Der große Öko-Sprung

China Von 2030 an sollen die Emissionen sinken, bis 2060 sogar null betragen. Europa setzen diese Ziele unter Zugzwang
Ausgabe 42/2020

So richtig tiefrot ist er schon lange nicht mehr, dafür wird der Ferne Osten jetzt grün. Genauer, China wird grün, und das in rasantem Tempo. Bis 2060 sollen dort Ökonomie und Gesellschaft klimaneutral sein, hat Staatspräsident Xi Jinping während der auf Mai verschobenen Tagung des Volkskongresses verkündet. Schon vor 2030 werde man den Scheitelpunkt der Emissionen erreichen, danach würden sie sinken und spätestens 2060 bei Netto-Null ankommen. Ein Paukenschlag, ein Wendepunkt für die internationale Klimapolitik, wenn man bedenkt, dass Chinas diesbezügliche Ankündigungen bisher stets zurückhaltend ausfielen, dafür aber regelmäßig erfüllt worden sind, und das oft vorzeitig.

Momentan steht das Land noch für 28 Prozent des weltweiten Kohlendioxidausstoßes. Würde Chinas Wirtschaft tatsächlich klimaneutral, dürfte das unserer Zivilisation 0,2 bis 0,3 Grad des erwarteten globalen Temperaturanstiegs ersparen. Es könnte reichen, um im 21. Jahrhundert unterhalb der Schwelle von 1,5 Grad plus zu bleiben. Mindestens ebenso wichtig ist der politische Effekt: Allen Bremsern und Zauderern wird ihr Lieblingsargument genommen, was können wir schon tun in Deutschland oder Europa? Es wird doch alles sofort durch die Chinesen mit ihrem unverschämten Wachstum zunichtegemacht. Was aber, wenn China vorangeht und so alle anderen unter Druck setzt?

Da sich Xi Jinping weit aus dem Fenster lehnt, muss er sich der Unterstützung in Staat und Gesellschaft sicher sein, wenn Klimaschutz nicht allein für einzelne Unternehmen, sondern ganze Regionen bindend ist. Es braucht ein entschiedenes Handeln wie zu Beginn des Jahres, als klar war, dass die Verbreitung des Coronavirus auf Wildtiere zurückging. Umgehend wurde es für illegal erklärt, einen derartigen Tierhandel zu betreiben, ohne Rücksicht auf Händler und ihren Gewinn. Schließlich sind in China die Herren der Märkte nicht die Herren der Welt, sondern private Interessenten von begrenzter Relevanz.

Wieder atmen in Peking

Jahrzehntelang diente China etlichen EU-Staaten wie den USA als Müllkippe, wenn gegen Devisen Millionen Tonnen an Abfällen dorthin exportiert wurden. Damit ist inzwischen Schluss, es gibt keine solchen Einfuhren mehr, stattdessen Recycling, auch um die Abhängigkeit von Rohstoffimporten drastisch zu vermindern. Man wird sich erinnern an Bilder aus Peking und anderen Großstädten. Wochenlang konnte man die Sonne nicht sehen vor lauter Smog, die Augen tränten, es kratzte im Hals. Alle Welt lief mit Masken herum, lange vor Corona. Unter der Luftverschmutzung litt die gesamte Bevölkerung. Heute ist das anders, der Himmel über Peking wieder blau, und man kann frei atmen, da sich die Luftqualität vieler Metropolen enorm verbessert und die Zivilgesellschaft gewaltig dazugelernt hat. Die Stadtbürger lassen sich Smog und Lärm, die sie noch vor wenigen Jahren fast widerstandslos hinnahmen, nicht mehr bieten. Chinas Städte werden grün, und nicht nur sie. Die Volksrepublik betreibt derzeit das weltweit größte und ehrgeizigste Aufforstungsprogramm in den Nadelblattwäldern im Nordosten, um die Lärchenbestände wie Schottischen Kiefern zu erhalten, ebenso in den südöstlichen Provinzen Fujian und Zhejiang, wo der Regenwald geschützt wird. Während in Brasilien und Kalifornien die Vegetation verbrennt, während sie in Europa vielfach verdorrt, wächst sie in China dank eines Programms, das gleichermaßen darauf zielt, die Wüsten zurückzudrängen, während überall sonst die „Verwüstung“ der Erde voranschreitet.

Dieser bemerkenswerte Wandel kam nicht über Nacht. Er ist Resultat eines langen Lernprozesses. Noch vor 20 Jahren wurde in Peking über Umweltprobleme geklagt, aber unter Verweis auf eine lokale oder regionale Verantwortung wenig unternommen. Inzwischen ist allen klar, dass es damit nicht getan ist. Folgt daraus, dass China den Ausstieg aus der fossilen Wirtschaft und den Umstieg in eine klimaneutrale Produktions- und Lebensweise bewältigt? Dafür spricht zumindest, dass bisher dieser Vertragsstaat allein seine Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 anstandslos erfüllt hat. Ausschlaggebend ist der Rückgriff auf Umwelttechnologien, bei denen chinesische Unternehmen heute schon führend sind, weil sie mit vollem Einsatz auf Innovationen setzen und über die Produktionskapazitäten verfügen, davon Gebrauch zu machen. Aber noch hängt die Wirtschaft des Landes an der Kohle, an Öl und Gas, noch werden in Provinzen wie Zhejiang Kohlekraftwerke gebaut, seit 2019 fünf an der Zahl, die als fossile Meiler auf eine Kapazität von zusammen 7.960 Megawatt kommen. Offiziell gelten diese Objekte als Energieerzeuger auf Zeit, die im Moment auch dazu dienen sollen, die Corona-Folgen für die Wirtschaft einzudämmen. Spätestens 2021 soll Energiegewinnung durch Kohle auf unter 60 Prozent sinken und die aus Erdgas die Grenze von zehn Prozent nicht überschreiten.

In Deutschland wird der Kohleausstieg, wenn er je gelingen sollte, mehr als 30 Jahre in Anspruch nehmen, die Chinesen wollen den Abschied von Anthrazit und Weichbraunkohle in fünf Jahren vollzogen haben. Die Voraussetzungen dafür sind insofern günstig, als Energiekonzerne und deren Lobbyisten auf die chinesische Wirtschaftspolitik traditionell wenig Einfluss haben. Auf jeden Fall wäre der schrittweise Verzicht nicht nur auf Kohle, sondern auch auf Gas und Erdöl die Befreiung von Abhängigkeiten. Rohstofflieferanten wie Russland, aber auch OPEC-Staaten wie Saudi-Arabien würden an Bedeutung verlieren.

Für Alternativen sorgt die Solartechnologie, deren Produzenten in China nicht nur weltweit führend sind, sondern im eigenen Land aus dem Vollen schöpfen. Auf den Dächern von Peking, einer Metropole mit 22 Millionen Menschen, wird heute bereits mehr Solarstrom erzeugt als in ganz Deutschland. Dazu entstehen Windparks in der Küstenregion am Ostchinesischen Meer. Ärger mit Widerständlern, die Umweltschutz bzw. erneuerbare Energien ganz passabel finden, solange davon ihre Datschen nicht gestört werden, kennt man in China kaum. Wo Konflikte gären, wird nach Kompromissen gesucht. Lokal und regional ist dieses Regime eben keine Kommandowirtschaft, eher eine ziemlich dezentral gestrickte Verhandlungsökonomie.

Laden statt tanken

In Sachen E-Mobilität ist man ebenfalls erheblich weiter als Europa. Wieder so eine harte Selbstverpflichtung: Zwar wurde noch kein verbindliches Datum für das Ende von Autos mit Verbrennungsmotoren festgesetzt, dafür gelten Quoten für alle Autobauer und -verkäufer im Land, die Jahr für Jahr zulasten der Verbrennungsmotoren steigen. Bis 2035 soll der Anteil der Elektrofahrzeuge auf mindestens 50 Prozent gestiegen sein. Wobei die Regierung für die E-Autos nicht mehr die Kraftstoffersparnis, sondern die gesamte Kohlendioxidbilanz in Rechnung stellt. Schon heute gibt es über eine Million Ladestationen, weit mehr als in jedem anderen Land der Erde, ein stetig erweitertes Netz. Und die Autobauer ziehen mit, auch die deutschen stellen in China inzwischen Elektrofahrzeuge in Massen her und halten sich an vorhandene Quoten. Offenkundig funktioniert, was die Automobilkonzerne in Deutschland nach Kräften verschleppen und behindern. Hat es damit zu tun, dass sie sich in der chinesischen Diaspora einem schlüssigen Gesamtkonzept unterordnen müssen? Und der Vorrang für die Eisenbahn – in Zukunft die Magnetbahn – gilt in der Volksrepublik ohnehin. Dank des mittlerweile hervorragend ausgebauten Netzes von Hochgeschwindigkeitszügen, die alle Großstädte des Riesenreichs verbinden, ist die Eisenbahn im Inlandsverkehr attraktiver als das Flugzeug. Von der Straße auf die Schiene, in China klappt das. Wo es nicht geht, wird umgerüstet, von Lastkraftwagen mit Verbrennungsmotor auf Fahrzeuge mit Elektroantrieb. Die weltweit größte Flotte von Elektro-Lkw und -Bestellbussen fährt auf Chinas Fernverkehrsstraßen.

Xi Jinpings Ankündigung folgte auf eine Reihe von Konferenzen mit den Spitzen der EU. Auch die deutsche Kanzlerin war dabei. Ein deutliches Signal, dass China mit den Europäern in der Klimapolitik an einem Strang ziehen will. Von den USA ist einstweilen nichts zu erwarten.

1,1 Billionen

Strategie Präsident Xi Jinping hat 2013 das Programm einer „Neuen Seidenstraße“ verkündet. Das Projekt zielt darauf, durch massive Investitionen in die Infrastruktur den Wirtschaftsaustausch zwischen China und anderen asiatischen Staaten wie Europa und Afrika zu fördern. Chinesisches Kapital floss seither in die Modernisierung der Häfen in Rotterdam, Antwerpen, Montoir-de-Bretagne, Marseille, Bilbao, Valencia, Piräus, Malta und Tanger. Davon profitiert haben Airports in Frankfurt-Hahn, Toulouse und Tirana. Zum Testgelände für diese Strategie wurde der Westbalkan, u.a. durch Vorhaben wie die Schnellbahn von Belgrad nach Budapest. Bisher sind für Projekte in 60 Staaten Ausgaben von 1,1 Billionen Dollar veranschlagt, aufgebracht über den Seidenstraßen-Fonds, die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank und die New Development Bank der BRICS-Staaten.

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