Offizieller Jubel am 20. August, egal ob in Athen oder in Brüssel, erschien mehr als verfrüht, wenn nicht deplatziert. Griechenlands Ökonomie ist ruiniert, die Schuldknechtschaft keineswegs beendet, der Euro noch lange nicht gerettet. Auch wenn es vorerst kein viertes Hilfsprogramm gibt, stehen Regierungen in Athen weiterhin unter verschärfter Kontrolle von Emissären aus EU-Kommission und Eurogruppe. Sie müssen brav ihre Reformagenda abarbeiten und sind verpflichtet, bis 2020 beim Haushalt jährlich einen Primärüberschuss von 3,5 Prozent zu erreichen, danach darf es etwas weniger sein: 2,2 Prozent für weitere 42 Jahre! Und obwohl das Land einen zehnjährigen Zahlungsaufschub erhielt – die Rückzahlung der Kredite aus den Hilfsprogrammen wird noch Jahrzehnte dauern. Bereits für Mitte September haben sich Inspektoren aus Brüssel wieder in Athen angesagt.
Von allen Krisenländern des Euroraums hat Griechenland die längste und schwerste Rezession durchlaufen und mehr als ein Viertel seiner Wirtschaftsleistung verloren. Der öffentliche Sektor wurde zum Torso, ein Großteil des öffentlichen Vermögens per Privatisierung vernichtet. Außerdem hat eine Mehrheit der Griechen nur dank des Familienkommunismus überlebt, der in Südeuropa seit jeher die Lücken des Sozialstaats kompensiert. Die offizielle Arbeitslosigkeit ist in jüngster Zeit gesunken, weil die prekäre Beschäftigung bei Niedriglöhnen zunahm. Mehr als 500.000 meist junge und gut ausgebildete Leute, hauptsächlich Akademiker und Facharbeiter, haben seit 2010 das Land verlassen, ein irreparabler Schaden.
Dabei verdankt sich der scheinbare Erfolg des Unternehmens Griechenland-Rettung einer simplen Gleichung: niedrigere, von Jahr zu Jahr sinkende Staatsaugaben, vorrangig beim Sozialetat, angehobene Steuern, vorrangig höhere Mehrwert- und Einkommensteuern, und höhere Staatsschulden, alles Indikatoren für die Langzeitfolgen eines bleiernen Jahrzehnts, auch wenn Zinszahlungen für die aus den drei Rettungspaketen in Anspruch genommenen gut 297 Milliarden Euro bis 2022 und die Tilgungen bis 2033 ausgesetzt sind.
Bisher ist Griechenland seinen Zahlungsverpflichtungen stets pünktlich nachgekommen und hat wie kein anderes Land der Eurozone seinen Haushalt gründlich saniert. Die fiskalischen Vorgaben der Troika wurden sogar übererfüllt. Und um es mit allem Nachdruck in Erinnerung zu rufen: Kein Cent deutscher Steuergelder floss nach Griechenland. Die Bundesregierung hat lediglich gebürgt und bürgt bis heute. Der deutsche Fiskus hat an dieser Schuldenkrise verdient, und das nicht zu knapp. Ohne die profitable Stützungsaktion, ohne die Rettung der deutschen Banken, die sich mit griechischen Anleihen verzockt hatten, ohne die expansive Geldpolitik der EZB, ohne die Politik der Niedrigst- und Nullzinsen gäbe es keine schwarze Null im Bundeshaushalt.
Kein Cent deutscher Steuern
In zwei Jahren würde Griechenland finanziell wieder auf eigenen Beinen stehen, hieß es 2010, als erste Hilfskredite flossen. Es hat sechseinhalb Jahre und zwei Hilfspakete länger gedauert. Eine Zeit, da Regierung und Parlament in Athen kein den Haushalt tangierendes Gesetz beschließen konnten ohne Plazet der Troika. Die Griechen durften wählen, wen und was sie wollten, die Troika entschied. Der Aufstand gegen die Spardiktatur vom Sommer 2015 (siehe Grafik) wurde ostentativ unterdrückt, um an der Regierung Tsipras, die das Austeritätsregime beenden wollte, ein Exempel zu statuieren. Die dadurch in der EU angerichteten politischen Flurschäden werden heute in deren Zustand offenbar. Auf dem Altar des Irrglaubens an eine allein hilfreiche Austerität ist zu viel von dem geopfert worden, was einst als europäische Idee galt.
Erneuerungsbedarf hatten die Griechen unbestritten, aber die Troika erzwang in der Regel die falschen Reformen mit Privatisierungen und Kürzungen ohne Ende, sodass die Kollateralschäden überwiegen. Die notwendigen Reformen in der Steuerverwaltung, beim Kataster und Zoll, in der Justiz und öffentlichen Verwaltung gegen Korruption und Misswirtschaft blieben im Ansatz stecken. Von Entlassung und Lohnschnitt bedrohten Steuer-, Zoll- und Justizbeamten kam die Motivation abhanden. Reformen brauchen in der Regel Zeit, Geld und Mentalität.
Mit Griechenland schlug keine Sternstunde der EU, geben selbst die Wortführer in Brüssel zu. Und sie haben recht, Vorgeschichte und Verlauf der Krise taugen eher als Mahnung. Es hätte nie dazu kommen dürfen, dass aus einer an sich überschaubaren Finanzkrise in einem Eurostaat eine existenzielle Gefahr für die gesamte Eurozone wurde, die nur mit brachialen Schritten eingedämmt werden konnte. Die demokratische Substanz im vereinten Europa nahm dabei allein deshalb Schaden, weil die nationalen Parlamente der Euroländer im Eiltempo den Beschlüssen der Troika ohne große Debatten zustimmen mussten, tatsächlich aber Diktate legitimierten.
Es grenzt fast ein Wunder, dass sich Alexis Tsipras und die von ihm geführte Regierung so lange halten konnten. De facto hat sie seit dem Sommer 2015 gegen den erklärten Willen des Volkes regiert, dem die Lasten des Austeritätsregimes abgenommen werden sollten. Dieser Vorsatz erwies sich als nicht erfüllbar, trotz aller Pirouetten des begabten Magiers Yanis Varoufakis. Premier Tsipras musste der Erpressung mit einem möglichen Grexit nachgeben, zudem drohte die EZB, griechischen Banken den Geldhahn abzudrehen.
Die Syriza-Regierung verfügte über keine halbwegs gangbare Alternative, sprich: keinen Plan B, um ein Vabanque-Spiel auf dem Rücken der Griechen zu vermeiden. Tsipras hatte auf das Versprechen der Troika vertraut, man werde in absehbarer Zeit über einen weiteren Schuldenschnitt verhandeln, nachdem ein erster Nachlass 2012 zu einer gewissen Erleichterung geführt hatte. Tsipras hoffte auf mehr und versprach seinen Landsleuten: Wir müssen durch ein Tal der Tränen, aber die europäischen Nachbarn werden schließlich helfen und uns das Gros der Schulden erlassen. Er konnte nicht wissen, dass die Troika unter der inspirierenden Führung von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble diese Zusage wieder und wieder brechen würde, zuletzt in diesem Sommer.
Wozu war es gut?
Der 20. August 2018 war insofern kein Tag der Freude. Er hätte ein Tag des Zorns sein müssen über die vielen verpassten Gelegenheiten, über die Arroganz, Inkompetenz und dogmatische Dummheit, die vor allem in Berlin und Brüssel noch immer herrschen. Die „Rettung“ Griechenlands wurde hochgespielt, weil sie als Rettung des Euro präsentiert wurde. Griechenland ist nicht gerettet, gerettet wurden etliche europäische Großbanken, die sich verkalkuliert hatten. Der Euro hingegen ist noch nicht gerettet. Das elende Lehrstück der griechischen Krise hat bislang nicht gereicht, um den Regierungsgewaltigen in Europa die Notwendigkeit einer Reform der Währungszone beizubringen.
Frankreich Präsident Macron hat zwar Reformen vorgeschlagen, die dringend geboten sind, um der europäischen Währungsunion das Handlungsvermögen zu erhalten – doch eines vergessen: die notwendigen Änderungen der Verträge, die es der EZB erlauben, wie eine richtige Zentralbank als „Kreditgeber der letzten Instanz“ zu agieren, und die es den Euroländern gestatten, einander beizustehen. Die „Nichtbeistandsklausel“ (Artikel 125, Absatz 1 des EU-Vertrags) muss fallen. Sollte die EU entgegen aller Erwartung noch die Kraft zur Reform aufbringen, wäre die Verelendung Griechenlands noch zu etwas gut gewesen. Ohne diese Reform bleibt nur ein Schandfleck, der sich nicht abwaschen lässt.
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