach 1990 einen Staat gegeben haben, in dem sie ihre eigene subjektive und historische Rolle, und das hieße eben: ihr kulturelles Deutschsein, nur noch im Sinn einer kapitalistischen Schicksalsgemeinschaft zu definieren in der Lage waren. Man sollte dann nur nicht den Eindruck erwecken, mit dieser Selbstdefinition, die der kapitalistischen Basis nun genau entspreche, seien die Menschen quasi bei der Wahrheit angekommen. Denn es ist nicht wahr, wenn sie glauben, der Kapitalismus sei das Ende der Geschichte und sie hätten sich deshalb in pure Hände, Mundstücke, Maschinen des Kapitals zu verwandeln. Viele Deutsche mögen sich zur Zeit so sehen - aber gehört Fülberth nicht zu denen, die dafür kämpfen, dass das auch einmal wieder anders wird?

Auch Hawel stellt am Staat nach 1990 nur den kapitalistischen Charakter heraus, und wahrscheinlich mit vollem Recht. Die zeitgeschichtliche Dynamik, die er detailliert untersucht, betrifft einen Staat, dem das Deutschsein offenbar überhaupt nicht wesentlich ist. Es handelt sich nur darum, dass eine politische Klasse die Insignien des puren Staatseins, und das heißt vor allem: die Souveränität, deren Erweis klassischerweise die Kriegsfähigkeit ist, zurückerlangen will. Von Hawels Buch kann hier nur ein Komplex herausgegriffen werden, der aber ist äußerst brisant. Ausgehend von dem bekannten Umstand, dass die deutsche Außenpolitik beim Zerfall Jugoslawiens eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hat, findet der Autor nämlich Indizien für die These, dass dieser Zerfall gerade um der Chance willen angestrebt wurde, sich in die notwendig chaotischen Folgen souverän, also militärisch verwickeln zu dürfen.

Die Erlangung von Kriegsfähigkeit bedeutete Normalisierung eines Staates unter Staaten, Ende also des "deutschen Sonderwegs" auf höchst makabre Weise. Deshalb heißt das Buch Die normalisierte Nation. Aber erst der Untertitel zeigt, was dabei das Problem war: Vergangenheitsbewältigung und Außenpolitik in Deutschland. Hawel will zeigen, dass und wie die Kriegsfähigkeit vor allem auch innenpolitisch wiedererlangt werden musste, denn die sie betrieben, stießen ja, vor dem Hintergrund von Hitler und Auschwitz, auf das Diktum "Nie wieder Krieg". Hier kommt der Autor zu dem schwer bestreitbaren Schluss, dass es genau genommen Joschka Fischer war, der Deutschland wieder kriegsfähig machte. Denn nur er hatte die Autorität, das Auschwitzargument zu entsorgen - jedem anderen hätte man böse Interessen unterstellt -, indem er es umdrehte und serbische Polizeieinsätze gegen die UÇK-Rebellen (wie Hawel zeigt, waren sie wesentlich von Deutschland ausgerüstet worden) als eine Art neues Auschwitz hinstellte.

Das wahrhaft Verbrecherische dieser Auschwitz-Benutzung macht Hawel sehr deutlich. Auschwitz war ein Verwaltungsmassenmord, davon gab es im jugoslawischen Bürgerkrieg nicht die geringste Spur. Auch ein Genozid hat im Kosovo nicht stattgefunden, vielmehr ethnische Vertreibung, wie damals gerade die Allgemeine Jüdische Wochenzeitung feststellte - sie musste sich ja gegen die Verharmlosung von Auschwitz wehren. Aber mehr noch, Hawel erinnert daran, dass der Genozidbegriff selber von Adorno hellsichtig kritisiert worden war. Er ist entstanden, um Auschwitz irgendwie justiziabel zu machen, das heißt um Täter bestrafen zu können. Damit aber, so liest man schon 1951 in den Minima Moralia, sei "um des Protestes willen das Unsagbare kommensurabel gemacht. Durch die Erhebung zum Begriff ist die Möglichkeit gleichsam anerkannt. Eines Tages mögen vor dem Forum der United Nations Verhandlungen darüber stattfinden, ob irgendeine neue Untat unter die Definition des genocide fällt."

Wenn man Hawels Untersuchung des Auschwitz-Diskurses mit Fülberths These vom Ende Deutschlands konfrontiert, fällt auf, dass Auschwitz in Fülberths Buch gar nicht vorkommt. Obwohl es mindestens drei Anlässe gegeben hätte: erstens die eben erwähnte Kriegspropaganda zur Zeit des Kosovo-Krieges, zweitens die deutsche "Wiedergutmachung" Israel gegenüber und drittens überhaupt die Frage, von wem oder was solche "Wiedergutmachung" denn verlangt werden konnte. Wenn es, wie Fülberth meint, nach 1945 gar keinen deutschen Staat mehr gab, wo war dann der für Auschwitz haftbare Adressat? Würde er sagen, dafür komme nur das Kapital in Betracht?

Hawel unterscheidet sich von Fülberth auch darin, dass er nicht so hoffnungslos in die Zukunft schaut. Die deutsche politische Klasse hat zwar geglaubt, sich die Souveränität, sprich die Kriegsfähigkeit um jeden Preis wieder aneignen zu sollen. Aber nicht alles muss bleiben, wie es ist. Warum machen wir sonst Politik? Fülberth schreibt abschließend, die DDR sei "in einen Prozess einbezogen" gewesen, "der sich von der Entwicklung der Bundesrepublik unterschied: in den sozialistischen Umweg zum Kapitalismus in Rußland, Südosteuropa und großen Teilen Asiens. Er ist von einer sich sozialistisch definierenden Erziehungsdiktatur organisiert worden, bevor deren Ergebnisse ab 1989 in den im Westen bereits vorher dominanten Kapitalismus überführt wurden." War das ein Umweg zur Realität, gar zur Wahrheit - oder wie soll man es verstehen? Hawel schließt so: "Die Umkehr der (deutschen) Geschichte, hinter der die Schubkraft von mehreren hundert Jahren die Richtung grob mitbestimmt, wäre ein utopisches und sinnvolles Projekt." Er hat nicht nur Adorno, sondern auch Bloch aufmerksam gelesen.

Georg Fülberth Finis Germaniae. Deutsche Geschichte seit 1945. PapyRossa, Köln 2007, 318 S., 19,90 EUR

Marcus Hawel Die normalisierte Nation. Vergangenheitsbewältigung und Außenpolitik in Deutschland. Offizin, Hannover 2007, 448 S., 24,80 EUR

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