Noch knapp zehn Monate, dann müssen die Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU zu einem klaren Ergebnis geführt haben, damit das dann alle 27 Mitgliedsländer und das Europäische Parlament diskutieren und akzeptieren oder ablehnen können. Auch das britische Parlament wird dann über den Vertragsentwurf abstimmen, diese Konzession haben Abgeordnete aller Parteien der Regierung Theresa Mays abgetrotzt. Wie jüngste Umfragen zeigen, sieht mittlerweile eine schwache Mehrheit der Briten wenig ökonomisches Heil mehr im Brexit, und eine klare Mehrheit ist höchst unzufrieden mit der Verhandlungsführung der britischen Regierung in Brüssel. 50 Prozent der befragten Briten halten ein weiteres Referendum über die Bedingungen des Austritts für notwendig.
Missachtetes Parlament
Mays Regierungsmannschaft wird weiter geschwächt durch Affären, Rücktritte und interne Machtkämpfe zwischen extremen und moderaten Brexiteers. In der Brexit-Frage gespalten ist auch die Tory-Fraktion. Aussitzen, Schweigen, Drumherumreden, Leugnen – alles, was May sich von Angela Merkel abgeschaut hat, zieht im britischen Parlament nicht. Die Abgeordneten aller Parteien sind höchst besorgt und wollen Klarheit. Wochen und Monate tobte der Kampf um den Riesenstapel an Gutachten zu den Folgen des Brexits für 58 Branchen der britischen Wirtschaft, die die Regierung gern geheim gehalten hätte. Zu guter Letzt bequemte sie sich, den Abgeordneten Auszüge zur Verfügung zu stellen; alle unangenehmen Passagen waren entfernt worden. Empörung im Ober- und Unterhaus, Missachtung des Parlaments nennt man diese Attitüde, die beim britischen Publikum gar nicht gut ankommt.
In Brüssel stocken die Verhandlungen seit Monaten, was nicht an den EU-Unterhändlern und nicht an den in der Regel hochkompetenten britischen Beamten liegt, sondern an der britischen Regierung, der Inkompetenz des Brexit-Ministers David Davis und daran, dass May sich gegen die eigene Partei nicht durchsetzen kann. Weil die EU und ihre Repräsentanten vor der britischen Obsession mit britischer Größe nicht so widerstandslos auf die Knie gehen, wie britische Konservative sich das gedacht hatten, wollen die steilen Brexiteers die Verhandlungen am liebsten abbrechen. Sie blockieren jeden Versuch Mays, mit Konzessionen in den drei Schlüsselfragen dieser ersten Verhandlungsphase die Sache wieder flottzubekommen. Jedes Kompromissangebot geht den extremen Brexiteers zu weit, und sie haben die formidable Macht der britischen Boulevardpresse auf ihrer Seite, deren milliardenschwere Eigentümer den Krieg gegen die EU seit Jahr und Tag finanziert und geführt haben.
Theresa May läuft die Zeit davon. Sie braucht einen vorzeigbaren Erfolg, den Beginn der zweiten Phase der Verhandlungen, in der die zukünftigen Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und dem Königreich geregelt werden sollen. Deshalb fügt sie sich dem Ultimatum der EU, die bis Anfang Dezember substanzielle Vorschläge eingefordert hat. Trotz obligater Wutausbrüche in der Revolverpresse, die nunmehr offen vom Krieg gegen die Feinde auf der anderen Seite des Kanals schreibt, hat sie mitgespielt und am Montag dieser Woche in allen drei entscheidenden Fragen des Austritts-Pakets Konzessionen gemacht, auch in der heiklen Frage der irischen Grenze. Das scheint gewagter, als es ist. Denn niemand wird sie stürzen, weil niemand im Moment und auf absehbare Zeit ihren Job haben will.
Doch die britischen Wirtschaftsbosse werden nervös. Ultimativ haben die Vertreter führender Exportbranchen verlangt, die Regierung möge bis März 2018 ihre Pläne im Detail offenlegen. Andernfalls könnten sie Abwanderungspläne nicht länger auf die lange Bank schieben. Diejenigen, die nicht abwandern können und auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen sind, wie die britischen Wein-, Obst- und Gemüsebauern im Südosten, klagen: In diesem Jahr sei die Zahl der Saisonarbeiter aus der EU um gut ein Drittel eingebrochen. Ein Triumph für die xenophoben Brexit-Jubler. Nur: Auf den Feldern verrottet die Ernte, die Briten werden erheblich mehr Lebensmittel importieren müssen, was die Preise in den Supermärkten weiter in die Höhe treiben wird.
May hat offenbar verstanden, dass die Verhandlungen über ein neues Freihandelsabkommen mit der EU auf gar keinen Fall bis März 2019 abgeschlossen werden können. Daher setzt sie auf eine Übergangsperiode von zwei Jahren, bis 2021. So lange sollen auch nach dem formellen EU-Austritt Großbritanniens am 29. März 2019 noch EU-Regeln gelten. Aber darüber wird die EU erst verhandeln, wenn der EU-Gipfel am 14./15. Dezember offiziell feststellt, dass in der ersten Phase „substanzielle Fortschritte“ gemacht worden sind.
Schottland horcht auf
Das ist noch lange nicht sicher. Denn May, am Montag zum Lunch bei Jean-Claude Juncker und zum Tee bei Donald Tusk, hat zwar selbst für die schwierigste Frage, die der Grenze zwischen Nordirland und der Irischen Republik, einen freundlichen Formelkompromiss angeboten: eine Harmonisierung der Regulierungen zwischen beiden Teilen Irlands. Was de facto nichts anderes heißt, als dass die Extrem-Brexiteers ihre Pläne für einen Deregulierungskrieg gegen die EU zumindest für einen Teil des Königreichs begraben dürfen. Die schottische Erste Ministerin Nicola Sturgeon fand Mays Vorschlag brillant: Wenn die Nordiren einen Sonderstatus im Verhältnis zur EU erhalten sollen, warum dann nicht auch die Schotten? Und die Waliser? Widerspruch formulierte prompt die nordirische DUP, von deren Stimmen Mays Regierung im Unterhaus in London abhängig ist: Keine Sonderregeln für Nordirland, sonst kann May ihre an die DUP geknüpfte parlamentarische Mehrheit vergessen.
Der Spielraum der britischen Premierministerin ist im Moment winzig. May kann noch ein paar Milliarden Euro mehr anbieten. Die Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs über die zukünftigen Rechte der in Großbritannien lebenden EU-Bürger aber kann sie nicht anerkennen – da spielen die Extrem-Brexiteers nicht mit. Alles, das Schicksal der Regierung May wie die wirtschaftliche und politische Zukunft Großbritanniens, hängt im Moment vom Wohlwollen der EU der 27 ab.
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