Immobilienkrise in China: Appartements ohne Wasser und Strom
Wohneigentum Die Quote des privaten Wohneigentums in chinesischen Städten beträgt mittlerweile etwa 90 Prozent. Aber nun können Hunderttausende Menschen bereits erworbene Wohnungen nicht beziehen, weil sich die Baukonzerne übernommen haben
Das Land stöhnt unter einem der heißesten Sommer seit Menschengedenken. Hitzewallungen dürfte auch die Führung in Peking erfassen, wenn sie auf den Immobiliensektor schaut. Dieser Markt – bis vor Kurzem noch eine der Wachstumslokomotiven – steht schwer unter Druck. Eine veritable Immobilienkrise breitet sich aus, Baustopps und leerstehende Hochhäuser, Geisterquartiere und brachliegende Baugrundstücke bestimmen die Szene in Provinzen wie Guangdong und Henan. Den wichtigsten Akteuren, den Baukonzernen und deren Banken, geht es existenziell an den Kragen. Die Käufer und Eigentümer von Wohnungen wie auch Mieter verlieren die Geduld – auch mit der Regierung.
Evergrande, Chinas zweitgrößter Immobilienkonzern, steckte schon im Vor
hon im Vorjahr in erheblichen Schwierigkeiten. Seit die chinesische Zentralbank im Herbst 2020 mit der Politik der „drei roten Linien“ versuchte, die riskantesten Formen der Immobilienfinanzierung zu begrenzen, sind weitere große Firmen der Branche unter Druck geraten. Gesellschaften wie Fantasia, Sinic Holdings oder Country Garden im Süden können ihre Anleihen nicht mehr rechtzeitig bedienen oder zurückzahlen und müssen um Aufschub bitten. Das lässt den Kurs ihrer Aktien fallen, der Handel mit Wertpapieren von Evergrande ist bereits ausgesetzt. Bauleistungen müssen auf ein Minimum reduziert oder sogar ganz aufgegeben werden.Nicht nur Finanzinstitute und Immobilienentwickler, auch Kommunen, Provinz- und Regionalregierungen haben zuletzt den Immobilienboom angetrieben. Mit Landverkäufen oder -verpachtungen ließen sich goldene Berge verdienen. Es war allgemein willkommen, dass immer mehr chinesische Familien in rasch wachsende Städte strömten. Wer arbeitet, der verdient, der konsumiert und zahlt Steuern – der ist willkommen. Bisher war auf die Loyalität der Chinesen Verlass, solange die Partei ihr wichtigstes Versprechen erfüllte: Wohlstand für alle, Modernisierung, komfortable Lebensverhältnisse entlang der gesamten Ostküste. Während der Weltfinanzkrise vor mehr als einem Jahrzehnt hatte die Regierung begonnen, in großem Stil die Kreditvergabe an Privathaushalte zu fördern – das ergab einen Schub für den Immobilienboom. Seit 1996 ist die Quote des privaten Wohneigentums in den Städten von rund 50 auf heute etwa 90 Prozent gestiegen. Die Volksrepublik ist längst eine Gesellschaft der Immobilieneigentümer. Steigende Einkommen, niedrige Zinsen, rasche Kreditausweitung haben diesen Trend bedient und für eine lange Zeit zu steigenden Immobilienpreisen geführt. Wie in europäischen Boomstädten werden auch in Chinas Metropolen Wohneigentümer im Schlaf reicher. Und deren Zahl nimmt zu. Der im internationalen Vergleich hohe Leerstand an Wohnungen zeigt, dass die chinesische Ober- und Mittelklasse längst begonnen hat, Zweit- und Drittwohnungen zu erwerben, sei es als Ferienappartement, als Miet- oder Spekulationsobjekt. Bald ist ParteitagAllerdings wird auch in China dieser private Wohlstand mehr und mehr auf Pump finanziert. In den vergangenen fünfzehn Jahren hat sich die Verschuldung der privaten Haushalte landesweit mehr als verfünffacht, zwei Drittel dieser Verbindlichkeiten entfallen auf Hypotheken. Inzwischen wenden chinesische Haushalte im Schnitt gut 21 Prozent ihres Einkommens für Zinsen und Tilgungen auf. Es ist üblich, dass die ganze Familie zusammenlegt, um eine Unterkunft zu kaufen, und für die Hypothekenschuld gemeinsam haftet. Doch sind wegen der rigorosen Null-Covid-Strategie der Regierung immer mehr Bauprojekte ins Stocken geraten, völlig zum Stillstand gekommen oder wurden gar nicht erst begonnen. In den Außenbezirken der zahlreichen Millionenstädte warten Millionen von Käufern vergeblich auf ihre bereits bezahlten, aber noch nicht gebauten oder fertiggestellten Wohnungen. Anderthalb Millionen frustrierte Erwerber sind es allein beim Konzern Evergrande. Hunderttausende sitzen in halbfertigen Appartements ohne sanitäre Anlagen, ohne Wasser und Strom. Noch mehr warten teils seit Jahren auf den Baubeginn oder Fortgang der Bauarbeiten. Placeholder infobox-1Erst zu Hunderten, dann zu Tausenden versammelten sich in den zurückliegenden Wochen Wohnungskäufer vor den Hauptquartieren von Immobilienfirmen und verlangten, dass ihnen Recht zuteil werde. Verträge sollten auch in China gelten, da stehen Regierung und Justiz völlig hinter den Protestierenden. Inzwischen haben Zehntausende in mehr als 90 Städten dem öffentlichen Aufruhr Taten folgen lassen. Sie sind in Schuldner-Streiks getreten und weigern sich, Raten für ihre Hypotheken samt Zinsen weiter zu bezahlen.Mehr als 320 Bauprojekte laufen gegenwärtig Gefahr, durch solcherart Zahlungsboykott völlig aus dem Tritt zu geraten. Der Schuldner-Streik greift rasch um sich. Vereinzelt ist es zu Mahnwachen, selbst zu regelrechten Demonstrationen wütender Eigentümer gekommen, eine Seltenheit in China, die von den sozialen und öffentlichen Medien breit reflektiert wird. Die KP muss das beunruhigen. Denn die Leute, die da aufbegehren, sind treue Stützen des Staates, die der Botschaft vom bescheidenen Wohlstand für alle vertraut haben. Wenn diese Klientel ihre ökonomischen Interessen bedroht sieht, hört der Spaß auf. In China, wo mittlerweile über 60 Prozent der Bevölkerung in Städten leben, ist die Mittelklasse kein peripheres Phänomen. Mehr als 70 Prozent des Vermögens chinesischer Mittelklassefamilien besteht typischerweise nicht aus erspartem Geld, aus Bankeinlagen oder Wertpapieren, sondern aus Immobilien.Und seit mehr als zwölf Monaten sinken die Immobilienpreise in China, während die verfügbaren Einkommen nun schon seit fast eineinhalb Jahren nachgeben. Daher geraten auch Besserverdienende in Schwierigkeiten, vor allem dann, wenn sie ihre Immobilien weiterverkaufen wollen – eine in allen Ländern mit einem hohen Anteil an Hauseigentümern gängige Praxis –, um mit dem Erlös eine teurere Immobilie zu erwerben. Diese Art, den eigenen Besitzstand zu vermehren, wird für den Mittelstand gerade schwieriger, wenn nicht ganz unmöglich. Die Regierung will – zu Recht – den überhitzten Immobilienmarkt abkühlen und einer ausufernden Spekulation einen Riegel vorschieben. Sie hat sich konsequent geweigert, Platzhirschen wie Evergrande mit Rettungsschirmen beizuspringen. Die Devise scheint eher zu lauten, notfalls sollen einige der risikofreudigsten Unternehmen in Konkurs gehen, sie haben das selbst zu verantworten. Jedenfalls wäre es ein politisches Risiko, die Unterstützung der urbanen Mittelklasse zu verlieren. Andererseits soll im Sinne eines „gleichmäßigen Wohlstandes“ die soziale Ungleichheit im Land nicht zu groß werden. Nur hat bisher der Immobilienboom eine Vermögensungleichheit befördert, die man gern begrenzt hätte. Theoretisch könnte die jetzige Krise dies begünstigen.Kurzfristig will die Regierung umgerechnet 29 Milliarden Dollar an Sonderkrediten für unfertige Bauprojekte aufwenden, die möglichst bald ihren Eigentümern übergeben werden sollen. Außerdem hat die Zentralbank den Leitzins für Kredite mit einer Laufzeit von einem Jahr um fünf Basispunkte auf 3,65 Prozent gesenkt. Schuldverschreibungen für fünf Jahre sind zwischenzeitlich für eine Verzinsung von 4,30 Prozent zu haben. Das stimuliert die Nachfrage, die sich wegen der strengen Coronapolitik bislang nicht spürbar erholt hat, und kann Wohnungskäufer animieren, sich durch einen volatilen Markt nicht länger abschrecken zu lassen.Keine Frage, der Immobiliensektor ist in China wichtiger als in anderen Ländern. Ein gutes Drittel der jährlichen Wirtschaftsleistung wird mit dem Bau, Verkauf und Weiterverkauf von Immobilien und damit verbundenen Dienstleistungen erzielt. Gerät die gesamte Branche ins Schwimmen, hat das unmittelbare Folgen für die nationale Ökonomie, allerdings weniger für die Weltwirtschaft und so gut wie gar nicht für die internationalen Finanzmärkte, denn die Auslandsschulden der chinesischen Immobilienunternehmen sind nach wie vor äußerst gering. In der jetzigen Situation wird in Peking an die Einführung von zeitlich befristeten Moratorien gedacht, falls Bauprojekte ins Stocken geraten. Solange der Bau nicht weitergeht beziehungsweise der Ausbau von Wohnungen nicht fortgesetzt wird, könnten die Schuldner ihre Zahlungen aussetzen, ohne Geldeinbußen oder den Verlust ihrer Erwerbungen befürchten zu müssen.Dass der Boom mit einem großen Krach endet, ist ohnehin unwahrscheinlich. Es gibt keinen Grund zu akuter Panik, auch wenn ein Player wie Evergrande tatsächlich pleite gehen sollte. Parteichef Xi Jinping kann sich Massenproteste und SchuldnerStreiks zwei Monate vor dem XX. Parteitag Anfang November nicht leisten. Auf diesem Kongress will er von den 2.300 Delegierten für weitere fünf Jahre zum Generalsekretär gewählt werden. Zum Leitmotiv wurde erkoren: „Die Zeit und das Momentum sind auf unserer Seite“. Insofern dürfte viel, wenn nicht alles dafür getan werden, damit aus dem heißen Sommer kein heißer Herbst wird.