Der Bandenchef legt nach

Großbritannien Es rumort auf der Insel, seit Boris Johnson am nächsten Kapitel seiner Brexit-Saga schreibt, jetzt warnt er vor Hunger
Ausgabe 38/2020

Die achte Verhandlungsrunde zwischen der EU und Großbritannien ist nun vorbei, sie endet wie alle vorangegangenen ohne substanziellen Fortschritt. Nur der Ton ist rauer geworden und die Stimmung gründlich verdorben, sodass inzwischen ein Fortgang der Gespräche selbst auf der Kippe steht. Das schlechteste Szenario für alle Beteiligten wird von Tag zu Tag wahrscheinlicher und schürt die Sorge, dass es unweigerlich zum No-Deal-Exit der Briten kommt.

Kurz vor Beginn der jüngsten Sondierungen warf Boris Johnson eine seiner allseits beliebten Handgranaten, nur war diesmal die Explosivkraft um einiges größer als bei früheren Attentaten dieser Art. Der Premier will zentrale Passagen des Austrittsabkommens mit der EU per Gesetz aushebeln. Es geht besonders um die Nordirland-Frage und damit genau jenen Kompromiss, den Johnson noch im Herbst vor einem Jahr als großen Durchbruch gefeiert hat. Die bestehende Vereinbarung – darauf basiert im Grunde genommen die ganze Austrittsdiplomatie – soll durch das „Binnenmarktgesetz“ einer Tory-Mehrheit im Unterhaus außer Kraft gesetzt werden. Für die Vorlage stimmten zu Wochenbeginn 340 Abgeordnete, 263 waren dagegen. Da die Konservativen über 365 Mandate verfügen, war die Minderheit der Dissidenten in den eigenen Reihen deutlich kleiner als angenommen. Auf jeden Fall ist nun der Weg frei für eine Parlamentsdebatte über das Vorhaben und einen möglichen Gesetzesbeschluss in der kommenden Woche. Ein starkes Stück, selbst für die Verhältnisse Boris Johnsons und seines Chef-Einflüsterers Dominic Cummings. Beide halten den bewusst geplanten, offen angekündigten Bruch eines internationalen Vertrages für geboten.

Mit herzerfrischender Unbekümmertheit hat Brandon Lewis, seines Zeichens Nordirlandminister in London, im Parlament erklärt: Ja, man werde gegen internationales Recht verstoßen, allerdings nur „begrenzt“. Dies lauthals zu rechtfertigen, inmitten laufender internationaler Verhandlungen, verschlug vielen die Sprache, in London wie in Brüssel. Wohlgemerkt, es geht um den Austrittsvertrag, den Boris Johnson selbst unterzeichnet hat und als Geniestreich feierte nach mehr als drei Jahren schleppender Verhandlungen, die oft genug kurz vor dem Scheitern standen. Es sei ein „ofenfertiger Deal“ gefunden, prahlte der Premier, als er damit im Spätherbst 2019 in den Wahlkampf zog und gewann.

Inkompetent und skrupellos

Plötzlich soll das nicht mehr gelten und die EU hinnehmen, was auf eine De-facto- wie De-jure-Aufkündigung und einseitige Neufassung dieses Agreements hinausläuft. Einmal mehr zeigt sich, was Johnson und die Brexiteers unter der vielbesungenen „Souveränität“ verstehen. Von der handelt das ganze Theater: Macht Großbritannien wieder ganz groß und unabhängig, rule Britannia. Souveränität heißt in diesen wüsten Köpfen: Wir machen, was wir wollen und wie es uns gefällt. Der Rest der Welt soll staunen. Auf Irland nehmen wir keine Rücksicht mehr, auf die Loser von der Europäischen Union schon gar nicht, keine ganz neue Erfahrung im Umgang mit Johnson und seinem Anhang. Nicht nur Donald Trump lügt, sobald er den Mund aufmacht, der derzeitige britische Regierungschef nicht anders. Mittlerweile wird das selbst einigen Tory-Granden zu viel. Drei konservative Amtsvorgänger – John Major, David Cameron und Theresa May – haben vernehmlich ihr Missfallen bekundet, ebenso die einstigen Labour-Premiers Tony Blair und Gordon Brown. Unisono warnen sie, der Ruf Großbritanniens nehme irreparablen Schaden, die Brexit-Tories würden mit dem Rule of Law eines der heiligsten Güter nicht nur der Briten, sondern ganz Europas verhöhnen. Jonathan Jones, Chefjustitiar der Regierung, ist aus Protest gegen Johnsons Coup zurückgetreten. Die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon redet Tacheles: „Was für eine Bande von inkompetenten und skrupellosen Spielern!“

Johnson legt nach und das in bewährter Manier mit einer noch dickeren Lügengeschichte. Angeblich plane die perfide EU, mit Hilfe der Nordirland-Grenze eine regelrechte Lebensmittelblockade über das Vereinigte Königreich zu verhängen. Brüssel habe „diesen Revolver noch immer nicht vom Tisch genommen“. Dort lege man es darauf an, die territoriale Integrität des Vereinigten Königreichs zu gefährden. Mit anderen Worten, man befinde sich im Krieg und werde ausgehungert. Kann sein, dass dieser Premier zum ersten Mal begriffen hat, wie sehr die Insel von Nahrungsmittelimporten aus der EU abhängig ist, nicht umgekehrt. Auf kulinarische Genüsse aus England kann man in Kontinentaleuropa sehr gut verzichten.

In der Brüsseler EU-Zentrale wird gerätselt, welche Verhandlungsstrategie hinter dem jetzigen Coup wohl stecken könnte. Falls es eine gibt – außer der ständig wiederholten Erklärung, man müsse die EU nur gehörig unter Druck setzen, dann würde die schon einknicken. Danach sieht es nicht aus. Die EU verlangt von der Regierung Johnson, ihr ominöses Gesetz bis Ende des Monats zurückzunehmen statt zu beschließen. Im EU-Parlament verlangen grüne wie liberale Abgeordnete bereits, die Verhandlungen abzubrechen. Fest steht, bis Ende Oktober lässt sich kein irgendwie sinnvoller Freihandelsvertrag zwischen den Parteien mehr zustande bringen. Da können Verhandlungsführer Michel Barnier und seine Crew noch so viele Nachtschichten einlegen – ein Konsens käme schon deshalb zu spät, weil ein Abkommen noch ratifiziert werden müsste. Bei diesem Prozedere ist nicht nur die EU-Legislative gefragt, das sind auch etliche Parlamente der Mitgliedsländer, für deren positives Votum sich niemand verbürgen kann. Wie Großbritannien unter diesen Umständen seinen Platz im Welthandelssystem finden will, erscheint offen, wenn nicht mehr als schleierhaft.

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