Schulterschluss ohne Bruderkuss

China/Russland Die beiden Großmächte sind strategische Partner, ohne formelles Bündnis und auf Abstand bedacht. Aber einer von beiden braucht den anderen dringender
Ausgabe 05/2022
Schulterschluss ohne Bruderkuss

Collage: Johanna Goldmann für der Freitag; Material: Getty Images, Imago Images

In Moskau wie Peking hat man es seit dem Ende der Sowjetunion stets vermocht, vorausschauend zu denken und sich der Tatsache bewusst zu sein, dass beide Staaten eine 4.200 Kilometer lange Landgrenze verbindet. Seit 2001 besteht ein Nachbarschaftsvertrag, 2006 sind die letzten Grenzkonflikte per Abkommen bereinigt worden, und seit 2013 betreibt die Russische Föderation eine „Wende nach Osten“. So gibt es denn zu den Olympischen Winterspielen in Peking ein Treffen zwischen den Präsidenten Xi Jinping und Wladimir Putin. Die davon ausgehende Botschaft: Wir sehen uns durch den gemeinsamen strategischen Gegner USA zu verstärkter Kooperation genötigt.

Dabei ist Russland im Sog der Konfrontation, wie sie von den USA unter Präsident Joe Biden genauso wie zuvor unter Donald Trump gesucht wird, für die Chinesen eher ein Juniorpartner, nicht mehr und nicht weniger. Was auch damit zu tun hat, dass Moskau in der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) eher schwache Alliierte führt, während China aus Prinzip keinem Militärbündnis angehört und streng auf seine strategische Souveränität achtet. Für beide gilt: Wir mischen uns nicht in die inneren Angelegenheiten des jeweils anderen ein. Im Ukraine-Konflikt übt Peking – womöglich mit Rücksicht auf die Olympischen Winterspiele – lieber Zurückhaltung, als sich zu exponieren. Die Unterstützung für die russische Diplomatie im UN-Sicherheitsrat muss reichen.

Russland braucht China weit mehr als umgekehrt. Schließlich ist die Volksrepublik in so gut wie jeder Hinsicht überlegen oder hat zumindest längst gleichgezogen. Noch vor Jahren gab es dafür mit dem Militärwesen eine markante Ausnahme. Die Regierung in Peking war daran interessiert, von der 2008 einsetzenden Modernisierung der russischen Armee, besonders von waffentechnologischen Trends, zu profitieren. Für die Volksbefreiungsarmee wurden Hightech-Rüstungsgüter erworben, gemeinsame Projekte in der Waffentechnologie entwickelt und Militärübungen absolviert. Zuletzt kam es im Sommer 2021 in der zu China gehörenden Inneren Mongolei dazu, als an die 10.000 Soldaten teilnahmen und die Verteidigungsminister Sergei Schoigu wie Wei Fenghe zusammentrafen. Inzwischen sind die chinesischen den russischen Streitkräften teilweise ebenbürtig, auf einigen Gebieten überlegen oder bei der atomaren Bewaffnung in der Lage aufzuholen. Auch hier gilt das Mantra, von jeder ausländischen Macht rüstungstechnisch unabhängig zu sein, für Russland gleichermaßen.

Denn die Chinesen sind sich der Asymmetrie und der wachsenden Ungleichheit im bilateralen Verhältnis nur zu bewusst. Noch zehrt Russland außenwirtschaftlich von fossilen Brennstoffen – Hightech-Waffen, Software und Pharmazeutika stellen die Chinesen mittlerweile allemal besser und effizienter her. Sie verkörpern eine – trotz Pandemie – rapide wachsende Weltwirtschaftsmacht, die Rohstoffe braucht und dafür viel bieten kann: Konsum- und Luxusgüter, Maschinen und Ausrüstungen, mehr denn je IT-Erzeugnisse. Nur bleiben dem Aufnahmevermögen des russischen Marktes Grenzen gesetzt. Regionen im Fernen Osten sind zu dünn besiedelt, im Vergleich zu China lässt die Infrastruktur zu wünschen übrig, die Bevölkerung schrumpft und altert. Mit Moskau und Sankt Petersburg gibt es zwei prosperierende Millionenstädte, China hat davon ein gutes Dutzend.

Dennoch wächst das Handelsvolumen zwischen beiden Ländern stetig, von annähernd elf Milliarden Dollar 2001 auf 140 Milliarden im zurückliegenden Jahr. Tendenz steigend, auch dank gigantischer Pipelineprojekte für den Gasexport nach China wie „Sibiriens Stärke“. Eine erste Teilstrecke, 2.200 Kilometer lang, ist seit Dezember 2019 in Betrieb, das zweite Segment über 800 Kilometer folgt in Kürze. Der Energiekonzern Gazprom liefert pro Jahr eine Menge von 36 Milliarden Kubikmetern Gas. Dieses Quantum dürfte sich mehr als verdoppeln, sobald als weitere Trasse „Sibiriens Stärke 2“ in Betrieb geht. Diversifizierung nennt man das, sie verschafft Gazprom den Vorteil, weniger auf Abnehmer im Westen angewiesen zu sein und einen Nutzen aus Chinas Klimapolitik zu ziehen. Dessen Ausstieg aus Kohle und Erdöl soll vorzugsweise durch den Umstieg auf Erdgas kompensiert werden. Jedoch ändert das kaum etwas an der Tatsache, dass Russland für China nur ein in Maßen relevanter Handelspartner ist, während China für Russland immer wichtiger wird. Inzwischen entfällt ein Fünftel des russischen Außenhandels auf die Volksrepublik, während die nur etwas über zwei Prozent ihres Warenaustauschs mit Russland abwickelt. Ungeachtet dessen brauchen die Chinesen den Nachbarn für ihre seit 2013 verfolgte Belt and Road Initiative (BRI) der „Neuen Seidenstraße“. Die wichtigsten Eisenbahnrouten nach Europa verlaufen über russisches Territorium. Der Seeweg, etwa durch arktische Gewässer, in denen Russland ebenso das Sagen hätte, wäre kostspieliger. Dass die meisten Partner, die China für seine Ausfuhren, internationalen Liefer- und Wertschöpfungsketten, für Auslandsinvestitionen und Firmenkooperationen braucht, weit westwärts liegen, erhöht den Wert der Transitwege durch Russland.

Gleichzeitig scheuen chinesische Investoren und Banken das extensive Engagement in der russischen Ökonomie, vor allem im Fernen Osten. Beide Seiten haben angesichts der jeweiligen Sanktionen, die von den USA bzw. der EU gegen sie verhängt wurden, überaus vorsichtig agiert. Chinas Zentralbank hat nichts unternommen, um den Rubel zu stützen. Ohnehin zeigt der chinesische Finanzmarkt seit jeher wenig Interesse an russischen Valuta – sehr zum Ärger von Bankern in Moskau, die das gern anders hätten. Und wenn Peking will, kann es den russischen Gas- und Ölmonopolisten Gazprom und Rosneft die Abnehmerpreise diktieren. Trotz Lieferverträgen mit einer Laufzeit von 30 Jahren.

Dissens über die Krim

China wäre der ideale Partner für die wirtschaftliche Entwicklung im dünn besiedelten, aber rohstoffreichen Fernen Osten Russlands. Aber Chinas geostrategische Interessen richten sich nicht nach derartigen Erwartungen. Schön, dass die Chinesen ein paar Brücken über den Grenzfluss Amur gebaut haben, nur ändert das nichts daran, dass China und Russland geostrategisch Konkurrenten sein können. Zum Beispiel in zentralasiatischen Staaten wie Tadschikistan und Usbekistan, in denen die Volksrepublik dank direkter Militärhilfe überaus präsent ist. Oder in der Arktis, wo China bisher mit Russland bei mehreren Großprojekten kooperiert. Im Rahmen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOC), zu der neben Russland und China auch die Erzrivalen Indien und Pakistan gehören, bietet sich das diplomatische Terrain, um bilaterale Interessenkonflikte in Zentralasien oder anderswo zu regulieren. Sicherlich herrscht einstweilen gute Nachbarschaft, allerdings steht China keineswegs bedingungslos hinter der russischen Außenpolitik.

Vor allem deren Rückhalt für autonome Bewegungen in Georgien, Moldawien oder in der Ostukraine wird von Peking nicht mitgetragen. Separatistische Bestrebungen sind es, die im eigenen Land gefürchtet und bekämpft werden – in Xinjiang, in Tibet oder in Hongkong. Folglich haben die chinesischen Autoritäten die Annexion der Krim bislang nicht anerkannt.

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