Labour kommt nicht auf die Beine. Mehr als ein Jahr ist es her, dass Jeremy Corbyn abtreten musste. Bei der Unterhauswahl im Dezember 2019 hatte die Partei das schlechteste Ergebnis seit 1935 erzielt und fast alle Hochburgen im einst roten Nordengland verloren. Keir Starmer, der als neuer Parteichef reichlich Vorschusslorbeeren bekommen hatte, ist es bisher nicht gelungen, die Talfahrt zu stoppen. Bei den Regional- und Kommunalwahlen am 6. Mai hat die Partei bis auf Wales weiter an Terrain verloren, selbst die seit 1974 gehaltene Bastion Hartlepool musste bei der Abstimmung über ein neu zu besetzendes Unterhausmandat aufgegeben werden.
Eine vor Ort kaum bekannte Tory-Kandidatin gewann eine klare Mehrheit und ganz gegen die Regel, wonach die Regierungspartei Nachwahlen verliert. Allein bei den Entscheidungen über die Bürgermeister in England hat Labour gut 250 Domänen eingebüßt, während die Tories fast 300 dazuholten. Auch wenn in Greater Manchester und London die Labour-Granden Andy Burnham beziehungsweise Sadiq Khan nicht untergingen, muss die Partei das Gros der kommunalen Mandate abschreiben, die seit Beginn der Oppositionszeit 2010 gewonnen wurden. „Uns fehlte das Vertrauen der Arbeiterklasse“, beschrieb Starmer sein trauriges Los, auch wenn die Parteirechte die Niederlage den „zwei C“ – Covid und Corbyn – zuschieben wollte. Gerade in umkämpften Wahlkreisen wie Hartlepool war Starmer präsent, allerdings mit einer Kampagne, die abspenstige Arbeiterwähler mit Appellen an den Patriotismus, die Tradition und Familie umwarb – derlei können die Tories schlicht besser.
Keine Alternative zu Johnson
Nach dem Wechsel an der Parteispitze sollte der Dauerzwist zwischen der Parteilinken und -rechten beendet, dem Antisemitismus Einhalt geboten sein. Die Programmatik wollte der neue Parteivorsitzende hingegen nicht radikal verändern, es ging eher ums Personal und den Stil der innerparteilichen Kontroversen. Seine Anhänger wie eine ihm freundlich gesinnte Presse bauten auf seine Kompetenz und Professionalität. Nun aber hat sich der Parteichef durch hektische Aktionen im Moment der Niederlage selbst geschadet. Einige Personalwechsel im Führungszirkel sorgten für böses Blut: Wahlkampfleiterin Angela Rayner wurde als Generalsekretärin geschasst und durch Annelies Dodds ersetzt. Rayner ist als gestandene Linke proletarisches Labour-Urgestein, sie abzuservieren war ein schwerer Fehler, weil offener Affront gegenüber der Parteilinken.
Starmer mag als Debattenredner und Parlamentarier im Umgang mit den Medien geschickter als sein Vorgänger sein, doch muss er sich als Kardinalfehler ankreiden lassen, in der Pandemie und beim Brexit-Streit zu sehr als loyaler Oppositionsführer Ihrer Majestät aufgetreten zu sein. Gegen Johnsons mit heißer Nadel fabrizierten Handelsvertrag Großbritannien/EU gab es keinen Widerstand, stattdessen offiziellen Rückhalt. So wurde der konservativen Regierung das parlamentarische Leben in der Überzeugung zu leicht gemacht, in der Stunde von Not und Gefahr müsse aus guter britischer Tradition zusammengestanden werden. Über Monate war von Starmer nichts weiter zu hören als die regelmäßig wiederholte Versicherung, Labour unterstütze die Regierung in ihrem Kampf gegen das Virus. Ganz gleich, welche Risiken der Hasardeur Johnson einging – bei der Beschaffung von Impfstoffen oder der Impfkampagne –, von der Opposition im Unterhaus hatte er nichts zu befürchten.
Labour und Konservative überschlugen sich in Lobeshymnen auf den völlig überlasteten Nationalen Gesundheitsdienst (NHS). Am Ende wusste niemand, für welche Politik Labour bei der Corona-Abwehr eigentlich stand. Jeremy Corbyn, was man ihm auch immer nachsagen mochte, wäre ein solcher Fehler kaum unterlaufen. Klar zu sagen, wer für den erbärmlichen Zustand des NHS und die mehr als 150.000 Todesopfer der Pandemie im Vereinigten Königreich vorrangig verantwortlich ist, wäre nicht schwer gewesen.
Vor Tagen holte Starmer zum Befreiungsschlag aus. Angesichts einer Presse, die sich längst darin übertrifft, Labour vollends abzuschreiben, blieb ihm nichts anderes übrig. Auf einem vom mittigen Thinktank „Progressive Britain“ anberaumten Meeting kündigte er eine neue programmatische Offensive an. Offensichtlich bemüht, die streitbaren Linken und Rechten nicht allzu früh aus den Gräben zu locken, ließ er im Ungefähren, wie die aussehen soll. Man wolle sich weder an Tony Blair noch Jeremy Corbyn orientieren. Statt frühere Parteimanifeste fortzuschreiben, brauche es einen Neuanfang. Im Sommer, so Starmer, werde er selbst durchs Land reisen, um bei Parteigliederungen für die neuen Programmideen zu werben.
Die Parteilinke, die Corbyn nachtrauert, wird Starmer damit nicht überzeugen, zumal ihm die beiden maßgebenden rechten Parteiströmungen, die sich mittlerweile zu einer Plattform vereint haben, allzu linke Anwandlungen nicht werden durchgehen lassen. Fest steht jedoch, in weiten Teilen der Partei, gerade in den inzwischen den Ton angebenden urbanen, akademisch geprägten Milieus, wird die Verbindung von ökologischem Radikalumbau und Sozialreform längst als unabdingbar betrachtet. Die Parteirechte, die den gleichen Kreisen entstammt, betrachtet dagegen die Vorschläge zur Umkehr in der Wirtschaft, das Erbe der Corbyn-Zeit, mit geschärftem Misstrauen.
Jedenfalls bleibt Starmer so gut wie keine Zeit, um sich etwas einfallen zu lassen und ein konsistentes Programm vorzulegen. Denn die Herausforderer und potenziellen Nachfolger an der Parteispitze – wie Andy Burnham, der Sieger im Kampf um Greater Manchester – sind schon auf dem Sprung.
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