Dreizehn Wochen nach dem Brexit-Votum wissen weder die Briten noch ihre EU-Partner, woran sie sind. Die neue konservative Regierung wird von einer Premierministerin geführt, die unablässig ihr Mantra wiederholt: „Brexit heißt Brexit.“ Nur scheint Theresa May selbst nicht zu wissen, was das heißen soll. Sie spielt auf Zeit, will den Scheidungsprozess nach Artikel 50 des EU-Vertrags nicht vor Anfang 2017 in Gang setzen. Es existiert erkennbar kein Konzept, so dass im Lager der Brexiteers, bei den Tories wie der rechtsnationalen UK Independence Party, der blanke Frust grassiert. Viele fürchten, sie werden noch lange auf die Befreiung von der EU und die glorreiche Zeit danach warten müssen. Gerüchte und Mutmaßungen kursieren über einen angeblichen Brexit-Boom.
Wenn sich der informelle EU-Gipfel in Bratislava an diesem Wochenende des Themas annimmt, muss er dies in der Gewissheit tun, dass nicht einmal ein Prozedere für den Ausstieg in Sicht ist. Im Moment tobt ein juristischer Streit um die Frage, ob die britische Regierung den Brexit-Prozess tatsächlich ohne Parlamentsentscheidung auslösen darf. Schließlich müsste das Unterhaus einer nicht gewählten Regierung ein Mandat erteilen. Da aber die überwältigende Mehrheit der Abgeordneten aller Parteien klar gegen einen Abschied von der EU ist, versucht May – die Angst vor einer weiteren Spaltung der Tories, vor dem xenophoben Mob und ebensolchen Medien im Nacken –, die Legislative auszumanövrieren. Letztlich wird der Oberste Gerichtshof darüber zu befinden haben. Und da legen es die Logik der (in Teilen ungeschriebenen) Verfassung des United Kingdom und der Grundsatz der Suprematie des Parlaments nahe, dass May unterliegt. Was dann?
Ungeachtet dessen drängt EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker auf einen Beginn der Ausstiegsverhandlungen, freilich müsste dazu ein Austrittsantrag vorliegen, den die Regierung May frühestens im Januar 2017 zu stellen gedenkt. Umso mehr hat Brüssel längst seine Verhandlungsführer benannt – es sind der Franzose Michel Barnier, 2010 bis 2014 EU-Kommissar für Handel, und der einstige belgische Premier Guy Verhofstadt. Beide verkörpern Willen und Entschlossenheit, den Briten kein Rosinenpicken zu erlauben. Wer unbeschränkten Zugang zum EU-Binnenmarkt haben will, muss Spielregeln akzeptieren und darf nicht auf Privilegien pochen. Die Zeit der Vorrechte für die hyperempfindlichen Insulaner mit ihrem Empire-Komplex soll vorbei sein.
Hilflose Statements
Dagegen scheinen May und ihr Kabinett noch nicht zu wissen, was sie wollen. Kein Wunder, denn David Davis, der neue Brexit-Minister, sowie Handelsminister Liam Fox und Außenminister Boris Johnson wollen alle etwas anderes als Theresa May, die nicht umhinkann, sich von hohlen Sprüchen ihrer Minister öffentlich zu distanzieren. Die oft leeren Versprechen der Brexit-Kampagne müssen eines nach dem anderen fallen gelassen werden. Nur in einem Punkt besteht bei der May-Regierung Konsens: Die Begrenzung der Zuwanderung von EU-Bürgern hat Vorrang, aber ein Einwanderungssystem nach australischem oder kanadischem Vorbild soll es nicht geben. May war als Innenministerin in der Regierung Cameron verantwortlich für ein verschärftes britisches Einwanderungsrecht. Die Idee von Minister Davis, den Zugang zum Binnenmarkt und EU-Zollvorteile für britische Waren zu erhalten, aber die Freizügigkeit für EU-Bürger zu verwerfen, hat May ebenfalls abgeschmettert, ohne dass klar wäre, was sie stattdessen will.
Dafür droht sie eigenen Ministerialbeamten mit Konsequenzen, die aus ihrem Entsetzen über die herrschende Konfusion kein Hehl machen, doch wird das kaum dazu beitragen, dem Mangel an Expertise vorzugsweise im Brexit-Ressort abzuhelfen. Womöglich wird May nichts anderes übrig bleiben, als Fachleute, nicht zuletzt vom Kontinent, anzuheuern. Wenig überraschend kam es nach der Sommerpause im Unterhaus zum Eklat, nach wenigen Minuten einigermaßen hilfloser Statements von May, Davis und Co. riss den Abgeordneten der Geduldsfaden, und es kam zu lautstarken Protesten. Britische Parlamentarier reden weit unverblümter, als das im betulichen Bundestag geschieht .
Nach unten durchgereicht
In der vergangenen Woche durfte die Premierministerin auf dem G20-Gipfel in Hangzhou weitere Erfahrungen machen. Dass Großbritannien nach dem Brexit noch bzw. wieder eine Großmacht sei, glauben nur die Brexiteers. Die G20-Partner sehen das deutlich anders. Freundlich, aber bestimmt wurde May darauf hingewiesen, dass in der Welt andere Prioritäten gelten. US-Präsident Obama machte klar, dass für ihn die transatlantischen wie transpazifischen Handelsverträge Vorrang haben vor jedem Abkommen mit den Briten. Premier Shinzō Abe verlangte Sicherheitsgarantien für die in Großbritannien präsenten japanischen Unternehmen (und das sind nicht wenige): Man werde nicht zögern, Firmensitze notfalls auf das europäische Festland zu verlagern. Australien, Kanada, Brasilien, Argentinien, Indien und vor allem China gaben zu verstehen, dass sie erst nach vollzogenem Brexit mit den Briten weiterreden wollen. Demzufolge ist davon auszugehen: Wenn die Konditionen eines Brexit vertraglich fixiert sind, wird der eigentliche Verhandlungsmarathon beginnen, nicht nur mit der EU, sondern mit allen anderen Welthandelsländern gleichzeitig.
Labour ist indes nicht in der Lage, die eklatante Schwäche der Regierung May zu nutzen, da die Partei in der Brexit-Frage gespalten ist, heute mehr als vor dem Referendum am 23. Juni. Owen Smith, Jeremy Corbyns Herausforderer bei der Urwahl des Parteichefs, plädiert für ein zweites Referendum oder eine Neuwahl des Unterhauses. Corbyn selbst, der den Kampf um den Labour-Vorsitz haushoch gewinnen dürfte, macht wie schon während der Brexit-Kampagne keine glückliche Figur. Er will – aus Überzeugung oder Opportunität – den alt- wie neulinken EU-Feinden unter seinen Anhängern nicht offen widersprechen. Seine Version eines Brexit: Ja, den Binnenmarkt hätte er gern erhalten, aber bitte ohne die ärgerlichen neoliberalen Vorschriften zur Liberalisierung und Privatisierung. Was als Verhandlungskonzept ebenso illusorisch ist wie die Vorstellungen von Theresa May und Minister Davis.
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