Die Agrarindustrie nutzt den stockenden Welthandel, um Preise hochzutreiben

Meinung 30 Prozent der Weltbevölkerung fehlt ein ausreichender Zugang zu Lebensmitteln. Das war schon vor dem Krieg in der Ukraine so. Die Vereinten Nationen schlagen Alarm
Ausgabe 29/2022
Ein Drittel der Weltbevölkerung leidet unter Hunger und Unterernährung – und es werden mehr
Ein Drittel der Weltbevölkerung leidet unter Hunger und Unterernährung – und es werden mehr

Foto: Yasuyoshi Chiba/ AFP via Getty Images

Von dieser Krise sprach man bereits vor dem Ukraine-Krieg. 800 Millionen Menschen, ein Zehntel der Weltbevölkerung, litten ständig unter Hunger. Nach dem aktuellen Welternährungsbericht der Vereinten Nationen The State of Food Security and Nutrition in the World werden es mehr. Um fast 50 Millionen ist die Zahl der Hungernden im Vorjahr gestiegen, seit 2019 gar um 150 Millionen. Nach der „Agenda 2030“ der UN sollte bis 2030 Ernährungssicherheit für alle garantiert sein, danach sieht es nicht aus.

Im UN-Report werden all jene berücksichtigt, die unter akutem Hunger und Unterernährung leiden. Rund 2,3 Milliarden Menschen waren das 2021 und damit nicht weniger als 29,3 Prozent der Weltbevölkerung. Berücksichtigt man alle, die sich keine gesunde Ernährung leisten können – viele davon leben auch in den reichen Ländern –, kommt man auf 3,1 Milliarden Menschen, ein Drittel der Weltbevölkerung. Und dabei sind die Folgen des Ukraine-Kriegs noch gar nicht erfasst. Dass es eine globale Ernährungskrise dieser Dimension gibt, hat verschiedene Ursachen: Der Energiepreisschock schlägt weltweit auf Logistik- und Transportkosten durch. Die Blockade von Seewegen bewirkt ein Übriges. Teilweise haben Staaten begonnen, Nahrungsmittel zu horten und Ausfuhren zu stoppen. Der globale Handel mit Saatgut und Düngemitteln stockt. Noch immer sind Liefer- und Wertschöpfungsketten unterbrochen, vor vielen Häfen stehen Containerschiffe im Stau. Dazu kommt ein Klimawandel, der in Brotkorb-Regionen Chinas, Indiens und Russlands 2022 zu erheblichen Ernteausfällen führt, verursacht durch Dürre und Bodenerosion.

Das Welternährungsprogramm (WFP) schlägt Alarm. Das ist sein Job, gebraucht werden Spenden von UN-Mitgliedsstaaten, um Hilfsprogramme am Laufen zu halten. 2020 hat das WFP den Friedensnobelpreis erhalten. Das verleiht seinen Warnungen mehr Durchschlagskraft, wenn sie besagen, dass für Mangel- und Unterernährung, kurzum für den Hunger in der Welt, unser derzeitiges Ernährungssystem mitverantwortlich ist, doch auch eine Agrokultur, die einer kleinbäuerlichen Subsistenzwirtschaft schadet. Deren Verdrängung treibt den Klimawandel voran und damit das Artensterben, den Wassermangel wie die Umweltverschmutzung.

Langfristig ein ganz schlechtes Geschäft, weil die Erträge sinken und Produktionskosten steigen, während die zahlungsfähige Kundschaft schrumpft. Mit mittellosen, entwurzelten Arbeitsnomaden kann die Agrarindustrie kein Geld verdienen. Kurzfristig lässt sich das Elend lindern, mit Geld, mit Logistik, mit gut organisierter Nahrungsmittelhilfe in den ärmsten Ländern und Regionen.

Nach wie vor produzieren wir genug Lebensmittel und leisten uns atemberaubende Verschwendung bei gleichzeitigem Raubbau an kaum ersetzbaren Ressourcen wie Böden und Wasser. Ein funktionierender Welthandel könnte das Hungerproblem kurzfristig lösen. Leider nutzen die Herren der Agrarmärkte einen stockenden Welthandel, um Lebensmittelpreise in die Höhe zu treiben. Daher werden gesunde Nahrungsmittel für eine wachsende Zahl von Menschen unbezahlbar, auch in Ländern des Nordens. Selbst eine respektable Lobbyorganisation wie das WFP kommt da auf radikale Ideen: Wer Ernährungssicherheit will, darf vor den Strukturen der globalen Agrarindustrie nicht zurückschrecken.

Lesen Sie über Afrikas Alternativen zur Abhängigkeit von Getreide-Importen auf S. 10

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