Brexit voraus

Großbritannien Das Votum über Sein oder Nichtsein in der EU wird für Juni erwartet. Die Europa-Kritiker scheinen noch in der Vorhand zu sein
Ausgabe 06/2016
Premier Cameron wird ein Nein beim EU-Referendum politisch nicht überleben
Premier Cameron wird ein Nein beim EU-Referendum politisch nicht überleben

Foto: Janek Skarzynski/AFP/Getty Images

Premier David Cameron kam, sah, forderte einiges und siegte. Wenn auch nicht auf ganzer Linie. Im Moment ist er dabei, seinen Brüsseler Verhandlungserfolg aufzupolieren, auf dass der im Land mehr Eindruck hinterlässt. Die übrigen 27 Mitgliedsstaaten, vertreten durch den EU-Ratspräsidenten und Chefunterhändler Donald Tusk, kamen ihm weit entgegen beim Aushandeln der Konditionen, die einen Verbleib in der EU sichern sollen. In London sieht das eine erkennbar an Europhobie leidende Massenpresse ganz anders. Dort hat Cameron einen schweren Stand und muss für das heimische Publikum auf der Brüsseler Bühne weiter verhandeln und noch mehr Zugeständnisse verlangen.

Was da seit Monaten passiert und jetzt auf die Klimax am 18./19. Februar beim EU-Gipfel zusteuert, ist großes Polittheater, überschattet von der Aussicht, dass die Briten nach 40 Jahren Mitgliedschaft der EU den Rücken kehren. Der Premier will sein Land in Europa halten, nur leider ist seine Partei darüber so zerstritten wie das ganze Land gespalten. Dank eines medialen Trommelfeuers scheinen die EU-Gegner augenblicklich in der Vorhand zu sein. Was heißt das, wenn an einem Referendum kein Weg mehr vorbeiführt? Eine solches Votum kommt eher früher als später, höchstwahrscheinlich schon im Juni, nach den Regionalwahlen im Mai.

Seit Margaret Thatchers Zeiten ist auf der Insel die Animosität gegenüber dem vereinten Europa oder dem „Kontinent“ (wie die Briten den Rest Europas nennen) gesellschaftsfähig. EU-Ausländer zu brüskieren, teilweise zu diskriminieren, gilt als legitime Form der Fremdenfeindlichkeit. Bei den rechten Parteien, einem Teil der Tories wie der offen nationalistischen Ukip, avanciert das „Raus aus der EU“ derzeit zur Wunderwaffe, mit der man alle Probleme Britanniens mit einem Schlag zu beheben verspricht.

Prinzip „Notbremse“

Über das gemeinsame Dokument, das Cameron und Tusk als vorläufiges Verhandlungsergebnis vorgelegt haben, werden alle Mitgliedsstaaten beim Gipfel in einer Woche zu entscheiden haben. Es zeigt, wie Brüssel Cameron zu Gefallen ist. Kein Wunder, wer will schon den Brexit als Initialzündung beschleunigter Erosion des Staatenbundes? Zwar wurde die EU nicht auf den Kopf gestellt, doch hat der britische Regierungschef genau das bekommen, was er wollte und was mit bisher geltendem EU-Recht gerade noch vereinbar ist. So ist festgeschrieben, dass in der EU eine politische Integration gar nicht beabsichtigt sei, sondern jedes Land einen Anspruch auf den eigenen Weg habe. Auch werden jedem nationalen Parlament mehr Rechte zur Blockade von EU-Entscheidungen eingeräumt. Genau das, eine Mitgliedschaft unter Vorbehalten, wollen die Briten.

Weiter besagt das Agreement mit Tusk, dass jede Beteiligung an einer monetären Union freiwillig bleibt und es keinerlei Diskriminierungen gegen Mitgliedsländer außerhalb der Eurozone geben werde. Auch diese Zusicherung hat Cameron gewollt, ebenso das etwas wolkige Bekenntnis zu einer ambitionierten Freihandelspolitik in der und durch die EU.

Mit dem Vorschlag einer „Notbremse“, die es erlaubt, in Großbritannien Sozialleistungen für EU-Ausländer zu kürzen und auszusetzen, akzeptiert Brüssel im Prinzip und in der Praxis, dass es für Arbeitsmigranten aus EU-Ländern kein bedingungsloses Recht auf Sozialleistungen (wie Lohnsubventionen für Niedriglöhner) gibt. Das anzuerkennen, ist eine Schande für die Staatenunion, die dadurch zur Klassengesellschaft mutiert, in der Privilegierte das Sagen haben. Dennoch schießen die Europhoben auf der Insel aus allen Rohren gegen die „Notbremse“, so dass mittlerweile selbst das Pfund an Wert verliert. Jüngste Umfragen signalisieren, beim Referendum könnte sich eine knappe Mehrheit für den Brexit aussprechen. Freilich weiß niemand so genau, was dann geschieht. Das EU-feindliche Lager wiegt sich in der Illusion, man könne nach der Erklärung des Brexit in aller Seelenruhe einen neuen, günstigen Freihandelsvertrag mit der EU aushandeln.

Für diese Optimisten wird es ein böses Erwachen geben. Nicht nur dürfte das Pfund 15 bis 20 Prozent seines Außenwerts einbüßen, was zwar dem Export nützt, aber für ein Land, das auf stete Kapitalzuflüsse aus aller Welt angewiesen ist, keine erfreuliche Nachricht darstellt. Eine britische Regierung wird den Brexit monate-, vielleicht jahrelang mit der EU-Kommission aushandeln müssen, die dann gegenüber London mit einer Stimme sprechen wird. Der Einfluss der Briten auf die EU-Politik wird von heute auf morgen gegen null tendieren. Das alte Brüsseler Sprichwort „Wer nicht am Tisch sitzt, kommt auf die Speisekarte“ dürfte sich rasch bewahrheiten. Es gäbe einen endlosen Verhandlungsmarathon, müsste doch nicht nur ein neuer Handelsvertrag mit der EU geschlossen, sondern zugleich ein bilateraler Zugang zu den 52 Handelsabkommen bestimmt werden, die von der Union mit anderen Ländern geschlossen wurden. Und von denen Großbritannien bisher profitiert.

Es wäre naiv, davon auszugehen – nur politisch völlig ahnungslose Exit-Schwärmer tun das –, dass die EU einem Außenseiter alle Vorteile des gemeinsamen Binnenmarkts (von mehr als 500 Millionen Menschen gegenüber 65 Millionen auf der Insel) einräumt, ohne ihn irgendwie an den Kosten zu beteiligen, Norwegen und die Schweiz können ein Lied davon singen. Man kann es auch so formulieren: Ökonomisch wäre ein Brexit für die EU verkraftbar, für Großbritannien eher nicht, weil das Land die wichtigsten Abnehmer für seine Industrie und Landwirtschaft nun einmal auf dem „Kontinent“ weiß. Ohne die EU verliert der Finanzplatz London erheblich an Bedeutung. In Brüssel werden die Briten nichts mehr zu sagen haben, aber alle Entscheidungen der EU schlucken müssen. Und wer das Commonwealth als EU-Ersatz empfiehlt, macht einen schlechten Witz. Darauf hoffen nur Nostalgiker des Empire. Leider gibt es in England nicht wenige davon. Vielleicht sollten die mit Kanadiern, Australiern oder Indern reden, die längst ihre Handelsverträge mit der EU unter Dach und Fach und für das Commonwealth nur ein müdes Lächeln übrig haben.

Die Schotten wird ein Brexit in Alarmbereitschaft versetzen. Die Schottische Nationalpartei (SNP) wartet nur auf eine Gelegenheit, um das Referendum über die Unabhängigkeit zu wiederholen. Kommt der Brexit, stehen die Chancen dafür nicht schlecht, weil sich dann eine Mehrheit der Schotten für den eigenen Staat entscheiden dürfte, um als solcher Mitglied der EU zu bleiben und vielleicht gar den Euro einzuführen. Kein Wunder, dass nicht nur die US-Regierung, sondern viele Briten ernsthaft besorgt sind. Labour kann den Ausschlag geben für eine Wende zur Vernunft, wenn sich die Partei mit Jeremy Corbyn an der Spitze entschieden gegen den nationalistischen Wahn stellt. Lohnt sich das für die EU in ihrer gegenwärtigen Verfassung? An der sind nicht vorrangig die Nationalisten, sondern die Neoliberalen schuld, die mehr ruiniert haben als den Ruf Europas.

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