Wien war die erste Millionenstadt in Europa, die über Jahre hinweg von Sozialisten allein regiert wurde. Das Rote Wien, in dem die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschösterreichs (SDAP) von 1919 bis 1934 unangefochten, mit stabiler und von Wahl zu Wahl wachsender absoluter Mehrheit an der Macht war, wurde zum leuchtenden Vorbild für Sozialreformer überall in Europa und darüber hinaus. In wenigen Jahren zeigte die damalige Gemeinderegierung Wiens, was eine entschieden linke Politik in einer Großstadt zu leisten vermag. Hauptsächlich drehte sich der Wiener „Kommunalsozialismus“ um Wohnungspolitik. Deren Zeugnisse sind gegenwärtig noch überall in der Stadt zu besichtigen: gut 400 Gemeindebauten, zumeist großzügig angelegte Wohnhofkomplexe. Waren es doch über 64.000 Wohnungen, die ab 1920 errichtet und zu guter Letzt von elf Prozent der Wiener Bevölkerung bewohnt wurden.
Es kam hinzu, dass Wien ab 1922 zum selbstständigen Bundesland erklärt war, sodass die rote Gemeinderegierung einen steuerpolitischen Spielraum erhielt, den sie so klug wie entschieden nutzte. Das Bundesland Wien erhielt als Finanzausgleich Anteile vom Ertrag der Bundessteuern und konnte eigene Steuern erheben. Die wichtigste davon war die Wohnbausteuer, eine zweckgebundene Abgabe, deren Aufkommen vollends in den kommunalen Wohnungsbau floss. Dabei handelte es sich um eine progressive Steuer, gestaffelt nach der Höhe der jeweils gezahlten Miete. Die Folge war, dass gut und bestens Betuchte, die – zur Miete oder als Eigentümer – in den teuren Wohnungen lebten, den Löwenanteil dieser Steuer aufbrachten. Sie zahlten damit für den Neubau von Wohnungen, die nicht ihnen, sondern der ärmeren Bevölkerung zugutekamen. Parallel dazu wurden allerlei Luxusverbrauchssteuern erhoben, bei denen sich der Finanzstadtrat Hugo Breitner als ideenreicher Kopf erwies. Prompt wütete das Bürgertum gegen dessen „Steuersadismus“, wobei es zu antisemitischen Ausfällen kam.
Es gelang, das gesamte Wohnbauprogramm bis Anfang 1934 fast ohne Kredite – nur über Steuern – zu finanzieren. Ein weitreichender Kündigungsschutz und das Einfrieren der Mieten auf dem Niveau von 1913 waren in der Ersten Republik gesetzlich verankert, ein großer Erfolg der Sozialdemokratie. So wurde Wien in etlichen Bezirken eine Stadt der Mieter – und der Mieter aller Klassen. Nicht nur die traditionell sozialdemokratisch wählenden Arbeiter dankten es der SDAP, dass sie den groß angelegten Versuch wagte, dem überkommenen Elend überfüllter, enger und lichtloser Mietskasernen ein Ende zu setzen.
Wiener Sozialdemokraten waren es, die 1923 einen ersten verwegenen Fünfjahrplan für den Wohnungsbau verkündeten. 25.000 neue Wohnungen für Normalverdiener in bislang ungekannter Qualität sollten entstehen, was in einem Rekordtempo tatsächlich gelang, und das ohne großen und teuren Maschineneinsatz. Als wegen des Mieterschutzes der private Wohnungsbau zum Erliegen kam, war es die Gemeinde Wien, die der Bauindustrie einen Aufschwung verschaffte und Erwerbslosen wieder Arbeit gab. Bis Ende 1923 sollten bereits 2.256 neue Wohnungen in 15 Gemeindebauten, zumeist Wohnhöfen, vollendet sein. Deren Innenausstattung und Zuschnitt genügten bis dahin so nicht bedienten Ansprüchen. Es gab Innentoiletten, Bad oder Dusche, eine separate Küche, fließend Wasser, Strom und Gas. Es existierten keine Lichthöfe mehr, stattdessen begrünte, parkähnliche Innenhöfe, auf die man von kleinen Balkonen oder Loggien blickte. Zum Wohnensemble zählten in jedem Gemeindebau Kindergärten, Waschküchen, Bibliotheken, Sportanlagen, Spielplätze, Lese- und Freizeiträume, Läden und Einrichtungen für öffentliche Dienstleistungen. Postämter gab es ebenfalls, zuweilen Sporthallen und Kinos, ein unerhörter Luxus für Proleten, die in der Regel aus separierten Vorstädten kamen. Nur Kneipen blieben ausgespart. Bürgerliche Gazetten mokierten sich über die Verschwendungssucht damaliger Stadtväter, die es fertigbrächten, ein „Versailles für Arbeiter“ zu bauen. Und nicht nur eines, gleich viele.
Schon 1927 folgte der zweite Fünfjahrplan für weitere 30.000 Unterkünfte, wieder in Gemeindebauten gelegen, vergeben durch die Stadt und an Mieter, die zur Selbstverwaltung aufgefordert waren. Verteilt wurden die Wohnungen nach einem Punktesystem, ohne dass etwa die Mitgliedschaft bei den Sozialdemokraten eine Rolle spielte. Wer Kinder hatte, wem die Wohnung gekündigt wurde, wer obdachlos war, wer in einer unzumutbaren Behausung wohnte, wer schon lange in der Stadt ansässig, behindert oder krank war, bekam Punkte. Einkommen fielen nur bedingt ins Gewicht, da die Mieten in den Gemeindebauten bewusst niedrig gehalten wurden. Wien konnte sich diese Prinzipien leisten, solange die Gemeindebauten ohne Kredite und à fonds perdu errichtet wurden, also ohne die Erwartung oder Absicht, investierte Mittel mit Zins zu amortisieren oder eine Rendite zu erzielen. Die Mieten wurden so berechnet, dass die Erhaltung gedeckt und soziale Kriterien nicht unbeachtet blieben. Wohnen im Wien der 1920er Jahre sollte bezahlbar sein. In ihren einstigen Behausungen hatten die Bewohner nicht selten mehr als ein Viertel ihres Einkommens für Miete drangeben müssen, in den Gemeindebauten zahlten sie im Schnitt zehn Prozent dessen, was sie verdienten.
Freilich kam über die Jahre kein Enteignungsgesetz zustande, sodass die Gemeinde für ihre Bauvorhaben städtischen Baugrund erwerben musste. Sie tat das im großen Stil, was wiederum möglich war, weil infolge des strikten Mieterschutzes potenzielle Bauflächen ihren fiktiven Wert rasch verloren. Bis 1930 fungierte die Gemeinde Wien als Eigentümerin von gut 38 Prozent des städtischen Bodens. Sie nutzte dieses Reservoir für weitere Gemeindebauten, während zugleich mehr als 2.000 Wohnungen „angefordert“ – das heißt, beschlagnahmt und dann renoviert – wurden, um der Wohnungsnot Herr zu werden.
Im Februar 1934 kam es unter dem autoritären Patronat der christlich-sozialen Regierung Dollfuß zum Aufstand von Teilen der SDAP in Wien und anderen Städten, der von Polizei, Bundesheer und Heimwehr blutig niedergeschlagen wurde (es gab etwa 400 Tote). Danach blieb die Sozialdemokratische Arbeiterpartei verboten, und das Rote Wien gehörte der Vergangenheit an. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich 66.270 der für die Stadt gezählten 613.436 Wohnungen in kommunalem Eigentum. Davon hatten bis dahin keineswegs nur Arbeiter profitiert, doch vor allem sie hatten erfahren, dass und wie es möglich war, die Macht des Kapitalismus auf dem Wohnungsmarkt zu brechen. Die Wohnung war für einen wachsenden Teil der Bevölkerung keine Ware mehr, der Wohnungsbau nicht weiter von privatem Kapital beherrscht, die Branche nicht ausufernder Spekulation unterworfen. Nicht in ganz Österreich, aber in vielen Stadtteilen Wiens.
Die Wiener Arbeiterschaft hatte daraufhin der Sozialdemokratie stets die Treue gehalten, obwohl die seit 1927 auf Bundesebene eine Niederlage nach der anderen einstecken musste. In den Wiener Arbeiterbezirken, wo auch viele der neuen Gemeindebauten lagen, erzielte die SDAP Stimmenanteile von 70 bis 80 Prozent, in ganz Wien konnte sie für ein Jahrzehnt mit einer Mehrheit von über 60 Prozent rechnen. Die Partei war so in der Lage, den Kampf um Hegemonie in der bürgerlichen Gesellschaft anzunehmen und ihn für Jahre zumindest in der Hauptstadt zu gewinnen.
Eine historische Reminiszenz: Der italienische Marxist Antonio Gramsci war von Ende 1923 bis Mai 1924 in Wien, wo er die Zeitung L’Unità gründete. Er hielt sich zumeist im Hauptquartier der KPÖ auf, die den aus ihrer Sicht in Wien herrschenden Reformismus der Sozialdemokratie energisch attackierte. Er erfuhr dadurch wenig vom Kampf um soziale Hegemonie, wie ihn die Partei der westeuropäischen Sozialdemokratie seinerzeit erfolgreich geführt hat.
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