Ein schwärzerer Montag ist auf den Schwarzen Freitag gefolgt. Noch erreicht der Einbruch an den Börsen nicht Dimensionen wie beim Kollaps der US-Investmentbank Lehman Brothers im Frühherbst 2008. Aber die Risiken sind erheblich größer als damals – für Großbritannien, die Europäische Union und eine stagnierende Weltwirtschaft. Im günstigsten Fall wird der Brexit dafür sorgen, dass die Depression, in der wir nach wie vor stecken, noch ein paar Jahre länger dauert.
In der Nacht zum 24. Juni, als die einlaufenden Teilergebnisse des Votums den Brexit ankündigten, reagierten die Märkte weltweit tief geschockt. Eine klassische Überreaktion, die Marktakteure hatten felsenfest darauf gebaut, dass die Briten in der EU bleiben. Daher stieg der Pfundkurs noch in der Nacht, um dann jäh abzustürzen. Im Verhältnis zum Dollar sackte er durch wie seit 1985 nicht mehr und ging in den freien Fall über. Die Devisenhändler hielten den Atem an – und warteten auf die Antwort der Bank of England. Nach einem Wochenende dröhnenden Schweigens wurde klar, dass niemand einen Plan B hatte, um dieser Fallsucht der eigenen Währung wirksam zu begegnen. Wenig überraschend haben sich die großen Hedgefonds auf das Pfund eingeschossen und spekulieren auf fortwährenden Kursverfall.
Und haben sich nicht vertan. Der Dollar-Pfund-Kurs nähert sich Mitte der Woche der 1,20-Marke, das Pfund-Euro-Verhältnis der 1,10-Marke. Da könnte eine Eins-zu-eins-Parität für beide Kurse bald erreicht sein. Und es ist sehr die Frage, ob eine konzertierte Aktion der EZB, der amerikanischen Federal Reserve, der japanischen und britischen Zentralbank das aufhalten kann.
Noch am 24. Juni wurden britische Bankaktien im Billionenwert verbrannt, darauf basierende Vermögen haben sich in Luft aufgelöst. Mehr als zwei Billionen Dollar an Anlagekapital sind in wenigen Stunden global vernichtet worden. Der FTSE 250 – ein weit besserer Aktienindex als der oft zitierte FTSE 100, weil er vorwiegend britische Aktien listet – sackte um 7,2 Punkte. Es zeigt sich genau das, was alle Experten voraussahen: eine Periode höchster Volatilität. Da die politische Krise anhält, werden die Märkte weiter verrücktspielen.
Reibach mit Ansage
Erschwerend kommt hinzu: Großbritannien ist dank Thatcher und New Labour ein deindustrialisiertes Land. Es exportiert Dienstleistungen, vor allem solche, die britische Normalbürger nicht brauchen. Zugleich muss ein Großteil der Nahrungsgüter eingeführt werden, überwiegend vom Kontinent, zum Beispiel Obst und Gemüse. Die Folgen des Kursverfalls ihrer Währung bekommen die Briten daher schon jetzt zu spüren, wenn sie im Supermarkt einkaufen. Leider gibt es auf der neoliberalen Musterinsel schon lange keinen Inflationsausgleich für Löhne und Gehälter mehr, so dass in den kommenden Monaten mit einem akuten Fall der Realeinkommen zu rechnen ist. Spitzenverdiener mögen das verkraften, die Masse der Normal- und Kleinverdiener kann es nicht. Besonders dann nicht, wenn absehbar die Strom- und Gaspreise in die Höhe schießen, weil das Land seine Energieversorgung größtenteils über Kontinentaleuropa erhält.
Bei alldem sei nicht vergessen, dass Großbritannien ein Land der Pensionsfonds ist. Die magere staatliche Rente reicht oft zum Leben kaum aus, weshalb viele darauf angewiesen sind, ihre Anlagen bei Pensionsfonds abzurufen. Nur haben die seit dem 24. Juni durch die Kursstürze an den Börsen innerhalb von Tagen 900 Milliarden an Vermögen eingebüßt. Was für die Verlustbilanz noch kein Endpunkt sein muss. Sofern bei derartigen Fonds die Reserven schmelzen, sind sie gesetzlich verpflichtet, Auszahlungen zu kürzen. Spätestens zu Weihnachten dürften für Hunderttausende von Pensionären böse Bescherungen anstehen.
Mark Carney, Chef der Bank of England, hat versucht, mit fast den gleichen Worten, wie sie am 26. Juli 2012 EZB-Präsident Mario Draghi gebrauchte, um die Eurokrise für vorläufig beendet zu erklären, das Desaster für die eigene Finanzökonomie abzuwenden – es ist ihm nicht gelungen. 250 Milliarden Pfund sind als Reserve schlicht und einfach zu wenig, um die strauchelnde Währung aufzufangen, bis das politische Chaos im Vereinigten Königreich abklingt. Alle großen Ratingagenturen – Moody’s, Standard & Poor’s wie Fitch – ändern die Einstufung Großbritanniens, weil sie offenbar eine längere Rezession für unausweichlich halten. Dieses Negativ-Ranking wird schon von der psychologischen Wirkung her den Abstieg beschleunigen.
Was wird jetzt geschehen? Es wird so weitergehen: Verträge werden gekündigt, Investitionen auf Eis gelegt, Investmentbanken verlagern ihr Geschäft nach Frankfurt, die Autobauer gehen nach Ungarn, Offshore-Finanzdienstleister nach Dublin, Fluggesellschaften ziehen ab. Sollte die EU den Subventionsfluss in die ärmsten Regionen der Insel in absehbarer Zeit stoppen, wird keine britische Regierung imstande oder willens sein, das auszugleichen. Was bleibt den Bewohnern im verarmten Nordengland? Sie können in den Süden ziehen und dort für Dumpinglöhne und ohne großen sozialen Schutz auf den Feldern arbeiten, nachdem die osteuropäischen Saisonarbeiter vertrieben worden sind.
George Osborne hat nicht geblufft. Das Haushaltsloch, das er vorhergesagt hat, ist da. Steuererhöhungen scheinen unvermeidlich und werden die Normalverdiener treffen. Außer guten Worten, vorgetragen mit britischem Understatement, hat der Schatzkanzler dem Sturm nichts entgegenzusetzen. Fragt sich nur, ob die Kapitalisten auf der Insel – Briten wie Nichtbriten – sich davon beeindrucken lassen. Die Hedgefonds werden bleiben, sie machen ein Bombengeschäft. Auch George Soros ist wieder dabei. Er zeigte Stil und machte seinen Reibach mit Ansage.
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