Kurz vor dem Weltklimagipfel COP26 in Glasgow legen die Experten nach. Ein Report nach dem anderen mit einem gleichen Tenor erscheint: Das Zeitfenster, das uns bleibt, um einer drohenden Klimakatastrophe rechtzeitig zu begegnen, schließt sich immer schneller. Jedes „Weiter-so“ wird uns eine durchschnittliche Erderwärmung von über zwei Grad in den nächsten Jahrzehnten bescheren, bis Ende des Jahrhunderts um 2,7 Grad, optimistisch gerechnet. Beinharte Leugner des Klimawandels gibt es wenige, aber auf der Bremse stehen viele, die es besser wissen.
Ausstieg wird Dauerstress
Wie der jährliche „Production Gap Report“ des UN-Umweltprogramms zeigt, sind die Planungen der 15 führenden öl-, gas- und kohleexportierenden Länder mit den im Pariser Abkommen von 2015 festgelegten Klimazielen unvereinbar. Die sogenannte Produktionslücke – der Unterschied zwischen den mit diesen Zielen vereinbaren und den tatsächlichen bzw. geplanten Fördermengen fossiler Brennstoffe – wird nicht kleiner. Sie wird sich bis 2040 eher vergrößern, wenn Länder wie Australien, Brasilien, Kanada, China, Indonesien, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, die Vereinigten Arabischen Emirate, die USA und Großbritannien an ihren Fördermengen festhalten. Auch Deutschland gehört als Kohleproduzent bis auf Weiteres in diese Reihe. Die Regierungen der aufgezählten Länder investieren nachweislich erheblich mehr in neue Projekte, um fossile Brennstoffe zu gewinnen, statt in saubere Energie. Und das seit Jahr und Tag. Für einen Aufschub oder ein Verzögern des Ausstiegs aus fossilen Brennstoffen, wie es die Energiekonzerne weltweit seit jeher betreiben, gibt es fadenscheinige Gründe, u.a. das Argument, es stecke einfach zu viel privat investiertes Kapital (von versenktem Staatsgeld ganz abgesehen) in den Förderanlagen, mit denen sich noch Gewinne machen ließen. Eine Wende in der Klimapolitik kann es daher nur geben, wenn reiche Industrie- wie ehrgeizige Schwellenländer ihren Öl-, Gas- und Kohleausstoß in den Jahren bis 2030 nicht weiter steigern wie gehabt und geplant, sondern drastisch zurückfahren. Für die USA, die OPEC-Staaten, Russland und Australien bedeutet das, nicht allein auf wachsende Exporte zu verzichten, sondern Ausfuhren drastisch einzuschränken. Die Öl-, Gas- und Kohleförderung muss herunter, jedes Jahr und immer schneller.
Einige Delegationen wollen den beschleunigten Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen in Glasgow vorschlagen und dürften wissen, was das bedeutet: Dauerstress mit der heimischen Öl-, Gas- und Kohlewirtschaft und den Gewerkschaften, dazu Krach mit allen, die eine ungerechte Verteilung der Lasten und Kosten des Rückbaus stört, schließlich Milliardenverluste für die Staatskassen und einen dauerhaften Verlust an geostrategischem Einfluss. Das gilt vorrangig für Russland, Saudi-Arabien, die Golfemirate und Australien. Am ehesten verkraften kann den Rückbau der Erdölförderung noch Norwegen, das Gewinne aus diesem Geschäft seit Jahrzehnten klug anlegt und keinen Überschuss an weltpolitischen Ambitionen kennt. Aber die anderen? Sie werden als globale Player ihre Wachstumsziele nicht kampflos aufgeben.
In Deutschland wird seit dem Sondierungspapier der drei potenziellen Regierungsparteien darüber gestritten, ob ein Ausstieg aus der Braunkohleförderung bis 2030 machbar ist. Die ewigen Bremser der Energiewende unter Angela Merkels Führung haben ganz im Sinne der Industrie eine ökonomisch wie ökologisch unsinnig lange Übergangsperiode bis 2038 beschlossen. Auf die angeblich „gerechte“ Abwägung zwischen den Interessen von Konzernen wie RWE, einigen Tausend Beschäftigten und dem Rest der Welt (nicht nur der Deutschen) kann sich niemand einlassen, der Klimapolitik halbwegs ernst nimmt. Für ein Land wie Polen sieht das schon anders aus. Um beides zu bewältigen, das winzige deutsche und das vergleichsweise große polnische Problem mit dem Kohleausstieg, gibt es die viel geschmähte EU. Ihre Mission sollte es sein, ungleich verteilte Verluste aus einer europaweiten Energiewende auszugleichen – durch einen oder zwei Marshallpläne. Ein solches Vorgehen kann auch im Weltmaßstab beispielgebend sein und Großmächte wie die USA, Russland, China oder Indien für sich einnehmen.
Die Internationale Energieagentur IEA hat vor wenigen Tagen in ihrem jährlichen „World Energy Outlook“ bekräftigt, dass mit der Erschließung und Nutzung weiterer Öl-, Gas- und Kohlevorkommen sofort, heute noch, Schluss sein muss, sollen die in Paris vereinbarten Klimaziele erreichbar sein. In Glasgow gäbe es die Chance, eine resoluten Rückbau der weltweiten Förderung fossiler Brennstoffe verbindlich festzulegen. Klar ist, dass sich weder Wladimir Putin noch Brasiliens Jair Bolsonaro zu irgendetwas in dieser Richtung verpflichten wollen. Wie der russische werden auch etliche andere Staatschefs nicht nach Glasgow kommen. Dass der chinesische Präsident Xi Jinping ebenfalls ausbleibt, ist zu bedauern. In seinem Land soll zwar der Kohleausstieg erst nach 2040 fällig sein, doch bringen die Chinesen pro Kopf weit weniger Treibhausgase hervor als US-Amerikaner oder Europäer. Eine Umwelt- und Klimapolitik, wie sie in China tatsächlich betrieben wird, ist hierzulande weithin unbekannt. Mit allen Fingern auf China zeigen, ist die mit Abstand beliebteste Ersatzhandlung westlicher Klimapolitik. Dabei mutet die dortige Regierung ihren Bürgern schon jetzt weit mehr zu, als sich die „Klimakanzlerin“ Merkel je getraut hat. Für China gehen zudem Klimapolitik und Geostrategie zusammen: Je mehr man auf den Import fossiler Brennstoffe verzichtet, desto besser.
„Normalität“ geht nicht mehr
Obwohl die Pandemie noch lange nicht vorbei ist, erholt sich die Weltökonomie, nicht zuletzt dank der finanzpolitischen Kehrtwende, die diesmal auch die Europäer durch eine kollektive Kreditaufnahme für den Corona-Hilfsfonds vollzogen haben. Weltweit sind bisher mehr als 13 Billionen Dollar mobilisiert, um pandemiebedingte Verluste wettzumachen, aber nur 380 Milliarden davon sind dazu bestimmt, den Umstieg auf saubere Energien zu fördern. Viel zu viel wird ausgegeben, um die Ökonomie in eine „Normalität“ zurückzuführen, die man sich nicht mehr leisten kann.
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